reichelt_haider_bröcker_fiedler_rüttenauer-630x353-1Die Boulevardtitel Bild sowie B.Z. und das „Spiegel TV Magazin“ haben beim Angebot der Kronen-Zeitung zugegriffen und das umstrittene Leichen-Foto aus dem Kühllaster in Österreich gekauft und veröffentlicht. Bei MEEDIA erklärt Bild-Online-Chef Julian Reichelt, weshalb sich die Redaktion für einen unverpixelten Abdruck entschieden hat. Fünf weitere Chefredakteure nennen Gründe, weshalb sie das Foto nicht gekauft haben. viele andere Chefredakteure hätten anders als Julian Reichelt und Kollegen entschieden.

 

julian-reichelt_textMEEDIA:Wie wurde die Veröffentlichung des Fotos in Ihrer Redaktion diskutiert?
Julian Reichelt: “Wir haben das Foto nicht sofort Online gebracht, sondern erst nach einem Tag der Diskussion zeitgleich in der gedruckten Zeitung und Online veröffentlicht. Wir haben uns in der Chefredaktion die Meinung aller Leiter unserer Außenredaktionen eingeholt. Das Meinungsbild war absolut einheitlich und hat uns in unserer Einschätzung bestärkt: Solche Fotos zu veröffentlichen, die die menschliche Dimension politischer Entscheidungen dokumentieren, ist eine der Kernaufgaben von Journalismus.”
Finden Sie die (unverpixelte) Veröffentlichung dieses Fotos vertretbar oder nicht?  
“Wir halten die Veröffentlichung nicht nur für vertretbar, sondern für zwingend. Das Foto zeigt das erschütternde Ergebnis jahrelanger politischer Untätigkeit. Es ist unstrittig, dass wir den syrischen Kriegsflüchtlingen helfen müssen, und doch müssen sie sich in die Hände von Schleppern begeben, um sich zu uns zu flüchten, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Dieses historische politische Versagen wird durch das Foto dokumentiert. Der Skandal ist nicht die Veröffentlichung des Fotos, der Skandal ist, dass Flüchtlinge auf dem reichsten Kontinent der Erde so elendig sterben.”
Welche Gründe haben Sie für Ihre Entscheidung? 
“Es gibt historische Momente, in denen nur dramatische Bilder die Kraft haben, den Handlungsdruck auf Politik und Gesellschaft zu erhöhen. Das vor einem Napalmangriff flüchtende Mädchen in Vietnam war so ein Foto. Viele Medien würden heute davor zurück schrecken, es zu veröffentlichen: das Kind ist minderjährig, nackt, in einer grauenvoll entwürdigenden Situation, hilflos, die Eltern konnten der Veröffentlichung logischerweise nicht zustimmen – und dennoch war es richtig, das Foto zu zeigen. Es hat den Blick auf eine fatale Politik geprägt und dazu beigetragen, den Vietnamkrieg zu beenden, auch wenn es noch lange gedauert hat. Genauso wichtig ist das Foto der erstickten Flüchtlinge. Es dokumentiert untragbare Zustände so schonungslos, dass sich dem niemand mehr entziehen kann. Es wird dazu beitragen, die Flüchtlingspolitik in Europa hoffentlich zum Besseren zu wenden.”

 

Im Gegensatz zu Julian Reichelt, wollten sich Redaktionsverantwortliche von “Spiegel TV” sowie dem Spiegel Verlag, unter dessen Dach die Sendung produziert wird, nicht erklären. MEEDIA hat am Montagmorgen bei zahlreichen Chefredakteuren weiterer Medien angefragt, um zu erfahren, wie die Foto-Diskussion in ihren Redaktionen geführt worden ist, und ob sie eine Veröffentlichung des Fotos für vertretbar halten oder nicht.

 

Lars Haider, Chefredakteur Hamburger Abendblatt:haider_text
“Wir fanden die Veröffentlichung aus verschiedenen Gründen unangemessen. Die Geschichte war in ihrer Grausamkeit so eindeutig, dass es keines ‘Beweisfotos’ bedurfte. Das wirkt dann nur noch voyeuristisch. Dazu kommen Aspekte wie Schutz der Opfer und die Menschenwürde. Die Veröffentlichung ist aus Abendblatt-Sicht weder nötig noch vertretbar.”

 

bröcker_textMichael Bröcker, Chefredakteur Rheinischen Post:
“Natürlich kann man das Foto veröffentlichen. Aus rechtlicher Sicht ist das vertretbar. Aber für uns geht es in der Abwägung um eine zurückhaltende ethisch-moralische Linie bei der Fotoauswahl. Wir wollen die Opfer und ihre Angehörige möglichst schützen. Wir wollen den Eindruck vermeiden, dass wir uns am Leid der Opfer und der Angehörigen ergötzen. Keine Toten, kein Blut.”

 

Carsten Fiedler, Chefredakteur Express:fiedler_text
“Der Express hat das von Ihnen erwähnte Foto bewusst nicht abgedruckt. Es handelt sich beim gesamten Aspekt Flüchtlinge um eine sehr sensible Thematik. Wir sehen uns in der Pflicht, groß und aufklärend mit viel Hintergrund zu berichten. Bei diesen Fotos handelt sich um die explizite Zurschaustellung von menschlichem Leid. Das ist beim Express grundsätzlich nicht gewollt.”

rütteneauer_textAndreas Rüttenauer, Chefredakteur taz:
“Bei der Berichterstattung über die in dem LKW zu Tode gekommenen Flüchtlinge stand ein Bild, das die Toten zeigt bei der taz nicht zur Diskussion. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, einzig den LKW abzubilden und damit eine emotionale Ansprache an die LeserInnen gewählt, die wir für eindeutig genug hielten. Das Bild allein hatte für uns einen kommentierenden Charakter.

Die Entscheidung, durch das Zeigen der Toten, an die Gefühle der LeserInnen zu appellieren, ist durchaus nachvollziebar. Ein grundsätzliches moralisches Urteil darüber abzugeben, ist äußerst schwierig. Auch wir haben bereits Bilder von toten Flüchtlingen gezeigt, die in Plastiksäcke verpackt in einer Kühlkammer aufeinandergestapelt worden waren. Natürlich haben wir über die Würde der Toten diskutiert. Die war ihnen indes längst genommen – und genau das wollte wir abbilden.”

lorenz_maroldt_textLorenz Maroldt, Chefredakteur Tagesspiegel:
“In Berlin war das Foto nicht nur in der Bild-Zeitung, sondern auch auf der Titelseite der B.Z. zu sehen, weshalb wir es intensiv in der Redaktion diskutiert haben. Uns war klar, dass wir das Foto nicht abdrucken würden. Bei Fotos, die man als voyeuristisch bezeichnen könnte, ist klar, dass wir uns zurückhalten. Wir sind eine Familien-Zeitung und verzichten bewusst auf Bilder, die Dinge auf drastische Weise beleuchten. Wenn Leichen in Ausnahmefällen abgebildet werden, dann nur verpixelt. Ein Grund für eine Veröffentlichung wäre, den Menschen die Augen öffnen zu wollen. In diesem Fall reicht alleine die Vorstellung, dass 71 Menschen auf engstem Raum qualvoll erstickt sind. Das Foto ist eine Zurschaustellung von Leichen. Das ist kein Ausnahmefall.

Letztlich finde ich die Veröffentlichung aber vertretbar. Man kann Gründe finden. Die B.Z beispielsweise hat sich an die so genannten “besorgten Bürger” gewandt, um zu zeigen, was sie anrichten würden. Diese Zuspitzung war zwar gewagt, da die Opfer nicht von Rassisten, sondern von Schleppern eingesperrt worden sind. Aber sie ist vertretbar. Die B.Z. setzt auf Emotionen und wendet sich auch in ihrer Zielgruppe an die “Besorgten”. Die Veröffentlichungen dieses Fotos werden sicher ein Fall für den Presserat, der meines Erachtens aber keine Rüge aussprechen muss.”

Lesen Sie hier, welche Meinung vier Medienethik-Experten zum Abdruck des Leichenfotos haben.

Sep. 2015 | Allgemein, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren