Es gibt Tierschutz, weil es eine Sorte von Menschen gibt, vor denen man Tiere schützen muss. Sie ist benennbar: diese Menschen heißen Tierquäler. Es gibt Gebäudeschutz, weil es Subjekte gibt, die Gebäude gefährden: Vandalen, Einbrecher, Terroristen. Es gibt Konsumentenschutz – aber wo bleibt das Wort für jene, vor denen man Konsumenten schützen muss? Warum spricht niemand von Konsumentenbetrügern, von Verkaufskriminellen, von Werbegaunern, wenigstens, wie einst Vance Packard, von „hidden persuaders“? Die Sensibilität gegenüber sprachlichen Phänomenen ist selektiv.
Die zahlreichen Nachbeterinnen der These von Senta Trömel-Plötz, wonach Frauen durch die Grammatik „unsichtbar“ gemacht würden, verfügen über einen begrenzten Horizont. Geblieben sind als Ergebnis ihrer nunmehr seit drei Jahrzehnten anhaltenden Bemühungen das Binnen-I und die Ersetzung von „man“ durch „frau“. Man mag darüber streiten, ob sprachliche Korrekturen die Wirklichkeit oder auch nur das Bewusstsein verändern, oder ob nicht vielmehr die Sprache eine gesellschaftliche, manchmal auch historisch überholte Realität abbildet, deren wünschenswerte Veränderung anderer als linguistischer Eingriffe bedarf. Mein uneingeschränkter Respekt gehört den Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern, die geprügelte Frauen vor ihren Männern schützen, auch Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die den immer noch nicht realisierten gleichen Lohn für gleiche Arbeit, also für Frauen wie für Männer (wenn auch leider nicht für die schwerere Arbeit von Putzfrauen oder Straßenbahnschaffnerinnen wie für die lustvollere Arbeit von Professoren und Professorinnen) fordern. Immerhin kann Sprachkritik Ideologie offenbaren. Dass es den Feministinnen freilich niemals um Sprachkritik als Ideologiekritik, um die Beseitigung von sich in ihr offenbarender Ungleichheit und Ungerechtigkeit ging, sondern nur um Vorteile, erkennt man daran, dass ihre Reformbestrebungen bei der Gleichsetzung von grammatischem und natürlichem Geschlecht, modifiziert durch die Unterscheidung von „Sex“ und „Gender“, Halt machten. Die Empörung hatte einen kurzen Atem. Vor dem Grundsätzlichen ließ intellektuelle Begrenztheit diese feministischen Revoluzzerinnen zurückschrecken. Es ist ja bezeichnend, dass just zu der Zeit, als die Geschlechterfrage die Klassenfrage aus der öffentlichen Diskussion verdrängte, als nur noch von Lehrstühlen für Frauen, nicht mehr hingegen vom Zugang von Arbeiterkindern zur höheren Bildung die Rede war, als sich Senta Trömel-Plötz beklagte, weil sie jemand für eine Sekretärin gehalten hatte, und sich Frauen an den Universitäten um ihrer Karriere willen mehr und mehr und im Wettbewerb mit ihren jüngeren männlichen Kollegen zu Advokatinnen der Wirtschaftsinteressen machten, die „feministische Linguistik“ den emanzipatorischen Ansatz einer kompensatorischen Erziehung, Basil Bernsteins Kampfansage gegen soziale Sprachbarrieren – also das Engagement eines Privilegierten nicht für eigene Interessen, sondern für die Benachteiligten – ersetzte.
Warum, wenn Sprachkritik ernst genommen werden soll, wird dem amerikanischen Präsidenten, dessen nachgewiesene, aber ungeahndete Lügen einen Krieg rechtfertigen sollten, der weit mehr als eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat, die Apposition vorenthalten, ohne die ein RAF-Mitglied, das einen Bruchteil dieser Morde zu verantworten hat, kaum je erwähnt wird: „Terrorist“? Die folgenden Sätze sind uns, Frauen wie Männern, vertraut: „Die Juden haben Christus ans Kreuz genagelt“ und „In den Jahren nach 1933 wurden die Juden verfolgt, vertrieben und ermordet“. Wie kommt es, dass uns die folgende Alternative fremd klingt: „Christus wurde ans Kreuz genagelt.“ „In den Jahren nach 1933 haben Christen die Juden verfolgt, vertrieben und ermordet“ oder, gerechter noch, „In den Jahren nach 1933 haben ChristInnen die Juden verfolgt, vertrieben und ermordet“. Eine kleine grammatische Korrektur, der Austausch von Aktiv und Passiv. Im Gegensatz zum Plural „Mörder“, der für jeden des Deutschen Mächtigen auch die Mörderinnen einschließt wie das englische Wort „murderer“ nicht nur die männlichen murderers meint, macht das Passiv die Täter tatsächlich „unsichtbar“ – und genau das ist mit der üblichen Formulierung auch beabsichtigt. An der Wirklichkeit würde die vorgeschlagene Korrektur nicht mehr ändern als das Binnen-I. Am Bewusstsein vielleicht. Aber wen juckt das?
Jürgen Gottschling