Das in den USA umjubelte Phantasy-Epos «Die Königsmörder-Chronik» des bislang unbekannten Patrick Rothfuss spiegelt Glanz und Elend des ältesten Genres der Welt.«Zum Henker damit!», fuhr Robert Louis Stevenson seinen Freunden dazwischen, als es in einer absinthgetränkten Diskussion im Quartier latin schon wieder um «das Wesen grosser Literatur» ging, machte sich gruss-los davon und begann die Niederschrift von «Treasure Island». Endlich in See stechen, eine Insel ansteuern, die keine Weltkarte verzeichnet, einen Schatz bergen, und sei’s nur auf dem Papier: Auch daraus erwächst grosse, ans Mythische grenzende Literatur. Ihr «Wesen» hat bislang keiner bestimmen können; Long John Silver aber kennt jedes auch noch so erwachsene Kind. Immer wenn der erblindete Jorge Luis Borges diese Initiationsgeschichte Stevensons erzählte, schickte er ihr eine Frage hinterher: «Was wäre, wenn Sie wie ich Ihre Sehkraft verlören – aus welchem Werk gegenwärtiger Anspruchsbelletristik würden Sie sich  täglich vorlesen lassen? Überlegen Sie rasch.»

Auf eine Antwort wartet Borges bis heute vergebens: Von Bücherherbst zu Bücherherbst fügt sich die Leserwelt mit pietistisch beben-dem Pflichtgefühl in ein sadomasochistisches Verhältnis, erduldet die Lektüre von Neuerscheinungen, die durch keinen waschechten Plot zu fesseln vermögen, dafür jedoch alles an «Sprachkunst» und «Zeitrelevanz» aufzubieten versprechen. Man langweilt sich – aber mit Stil. Hat man Glück, reisst ein Autor seinen notorischen Antihelden aus dessen Alltagstrott, indem er ihm anstelle einer gefrässigen Riesenspinne einen Laborbefund vor die Nase hält: Philip Roth etwa hat noch in beinah jeder seiner Figuren einen Tumor wachsen lassen, mit dem sie dann tapfer hadern – als dürftiger Ersatz für das barock weitläufige Abenteuer von einst. Seitdem Kafkas K. das Schloss nie von innen erblickt und Samuel Beckett das Scheitern zur Signatur der Zeit erklärt hat, heisst Lite-ratur uns durchhalten – Millionen Leser aber wollen einem Regenbogen nachlaufen und sich an seinem Ende dann im Blätterwald verirren, wollen die Hexen Macbeths ihre Formeln raunen hören, Odysseus aus der Gefangenschaft in einer Zyklopenhöhle entwischen sehen und die Schrift auf jenem eigensinnigen Ringding entziffern, das in Gandalfs Namen niemals in die Klauen des Bösen geraten darf. Jeder wunderbare Einfall macht sich heute der Weltflucht verdächtig. Doch bildet das Fantastische den Grundbestand der Literatur aller Kontinente und Zeiten: Sein Fehlen als Gewinn zu verbuchen, ist Verrat an ihrer Tradition.

Wo Lektüre und Pflicht einander wieder glückhaft ausschliessen, beginnt das Reich der Phantasy. So hat sich unser aller Heimweh nach Fantasieflug, Plot und dem Sieg über das Scheitern auf J. R. R. Tolkiens Schicksalsberg geflüchtet. «Komm endlich zur Sache», denkt man sich fingertrommelnd bei einem Roman, den eine Buchpreis-Jury mit «Das ist Kunst!» bestempelt. – «Und dann? Was geschah dann?», ist die Flüsterparole des adrenalingetriebenen Phantasy-Fans.

Schluss mit Tolkien-Nippes

Wenn es doch nur mehr davon gäbe, dachte sich noch in den 1990ern ein ewiger Student an der University of Wisconsin mit Namen Patrick Rothfuss. Heute boomt das Geschäft mit Tolkien-Nippes: Für Leser, denen das Erzähl-gebirge des «Herrn der Ringe» ähnlich unbezwingbar vorkommen will wie der «UIysses» von Joyce, gibt es den schamlos zusammen-geklauten «König der Orks», für Freunde waffenklirrender Kelten-Bombastik «Das Buch des Feuers», für Zauberer- und Fabelwesen-Gourmands «Magier der Drachenfregatte» und für eine esoterisch gestimmte weibliche Leserschaft, die immer schon wusste, dass Frauen auch im wirklichen Leben wahre Magierinnen sind, «Die Göttin des Sternentanzes». Diese Phantasy-Manufaktur hält sich durchweg an das Sprachniveau des Tagespresse-Horoskops und übt sich gedanklich in der heroischen Selbstbescheidung eines Metallica-Songs.

Unter all diesem trollschweren Kauf-mich-Getrödel hat keiner mehr gelitten als Rothfuss, der mit Tolkien aufwuchs wie andere mit Gameboys und Kabel-TV und einen Roman pro Tag verschlang. Vierzehn Jahre lang ging er in Gedanken an seine «Königsmörder-Chronik» wie ein Kobold in den Uni-Fluren von Wisconsin um, sieben davon verbrauchte die Grundfassung seiner Trilogie, von der nun der erste Band, «Der Name des Windes», in einer Übersetzung erscheint, die sich fast noch besser liest als das Original. Rothfuss geht darin aufs Ganze und schenkt dem Genre Selbstbewusstsein im doppelten Sinn: Phantasy macht, Rothfuss sei Dank, doch noch was her; und seine Figuren sind Hauptdarsteller und zugleich Zuschauer ihres eigenen Stücks. Phantasy goes postmodern. Von einem Rothfuss hatte bislang noch niemand gehört; mit der «Königsmörder-Chronik» wird sich das ändern.

Als ein simpler Gastwirt versteckt sich der berüchtigtste aller Hexer der Zivilisation in einem Kaff vor den Killern des Königs. Dem ist Kvothes Tod ein Vermögen wert. Doch nur ungern und schlecht erinnert sich Kvothe, wer er einmal war. Ein Chronist auf Durchreise zwingt ihn, in drei Tagen den Graben zwischen seiner wahren Identität und dem Mythos, den Kvothe zum Teil auch selbst über sich in Umlauf brachte, endlich zu schliessen. Monsterspinnen überfallen Bauern, ein dämonenbesessener Söldner das Gasthaus – all das hat Kvothe verschuldet, der dem Chronisten seine Geschichte nun am ersten Tag und im ersten Band in die Feder diktiert. «Ich habe geraubte Prinzessinnen aus den Händen schlafender Unholde befreit. Ich habe die Stadt Trebon niedergebrannt. Ich habe eine Nacht mit Felurian verbracht, und es hat mich weder das Leben noch den Verstand gekostet. Ich wurde von der Universität verwiesen, in jüngerem Alter, als die meisten Leute dort zugelassen werden. Ich wandle im Mondschein auf Pfaden, von denen andere auch bei Tage nicht zu reden wagen. Ich habe mit Göttern gesprochen, habe Frauen geliebt, habe Lieder geschrieben, bei denen selbst die Sänger in Tränen ausbrechen. Ihr habt womöglich schon von mir gehört.»

«Und ob!», will man da ausrufen: So imposant suggestiv und kokett setzt Kvothe ein – doch was folgt, ist die hier merklich arrogant unterdrückte, dort wieder salopp hingeworfene Zersetzung der ganzen Legenden-Grandeur: Kvothe ist weit weniger aragornscher Recke als der zwielichtige Held einer schäbigen Odyssee.

Dem Wind die Richtung befehlen

Frühreifer Sohn aus einer wandernden Schauspielertruppe, kriegt Kvothe durch einen Zauberer Wind von der grössten aller magischen Künste: den Wind befehligen zu können. Der käme wie gerufen, um die sieben alptraumbösen Chandrian zur Strecke zu bringen, die seine Eltern ermordet haben; so setzt Kvothe alles daran, den Namen des Windes zu erlernen. An der Universität legt er sich bis aufs Messer mit dem Adelssprössling Ambrose Jakis vom Typus Draco Malfoy an, wird Zeuge, wie ein drogenkranker Drache Trebon in Brand setzt, und hat sich mittlerweile in die Fuhrmannstochter Denna verliebt; dass Kvothe diese hart am Klischee entlangtänzelnde Vagantin nicht beschreiben kann, immer wieder aufs Neue ansetzen muss und dem Chronisten damit mehr als nur ein Kapitel verhunzt – das hat nicht nur, das ist Charme.

Die Grössten des Phantasy-Genres – R. Scott Bakker, Neil Gaiman, Stephen King, Tad Williams – versuchen nach eigenem Bekunden erst gar nicht, den «Herrn der Ringe» zu überbieten: Es würde dann doch nur in ihrem Nachruf stehen, es sei ihnen nicht beschieden gewesen, ein Tolkien zu sein. Der Patronatsschatten, den der – um denjenigen Joanne K. Rowlings verlängert – auf das gesamte Genre wirft, macht zugleich auch ihr Elend aus. Der «Herr der Ringe» ist gerade auch wegen seiner Dichte ein vollkommenes Buch: Dass Saurons Ring vernichtet werden muss, drängt den Plot von allen Flanken her voran und prägt jedem noch so flüchtigen Detail sein Brandzeichen auf: Selbst Tom Bombadil, der im Alten Wald einmal kurz an den Hobbits vorbeihopst, hat das Zeug zur Hauptfigur. Doch ebendiese Konzentration geht Rothfuss ab. Kvothe ist noch sieben Jahre später jeder Alltagskrimskrams erinnerlich, und er erzählt ihn komatös gedankenverloren dahin. Ohne diese 300 sprachblassen Ich-ging-hierhin-ich-ging-dorthin-Seiten wäre «Der Name des Windes» jenes Meisterwerk geworden, das er seinem gewaltigen Bauplan nach im Grunde doch ist. Auch für all die helle Melancholie und Selbstironie, die Rothfuss dem Genre gönnt, nickt ihm Tolkien vom Jenseits her gütig und aufmunternd zu. got

Patrick Rothfuss: Der Name des Windes. Die Königsmörder-Chronik: Erster Tag. Deutsch von Jochen Schwarzer. Klett-Cotta/Hobbit- Presse. 861 S.,

Okt. 2008 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau | Kommentieren