Man trägt ja nicht mehr liberal in Deutschland. Man ist neosozialistisch, neonational, neokatholisch. Die Tatsache, dass es diese Begriffe nicht gibt, zeigt, von wem und in welcher Absicht „Neodarwinismus“ und „Neoliberalismus“ verwendet werden. Von den reaktionärsten Kreisen der Gesellschaft nämlich, um die Tradition der Aufklärung (sapere aude) zu diffamieren.
Christoph Schönborn ist nicht nur Kardinal von Wien, sondern auch Mitglied im exklusiven Schülerkreis Joseph Ratzingers. Kurz nach Ratzingers Wahl zum Papst griff Schönborn den so genannten „Neodarwinismus“ an.

Der sei unvereinbar mit dem katholischen Glauben. Zwar habe der vorige Papst erklärt, die Evolution sei mehr als eine Hypothese. Das heiße aber keineswegs, dass die Kirche das „neodarwinistische Dogma“ akzeptiere. „Evolution im Sinne einer gemeinsamen Herkunft, mag richtig sein“, so der Kardinal wörtlich, „aber Evolution im neodarwinistischen Sinn eines ungelenkten und ungeplanten Prozesses von Variation und natürlicher Selektion ist es nicht.“

Was der Vertraute Benedikts als „Neodarwinismus“ bezeichnet – also ein „ungelenkter und ungeplanter Prozess von Variation und natürlicher Selektion“ – ist nichts weiter als Charles Darwins Theorie der Evolution der Arten. Jene Theorie also, die Johannes Paul II. anderthalb Jahrhunderte nach der Erstveröffentlichung von „The Origin of Species“ endlich anerkannt hatte.

Mögen Katholiken damit fertig werden, dass sich ihre Kirche wieder einmal von der Wissenschaft abwendet. Was uns hier interessiert, ist der Gebrauch der Vorsilbe „Neo“. Der Kardinal sagt nicht, was er wirklich meint, nämlich: der polnische Papst hatte Unrecht, unter dem deutschen Papst wird der Darwinismus wieder auf den Index gesetzt. Er polemisiert vielmehr gegen den „Neodarwinismus“. Die Vorsilbe „Neo“ verschleiert aber nicht nur die Absichten des Kardinals. Sie erfüllt die Funktion einer doppelten Herabsetzung. Einerseits impliziert sie, hier handele es sich nicht um das Original, nicht um die Markenware sozusagen; andererseits deutet sie an, hier werde etwas Altmodisches und Abgelegtes wieder hervorgeholt, obwohl alle wirklich hippen Leute längst andere Marken und Modelle tragen.

Genau diese Funktion erfüllt die Vorsilbe „Neo“ auch in der Verbindung mit dem guten alten Begriff „Liberalismus“. Seit 250 Jahren treten Liberale für den freien Handel ein, weil sie ihn für den besten Weg halten, den „Wohlstand der Nationen“ zu mehren. Und seit Adam Smith 1776 sein Buch „The Wealth of Nations“ veröffentlichte, hat alle empirische Erfahrung seine Thesen genau so glänzend bestätigt wie die Theorie Darwins – der übrigens von Smith stark beeinflusst war. Aber indem das Eintreten für freie Märkte als „Neoliberalismus“ bezeichnet wird, erscheinen die Liberalen nicht nur als irgendwie anrüchig, wie etwa die Neofaschisten (auch so ein Begriff übrigens, der nur verwirren soll, denn was sind Neofaschisten anders als Faschisten?), sondern als zugleich unoriginell und überholt.

Man trägt ja nicht mehr liberal in Deutschland. Man ist neosozialistisch, neonational, neokatholisch. Die Tatsache, dass es diese Begriffe nicht gibt, zeigt ja, von wem und in welcher Absicht „Neodarwinismus“ und „Neoliberalismus“ verwendet werden. Von den reaktionärsten Kreisen der Gesellschaft nämlich, um die Tradition der Aufklärung zu diffamieren.

Und was ist schließlich mit dem Begriff „neokonservativ“? Der ist noch absurder als die Begriffe neodarwinistisch und neoliberal. Denn die von ihren Gegnern so genannten „Neocons“ sind gar keine Konservativen. Es handelt sich durchweg um ehemalige Linke, die – wie vor Jahrzehnten die großen ehemals linken Antikommunisten Arthur Koestler, Karl Popper oder Richard Löwenthal – zur Einsicht gelangt sind, dass Marktwirtschaft und Demokratie den Armen und Unterdrückten mehr helfen als Staatswirtschaft und Diktatur, und dass die offene Gesellschaft im Kampf gegen ihre totalitären Gegner wehrhaft sein muss. Lebten sie in Amerika, würde man den Ex-Straßenkämpfer Joschka Fischer, den Ex-Marxisten Gerhard Schröder und die Ex-FDJlerin Angela Merkel möglicherweise als Neokonservative bezeichnen.

Oder vielmehr: Das würde man eben nicht. Denn weil viele dieser gewendeten amerikanischen Linken jüdischer Herkunft sind, ist der Begriff „Neocon“ zum Codewort für „Jude“ geworden – und „Jude“ zum Codewort für „Israel-Lobbyist“, und „Israel-Lobbyist“ zum Codewort für „Kriegstreiber“. So schreibt Lorenz Jäger in der Zeitschrift „Internationale Politik“, die Neocons seien „die eigentliche Kriegspartei in der politischen Klasse“ der USA. Der deutsche Konservative zitiert zustimmend einen obskuren amerikanischen Autor, der hier, so wörtlich, „eine Mikroverschwörung“ wittert und „den Neokonservativismus als jüdisches Familienunternehmen schildert“. Ist das nun Neo-Antisemitismus oder einfach nur Antisemitismus ohne lästige Vorsilbe? got

Mai 2008 | Allgemein | 1 Kommentar