Wenn in der beschaulichen Fachwerkstadt Wertheim auf dem Gelände einer ehemaligen Polizeiakademie eine Halle brennt, in der 400 Flüchtlinge unterkommen sollen, dann könnte man meinen, die Tat sei rasch aufzuklären. Es gibt Kriminalbeamte, es gibt eine Spurensicherung, und in Wertheim (auf einer Landzunge zwischen den Flüssen Tauber und Main) leben nur 22 000 Menschen. Aber so leicht ist das nicht. Die Tat geschah am 20. September. Bis heute stehen die Ermittler vor einem Rätsel.
Die baden-württembergische Kripo begann sofort mit der Arbeit, sie bildete die Ermittlungsgruppe »Halle« und stockte das Team einen Tag später von 10 auf 18 Beamte auf, denn der Verdacht einer Brandstiftung war aufgekeimt. An einer Hallentür hatte man Spuren gefunden, die auf Einbruch schließen ließen. Und Zeugen berichteten, sie hätten eine dunkel gekleidete Person gesehen, die im Auto davongefahren sei. Doch nun, fast drei Monate später, ist noch immer kein Täter gefasst.
Wie kann das sein?
Deutschland im Spätherbst 2015: Vor wenigen Monaten noch wurden Flüchtlinge mit Schokolade willkommen geheißen, heute müssen sie sich vor Angriffen der Ausländerfeinde in Sicherheit bringen. Hier fliegen Pflastersteine gegen Asyl-Unterkünfte, dort Molotowcocktails. Flüchtlingswohnungen werden in Brand gesteckt oder unter Wasser gesetzt. Woche für Woche, Tag für Tag. Allein dem glücklichen Zufall ist es zu danken, dass bislang noch niemand dabei zu Tode kam. Anfang der 1990er Jahre war das anders, da kamen neun Menschen ausländischer Herkunft bei Bränden um, die von Rechtsextremisten gelegt worden waren.
Doch auch heute, 25 Jahre später, sind Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte keine Einzelfälle, sondern fast ein Massenphänomen. 505 Straftatbestände gegen Flüchtlingsunterkünfte, von einfacher Sachbeschädigung bis zu versuchtem Mord, hat das Bundeskriminalamt in einem internen Lagebericht von Januar bis Anfang Oktober 2015 gezählt. Ende November waren es nach Auskunft des Bundesinnenministeriums bereits 747 Fälle. Hinter diesem Skandal verbirgt sich allerdings ein weiterer: Kaum ein Täter wurde bislang verhaftet, geschweige denn verurteilt.
Wie kläglich die Mehrzahl der Ermittlungen endet, zeigt eine aktuelle Untersuchung von ZEIT und ZEIT ONLINE. Ausgewertet wurden die bundesweiten Daten von Angriffen, die Flüchtlingsunterkünfte beschädigen oder zerstören wollten und/oder die darin lebenden Menschen verletzen oder töten. Rassistische Schmierereien an den Hauswänden wurden nicht mitgezählt, ebenso wenig fremdenfeindliche Hetze vor Asylbewerberheimen. Um in der Statistik erfasst zu werden, mussten mindestens Steine geflogen sein. Alle Bundesländer haben der ZEIT die meisten ihrer Ermittlungsergebnisse zur Verfügung gestellt.
Das Fazit: Zwischen dem 1. Januar und 30. November dieses Jahres wurden mindestens 222 Gewalttaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte verübt, darunter 93 Brandanschläge, 93 Sachbeschädigungen, 8 Wasserschäden (die rechtlich zwar auch Sachbeschädigungen sind, aber in dieser Statistik gesondert auftauchen, weil so eine Unterkunft schnell unbewohnbar gemacht werden kann), 28 tätliche Angriffe. 119 der insgesamt 222 Anschläge richteten sich gegen bewohnte, 85 gegen unbewohnte Unterkünfte, in den übrigen 18 Fällen konnte trotz Nachfrage nicht geklärt werden, ob in den Gebäuden zum Zeitpunkt des Angriffs bereits jemand lebte. Kein Bundesland blieb von Überfällen verschont, am schwersten betroffen ist Sachsen, sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Einwohnerzahl.
An starken Worten mangelt es nicht. Der sozialdemokratische Bundesjustizminister Heiko Maas spricht vom »Angriff auf unsere Demokratie«. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, CDU, warnt: »Jedem, der so handelt, treten wir mit der gesamten Härte des Rechtsstaats entgegen.«
Passiert ist fast nichts. Drakonische Konsequenzen blieben aus. Nur in 53 der 222 erfassten Gewalttaten, also in weniger als einem Viertel, konnten Polizei und Justiz bislang einen oder mehrere Verdächtige ermitteln. Nur in zwölf Fällen wurde Anklage erhoben, nur viermal bislang ein Urteil gesprochen. Dagegen stellte die Justiz bereits 24 Verfahren wegen Mangel an Beweisen ein. Besonders fatal: Auch der Verfolgung der besonders gefährlichen Brandanschläge ist kein Erfolg beschieden. 40 dieser Überfälle – und damit fast die Hälfte der 93 Brandanschläge – richteten sich gegen bewohnte, 50 gegen unbewohnte Unterkünfte. Die restlichen drei Fälle sind ungeklärt. Bislang wurde nur in drei Fällen Anklage erhoben, nur einmal kam es zu einer Verurteilung.
Warum tappen Polizei und Staatsanwaltschaft so oft im Dunkeln? Man stelle sich vor, welch gewaltigen Fahndungsapparat der Staat in Gang setzte, wie viele zusätzliche Polizisten mobilisiert, wie viel Geld in die Hand genommen würde, gälten all die Molotowcocktails nicht Flüchtlingsheimen, sondern den Filialen der Deutschen Bank. Mangelt es wegen der Zielgruppe am Fahndungseifer der Ermittler? Fehlt es am Willen? Sind die Strafverfolger auf einem Auge blind? Dem rechten?
Der Generalstaatsanwalt von Brandenburg weist diesen Verdacht von sich. Seit den verheerenden Anschlägen der neunziger Jahre, sagt er, habe sich vieles verbessert. Kaum einer kann das glaubwürdiger bezeugen als der 63-jährige Erardo Rautenberg, der seit 1996 oberster Strafverfolger seines Bundeslandes ist. Nur wenige Monate im Amt, überrollte eine Welle fremdenfeindlicher Gewalt Brandenburg. Rautenberg sprach damals als Erster vom »gravierenden Problem« der Fremdenfeindlichkeit und von einer Jugendkultur, die zum Rechtsextremismus neige.
In einem Zeitungsinterview forderte er als Gegenmaßnahme »eine breite Front, die vom stramm Konservativen bis zum linksautonomen Spektrum reicht«, und zog damit wütenden Protest auf sich. Dem Generalstaatsanwalt wurde vorgehalten, leichtfertig die »Faschismuskeule« zu schwingen. Doch Rautenberg blieb auf Kurs. Als einer der ersten Generalstaatsanwälte erhob er die Verfolgung rassistischer Straftaten zur »Priorität«. Polizei und Justiz richteten Sonderdezernate ein, die Dienstwege wurden verkürzt – und damit die Ermittlungszeiten.
Rautenbergs Eifer führte zu sichtbaren Resultaten, die Zahl rassistisch motivierter Gewalttaten halbierte sich zwischen 1998 und 2005 nahezu. Kritiker leisteten Abbitte. Und trotzdem steht heute Erardo Rautenberg vor demselben Problem wie seine Kollegen in anderen Bundesländern: Die Zahl der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte ist dramatisch gestiegen, aber kaum ein Verdächtiger wird erwischt. Warum bloß?
In Sachsen ist das Bild besonders düster. Nirgendwo sonst legen Ausländerfeinde so oft Feuer. Auf seinem Handy erkennt zum Beispiel Leipzigs Polizeipräsident, Bernd Merbitz, was sich in Sachsen inzwischen täglich abspielt: Im Ort Dippoldiswalde fackeln Unbekannte 20 Container ab, in die Flüchtlinge ziehen sollen. In Freital explodiert eine Sprengladung vor dem Schlafzimmerfenster eines 26-jährigen Syrers, Glasscherben zerschneiden ihm die Stirn. Zwei Fälle, von denen es später heißt, Sachsens Operatives Abwehrzentrum (OAZ) habe die Ermittlungen übernommen. Bernd Merbitz ist Chef dieser landesweiten OAZ-Sondereinheit mit mehr als 100 Mitarbeitern, die politisch motivierte Gewalttaten aufklären soll.
Der 59-jährige Merbitz, ein bulliger Typ mit Bürstenhaarschnitt, taugt nicht zum Prototyp des Karrierebeamten. Knorrig und impulsiv kommt er daher. Seit 25 Jahren ist er Sachsens oberster Vorkämpfer gegen Rechtsaußen. Merbitz’ Abwehrzentrum kann sich zwar mit einer Aufklärungsquote von über 70 Prozent brüsten, aber bei Ermittlungen wegen Anschlägen auf Asylbewerberheime sinkt diese Quote auf 30 Prozent. Daran ändert auch die spektakuläre Festnahme dreier Männer nichts. Sie sollen am frühen Morgen des 7. Oktober Molotowcocktails auf eine als Asylunterkunft umfunktionierte Schule in Dresden geworfen haben.
Warum also haben die Strafverfolger kaum Erfolg?
»Branddelikte sind sehr schwierig aufzuklären«, sagt der Kriminologe Thomas Feltes von der Universität Bochum, »da müssen Sie mit dem ganz großen Besteck rangehen.« Polizeichef Merbitz spricht vom »großen kriminalistischen Puzzle«, das sich nur mit erheblichem Personal, Technik und kriminalistischem Spürsinn meistern lasse. Brandenburgs General Rautenberg zählt auf, was die Arbeit so kompliziert macht: Die Tat geschieht meist in der Nacht. Es melden sich kaum Zeugen. Es gibt keine direkte Beziehung zwischen dem Täter und seinen Opfern, sie kennen einander nicht. Der Hass, der Grund für die Attacke, ist nicht persönlich. Sie gilt nicht dem Individuum, sondern seiner Beschaffenheit. Flüchtlinge scheuen sich oft auszusagen, die meisten stammen aus Ländern, in denen man der Polizei nicht trauen kann.
Und dann gibt es noch etwas, das die Ermittlungen behindert und worüber nur wenige Fachleute offen sprechen mögen: Es gibt nicht genügend Brandsachverständige, die sofort zum Tatort eilen könnten. Bernd Merbitz, Chef der Sondertruppe, verfügt im Leipziger Präsidium gerade über sechs sogenannte Brandursachenermittler. Oft vergeht wertvolle Zeit, bis feststeht, ob die Täter einen Brandbeschleuniger benutzten oder bloß ein technischer Defekt schuld war.
Im Übrigen werden die Flüchtlingsheime nicht ausreichend geschützt: Es mangelt an Wachpersonal, Beleuchtung und Videokameras. Auf dem Gelände der Polizeischule Wertheim zum Beispiel gab es keine Videoüberwachung, deshalb existiert keine Aufzeichnung jener dunkel gekleideten Person, die – wie Zeugen später behaupten – womöglich die Turnhalle angezündet hat.
Vor allem aber: Es fehlt an Polizisten. Nur wenige Bundesländer haben die Zahl ihrer Polizisten nach dem Vorbild von Bayern oder Baden-Württemberg aufgestockt. In den meisten westlichen Bundesländern blieb die Zahl der Beamten über die letzten Jahre gleich, in den östlichen Bundesländern wurde sogar oft drastisch gekürzt. In Sachsen fielen in den vergangenen Jahren 1500 Stellen weg, 2005 waren im Haushaltsplan noch 12 300 Stellen vorgesehen, in diesem Jahr nur 10 800. »Der Personalabbau rächt sich bitter«, sagt Polizeichef Merbitz. »Wir arbeiten längst am Limit und sind immer wieder gezwungen, zu entscheiden, welcher Fall Vorrang hat.« Brandenburg hatte im Jahr 2000 noch 10 300 Leute im Polizeidienst, heute nicht einmal mehr 8000. Ein Mitarbeiter der brandenburgischen Sonderkommission Rechtsextremismus klagt hinter vorgehaltener Hand: »Wenn die Rechten wüssten, wie schlecht wir aufgestellt sind, würden die uns noch mehr auf der Nase herumtanzen.«
Hinzu kommt, und das ist ein besonderes Problem, die meisten fremdenfeindlichen Kriminellen waren zuvor unauffällig, nicht als Rechtsextremisten bekannt. Sie stammen aus der Nachbarschaft, dem Ort. Wird doch ein Täter ermittelt, findet sich oft weder in den Akten der Polizei noch in denen des Verfassungsschutzes der leiseste Hinweis.
So war es auch bei Dirk D. aus dem Ort Altena im Sauerland. Vor wenigen Wochen wäre kein Nachbar auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet er bereit sein würde, den Dachboden eines von syrischen Flüchtlingen bewohnten Hauses anzuzünden. Der 25-jährige D. war Berufsfeuerwehrmann, Beamter auf Probe, zugleich auch engagiert bei der freiwilligen Feuerwehr, genau wie sein Vater und seine Geschwister.
Dirk D. passt nicht in das Bild, das sich viele vom brutalen Ausländerfeind machen. Der Sohn eines Waldarbeiters nahm am Leben in der Kleinstadt regen Anteil. Er hatte eine feste Arbeitsstelle, interessierte sich für Autos, trieb oft Sport. Keine Sicherheitsbehörde hat solch harmlos wirkende Verbrecher aus der bürgerlichen Mitte im Visier. Auch der Verfassungsschutz nicht. Dabei gehen nach einem Bericht der BKA mindestens 70 Prozent der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte aufs Konto solcher Täter. Das ist anders als in den 1990ern, da kamen die Brandstifter aus der radikalen Ecke. »Heute haben wir es mit Tätern aus der ganzen Breite der Bevölkerung und der massiven Hetzbewegung auf der Straße zu tun«, sagt Polizeimann Merbitz, »das ist ein Zahn schärfer.«
Dirk D. wurde nur gefasst, weil sein Komplize gegenüber der Polizei auspackte. Ein außerordentlich seltener Fall. D. ist geständig und zeigt Reue. Er sagt, er habe die Tat aus »persönlicher Verärgerung« begangen. Aus »Angst« vor den Fremden, die in sein Wohnviertel gezogen waren. Die Staatsanwaltschaft im westfälischen Hagen gab nach der Festnahme bekannt, Dirk D. sei in der rechten Szene weder vernetzt noch organisiert. Eine »politische Motivation« sei nicht zu erkennen. Den Anschlag bewertete sie als schwere Brandstiftung, nicht als versuchten Mord. Denn hätte D. töten wollen, dann hätte er mit dem Wissen eines Feuerwehrmannes den Brand professioneller, effektiver gelegt. Und weil D. dingfest gemacht war, keine Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr bestand, kam der Beschuldigte – so will es das Gesetz – nicht in U-Haft, sondern darf seinen Prozess zu Hause abwarten. Juristisch ist das in Ordnung – moralisch ist es eine Zumutung, mindestens für die Flüchtlinge im Nachbarhaus. Und auch, was die Generalprävention angeht. Wer wird sich nach diesem Exempel noch abgeschreckt fühlen?
Auf eine entscheidende Frage gibt der Fall Dirk D. aber keine Antwort. Wie bekommt man das Dilemma der Strafverfolger in den Griff? Wie kann es gelingen, der Täter habhaft zu werden?
Natürlich müssen mehr Polizisten her und auch, wie bereits beschlossen, mehr Verfassungsschützer. Sie müssen herausfinden, in welchem Umfang organisierte Rechtsextremisten die Proteste gegen Flüchtlingsheime steuern. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, weist darauf hin, »dass sich gerade bei Demonstrationen gegen Asylbewerberunterkünfte die Protestmilieus mischen: aufgebrachte Einwohner, Leute, die zum kriminellen Milieu zählen, subkulturelle Rechtsextremisten und Rechtsextremisten, die legalen Organisationen angehören«. Die Hetzparolen legaler Parteien wie der NPD senke bei Demonstranten mit der Zeit die Hemmschwelle. »Wenn verbal zur Gewalt aufgerufen wird und zur angeblichen Notwehr gegen Flüchtlinge«, so Maaßen, »dann wird auch der Weg vom Wort zur Tat kürzer.«
Aber nur nach mehr Polizei zu rufen reicht nicht. Natürlich fehlten Ordnungskräfte, sagt Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung, die zur fremdenfeindlichen Gewalt forscht. »Aber man darf nicht die Augen vor blinden Flecken verschließen.« Manchmal mangele es am politischen Willen und dem der Polizei, energisch gegen Fremdenfeinde durchzugreifen. Warum, fragt Lüdecke, konnte im sächsischen Heidenau ein Mob zwei Tage lang ungehindert vor einer Asylbewerberunterkunft randalieren? Warum sah die Polizei anderswo in einem Willkommensfest für Flüchtlinge plötzlich eine Provokation für Asylgegner? Maximilian Pichl, Jurist bei Pro Asyl, beklagt, rassistische Motive der Brandstifter würden oft »verniedlicht« und zu »persönlichen Ängsten« erklärt. Er erinnert an einen Fall in Hannover, bei dem ein Polizist der Bundespolizei selbst einen Flüchtling misshandelt habe. Die Vorgesetzten hätten dies gewusst, aber nicht angezeigt. »Da gibt es manchmal ein Schweigekartell.«
Es genügt auch nicht, 16 Bundesländer 16 unterschiedliche Konzepte der Ermittlungsarbeit ausprobieren zu lassen. Nötig ist tatsächlich eine bundesweite Kraftanstrengung, ein »breites politisches Bündnis von rechts bis links«, wie es Brandenburgs Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg fordert. Ein nationaler Krisengipfel muss her, einberufen vom Bundesinnenminister – verbunden mit einem politischen Signal, das niemand überhören kann, einem Signal, das die Länder zwingt, all ihre Versäumnisse nachzuholen.