Seit fast einem Jahrzehnt herrscht Krise auf den internationalen Finanzmärkten. Die Hypothekenkrise im Jahr 2008 löste eine unheilvolle Kettenreaktion aus; heute ist in der Folge das Projekt Europa existenziell gefährdet. Gelernt haben aus den Krisen nur die Falschen, diagnostiziert der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski in seinem Buch »Untote leben länger«. Wie sonst ließe sich erklären, dass der Neoliberalismus auch heute die ökonomischen Entscheidungen lenkt und Markt und Politik seinen Stempel aufdrückt. Leben Untote länger?
Um dem Rätsel des unhinterfragbaren neoliberalen Mantras in den Wirtschaftswissenschaften, der Finanzwelt und der Politik auf die Spur zu kommen, hat sich Philip Mirowski für »Untote leben länger« auf Erkundungstour begeben. Er beleuchtet systematisch die Theorien, Organisationsformen und einflussreichen Netzwerke einer Sphäre, deren Drahtzieher für viele unsichtbar bleiben.
Die Recherche wird zum Detektivtrip, denn schnell tritt die Merkwürdigkeit zutage, dass der Neoliberalismus zwar allgemein durchgesetzt zu sein scheint, dass sich aber niemand selbst als Neoliberaler etikettieren will. Um Licht ins Dunkel zu bringen, rekonstruiert Mirowski in einem fulminanten Stück Intellectual History den Siegeszug des »Neoliberalen Denkkolletivs«, das in der von Friedrich Hayek und Milton Friedman vorangetriebenen Gründung der Mont Pèlerin Society 1947 in der Schweiz seinen Ursprung nahm. Mirowski analysiert Konzepte und Arbeitspapiere, verfolgt die strategische Gründung von Think-Tanks und zeigt, wie gesellschaftliche und politische Meinungsführer systematisch angesprochen, beeinflusst und kooptiert wurden. Am Ende dieser Praxis steht nicht nur die heutige ideologische Hegemonie, sondern auch jene fatale »Drehtür«, mittels der das neoliberale Führungspersonal zwischen den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Elite-Unis, der Wallstreet und der US-Regierung zirkuliert.
Philip Mirowski legt schlüssig dar, dass sich jeder, der sich heute einen kritischen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen bewahren will, mit der Wirtschaft und ihren Wissenschaften beschäftigen muss. Zumal die Unsichtbarkeit des allgegenwärtigen Systems noch weitere Rätsel aufgibt. Bei genauerer Analyse des Neoliberalismus wird nicht nur offenbar, wie wandelbar diese eigentlich so fest gefügte Lehre auftritt, Mirowski enthüllt auch, wie es den Neoliberalen gelingt, ihr Handeln mithilfe einer Strategie der »doppelten Wahrheit« zu rechtfertigen, die gerade ihre linken Kritiker aufs Glatteis führt: Das Dogma des freien Spiels der Marktkräfte und das tatsächliche Handeln zum Machterhalt stehen im krassen Gegensatz zueinander.
Die linke Gewissheit, dass der Neoliberalismus mehr Markt und weniger Staat fordert, muss nach Mirowskis Erkenntnissen revidiert werden. Auch gelingt es den Neoliberalen, ihre Ideologie in ursprünglich linke oder alternative Politikfelder einzuführen, seien dies Ökologie (Emissionshandel), Entwicklungspolitik (Mikrokredite), Sozialpolitik (Bildungsgutscheine) oder politische Bewegungen »von unten« (Tea Party).
So führt uns Mirowskis detektivische Erkundung geradewegs in unser eigenes alltägliches Leben. Die aktuelle Geschichte des Neoliberalismus ist die Geschichte der Kolonialisierung all unserer Lebenssphären durch das absolutierte Menschenbild des Homo oeconomicus, das jedem die komplette Verantwortung für sein Schicksal unterschiebt. Nicht nur, dass die Wirtschaft es versteht, die Menschen beim arglosen Internetsurfen oder auch beim moralisch bewussten Konsum für sich arbeiten zu lassen, es hat sich als kulturelles Begleitrauschen auch ein »Theater der unverfrorenen Grausamkeit etabliert, in dem wir das missglückte Leben anderer begaffen wie einen Crash beim Autorennen … Unscheinbare Leute, die verzweifelt etwas Anerkennung suchen und sich nach einer Flucht aus der faden Normalität sehnen, opfern sich vor einem Millionenpublikum auf dem Altar restloser Entwürdigung, wo ihnen schmierige Prominente die Leviten lesen … In Spielshows wurden die Armen belohnt; im heutigen Reality TV werden sie zertrampelt.«
Mirowskis grandioser Durchgang durch Geschichte und Wirkungsbereiche des Neoliberalismus erklärt nicht nur den Erfolg vordergründig grotesker Figuren und Bewegungen wie Donald Trump und der Tea Party, er erklärt auch den siegreichen Umgang der Neoliberalen mit einer Krise, die ihre Legitimität eigentlich bis ins Mark erschüttern müsste. Nicht zuletzt liefert »Untote leben länger« eine streitbare Untermauerung der Sentenz »Wissen ist Macht«. Eine wichtige Lektüre, um sich klar zu werden, welche Ideologie Macht über unser Leben hat.
Philip Mirowski:
Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist
352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Aus dem amerikanischen Englisch von Felix Kurz
ISBN: 978-3-95757-087-1
Preis: 29,90 € / 36,80 CHF
Matthes & Seitz Berlin