Wir leben unter den Konditionen der Moderne in einer säkularen Welt. Was wir wissen, nährt sich aus der Skepsis von kritischen Fragen, und wo wir handeln, regiert das Gesetz der Kontingenz, die Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit.
Vieles – und immer mehr – ist möglich; aber ebenso gilt, dass auch manches ganz anders sein könnte – nur mal eben zum Beispiel Michelangelos „Erschaffung des Menschen“ in der Sixtinischen Kapelle.
Begriff und Erfahrung der Wirklichkeit lehren uns einerseits Zuversicht: ein gewisses Vertrauen in die Berechenbarkeit der Verhältnisse.

Anderseits erwartet uns häufig das Risiko, das sich in schlimmen Fällen zum Debakel hin wendet. Damit müssen wir uns abfinden, denn wir Menschen sind zwar erfinderische Wesen, doch zugleich haben wir die Endlichkeit unserer Absichten und Pläne zu begreifen. Für die Politik – wo gegenläufige Interessen zu verhandeln sind, trifft dies zu. In den Bereichen der Wissenschaft ist es kaum anders.
Hinzu kommt ein fundamentales Ärgernis. Es berührt und umspielt das Faktum unseres sterblichen Daseins. Obwohl wir gerne so tun und fühlen, als seien wir gleichsam ewig unterwegs – übrigens nicht nur ein tröstlicher Gedanke –, überfällt uns bei Gelegenheit das Wissen um den Tod. Und wenn wir länger darüber meditieren, setzen weitere quälende Nachtgesichte ein. Wäre dieses Leben sinnvoll gewesen? Hätte es sich nach Leistung und Ethos denn bewährt? Dürfte es vor uns selbst und vor anderen bestanden haben? Oder müssten wir eher froh gewesen sein, wenn wir niemals geboren worden wären? Die alten Fragen, seit der Antike aufgeworfen und variiert, sind auch die neuen.

Eine Ordnung mit Jenseits

Aus dem Fresko, „Die Erschaffung Adams‘ von Michelangelo

Von befreiender Qualität ist wider solche Frustrationen die Vorstellung, dass es ein Jenseits gibt und einen Gott, der über seine Schöpfung wacht. Religion hat viele Aufgaben zu erfüllen – insbesondere im Alltag zwischenmenschlicher Bedürfnisse –, doch ihr stärkstes Argument zieht sie aus dem Versprechen, dass ein Leben hienieden nicht schon das Ganze gewesen sein soll. Nicht die nackte Existenz mit den Widrigkeiten der Hinfälligkeit macht den Menschen; dieser ist vielmehr aufgehoben in einer grösseren Ordnung und deshalb auch entlastet von der Angst, die aus der puren Materie spricht. Das meint das Wort von der Rückbindung; indem wir eine Ligatur voraussetzen, sind wir über uns selbst hinausgelangt.

Der nächste Schritt aus religiös gestimmtem Bewusstsein führt nun wieder in die Welt hinein. Wenn es zutrifft, dass höhere Mächte das Schicksal im Dasein begleiten, dann sollen die irdischen Verhältnisse ihrerseits danach ausgerichtet werden. Alle monotheistischen Religionen – das Judentum, die Christenheit, der Islam – strebten danach, den Geist von Lehre und Gesetz mit den Wirklichkeiten des Diesseits zu verbinden; mehr noch: die Gestaltung des Lebens daran auszurichten. Sogar – und bald prominent – das Politische geriet so in den Bann einer Dogmatik, die keine Freiräume mehr zu dulden gedachte, woraus auch folgte, dass Freund und Feind nach den Massgaben des Glaubens unterschieden wurden.

Wenn die Moderne zurückblickt auf ihre Geschichte, erkennt sie indessen einen Prozess, den sie als Vorgang der Verweltlichung des Daseins beschreibt. Nach langen Jahrhunderten der Kriege und Kämpfe um die Auslegung des göttlichen Worts, nach erbitterten Fehden zwischen Königen und Päpsten wie zwischen Katholiken und Protestanten setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass die Welt nicht ungeschieden als eine Einheit im Glauben hinzunehmen sein soll. Sie ist, anders, eine Vielheit von Welten, wo für das Wissen dessen eigene Regeln gelten und für die Politik ebenfalls deren spezifische Bedingungen zu verhandeln sind. Aufklärung ist nicht nur die Befreiung des Denkens aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie es Kant formulierte. Sie erfasst – darüber hinaus – auch elementare Bestimmungen der Lebensführung im Sinn von autonomer Verantwortung.

Seither – insbesondere seit der Nachgeschichte der totalitären Ideologien, die im 20. Jahrhundert nochmals die Realität des Politischen mit einer Dogmatik vom richtigen Leben überhöhten – sind wir geneigt, das Pensum der Aufklärung als abgeschlossen zu betrachten. Es bedurfte, so geht verbreitete Meinung, just der Gewalttaten von heissen und kalten Kriegen, dass heute Einsicht herrscht in die Irreversibilität freiheitlich-selbstkritischer Lebens- und Denkungsart.

Ende der Glaubensgeschichte?

Trifft diese Diagnose aber zu? Dürfen wir tatsächlich davon ausgehen, dass damit der Gang der Geschichte substanziell getroffen ist? Dass sich der moderne Mensch von allen Bedürfnissen nach Sinngebung durch Religion nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft und zuletzt für die Politik endgültig verabschiedet hat? Solche Zuversicht – manche würden einwenden: Glaubensschwäche – setzte freilich einiges voraus; nämlich die Einsicht in die «Logik» historischer Prozesse, wo Gegenläufiges nicht mehr denkbar wäre, sowie ein Wissen um die conditio humana, die mindestens für den «westlichen» Typus nun und fürderhin festgeschrieben würde. Mit Nietzsche: Gott ist tot, worauf die «letzten» Menschen blinzeln.

11. September 2011 – die zweite Maschine im Anflug …

Es fügt sich in die aktuellen Diskussionen um weltliche und geistliche Macht – und zumal vor dem Hintergrund der Ereignisse, die seit dem 11. September 2001 den Globus erschüttern –, dass ein Buch erschienen ist, dessen Thema ausdrücklich das Verhältnis von Religion und Politik untersucht. Der Autor ist Mark Lilla, Professor für Philosophie und Ideengeschichte an der New Yorker Columbia University. Der Titel – «The Stillborn God» – ist erklärungsbedürftig. Darüber später mehr. Der Untertitel ist es nicht: «Religion, Politics, and the Modern West». Obwohl der Islam mitsamt seinen islamistischen Verschärfungen wie ein Menetekel aus dem Hintergrund leuchtet, will Lilla viel weniger darüber reflektieren; sein Hauptinteresse gilt der Geschichte abendländischer Denk- und Verhaltensmuster im Gleichklang und im Widerstreit von politischen und religiösen Anliegen.

Die Summe daraus ist – zumindest für liberal gesinnte Geister – beunruhigend genug. In drei Teilen ruft uns Lilla in Erinnerung, wie kontrovers jene historischen Prozesse verliefen, in denen sich – erst seit dem 17. Jahrhundert – die Einsicht Bahn brach, dass es zum Wohl eines Gemeinwesens besser ist, wenn die beiden Gewalten von Kirche und Krone geschieden werden. Eine prekäre Einsicht: Denn was die Geschichte als Vorgang von Modernisierung in Denken und Handeln erbrachte, reibt sich, wenn man so will, an einer anthropologischen Konstante. Diese liesse sich dadurch definieren, dass wir Menschen – unabhängig von mancherlei Fortschritt – als endliche Wesen glaubensbedürftig sind.

Christliche Lehre liess von Anfang an im Unklaren, welche Rolle der Botschaft des Heils zuzudenken sei. Dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt sein könne, lässt sich den Evangelien deutlich entnehmen. Aber schon der Apostel Paulus politisierte die Botschaft von der Erlösung, und bald schuf die römische Kirche Verbindlichkeiten, die bei Bedarf auch mit dem Schwert erzwungen werden sollten. Während sowohl das Judentum wie der Islam die Lebensführung der Gläubigen unter den Gesetzen regulierten, gab es für das Christentum diverse Spielräume der Auslegung, wie mit dem wahren Glauben umzugehen sei. Was sich zunächst und von den Fundamenten her als Toleranz anzubieten schien, verschob sich freilich schnell – und darauf über Jahrhunderte – zur Seite blutiger Schismen, Ächtungen, Kriege und Dispute um den richtigen Weg.

Ein Riss im Weltgefüge

Eine Wende brachte erst das 17. Jahrhundert. Einerseits erreichten die neuen Wissenschaften eine Revision der biblisch redigierten Kosmologie. Die eine Welt sprengte sich auf in eine Vielzahl von Welten unterschiedlicher Geltungsbereiche, und als sinnstiftende Macht trat an ihre Stelle die Geschichte. Anderseits wagten es Philosophen, Fragen zu stellen und Diagnosen zu formulieren, die nun plötzlich gefährlich quer lagen zu allem, was die Kirchen sowohl für das Heil der Menschen wie für deren politische Beziehungen untereinander vorgeschrieben hatten. Kein Denker ging dabei so weit wie Thomas Hobbes, dessen Schrift «Leviathan» von 1651 wie ein Meteor aus der Eiseskälte eines materialistisch getragenen Firmaments in die Landschaft des Glaubens und seiner ewigen Händel einschlug.

Lilla versteht Hobbes aus angelsächsischer Perspektive und Rezeption. Statt den Weisen von Malmesbury zu dämonisieren und als Vorläufer totalitärer Staatsphantasien abzutun, erkennt er in ihm die Gründerfigur liberal-individueller Freiheitskonzepte. Hobbes selbst verstand sich zunächst als Anthropologe. Wie kommt es, so fragte er, dass Menschen sich ein Höheres konstruieren? Was leitet und verleitet uns, den Schutzschirm des Religiösen zu suchen? Die Antwort fiel ernüchternd aus: zum einen aus Furcht, zum andern aus Ignoranz. Bis in physiologische Beschreibungen körperlicher Verfassung – des Auges, des Gangs, des Appetits – trieb Hobbes seine Analyse, die nur dies zu erweisen hatte: Im status naturalis und dort auch gegenüber ihresgleichen sind die Menschen gezeichnet von ihrer Hinfälligkeit, von Ängsten und Nöten und von der Ignoranz.

Daraus ergab sich alles Weitere. Ein Gott musste ersonnen werden, der den Sterblichen beistand; kein Gott seiner auf sich selbst gerichteten Gleichgültigkeit gegenüber der Schöpfung, sondern ein energischer und eingreifender Vatergott mit den Insignien von Belohnung und Strafe. Damit verwandelte sich die Ursprungsfurcht der conditio humana in die Furcht vor dem Allmächtigen. Und weil dessen Lehre ihrer Vermittlung auf Erden bedurfte, traten Priester und Schamanen auf, die in seinem Namen auch politisch Herrschaft betrieben. Die Folgen manifestierten sich in Fehden und Religionskriegen, die Europa verwüsteten und die Bürger ihrer Länder nicht nur um das Seelenheil, sondern schlimmer noch um ihre leibliche Sicherheit zittern liessen.

Hobbes‘ «Leviathan» war bekanntlich die rigorose Antwort darauf. Das mythische Seeungeheuer repräsentierte dem Philosophen jetzt einen Staat, dessen Souveränität absolut sein sollte. Der Souverän selbst belohnte den Gehorsam seiner Bürger mit deren Freiheit, zu glauben, was sie privatim für richtig hielten, derweil die Krone keinerlei kirchliche Macht mehr zuliess. Die alten Kategorien wie Wahrheit, Offenbarung und Gesetz verwandelten sich dabei in blosse Erscheinungen religiöser Denkweisen, ohne dass sie politisch noch wirksam zu werden vermochten. Schliesslich entliess die «great separation» die diversen Zuwendungen zur Welt in ihre je eigene Legitimität: Für die Natur waren allein die Wissenschaften zuständig, die mundanen Pflichten waren für Staat und Gesellschaft zu leisten, die Bibel lag unterm Kopfkissen.

Lehre vom sterblichen Gott

Leviathan bekundete sich insofern als sterblicher Gott – als ein Konstrukt für eine Wirklichkeit, in der ursprünglich jeder dem anderen ein Wolf gewesen war, jetzt indessen den Schutz der Autorität genoss. Während sich Hobbes‘ Liberalismus noch ex negativo konturierte, dachten ihn seine Schüler und Nachfolger bereits weiter in die Richtung positiver Rechte. Spinoza und Locke, Hume und Montesquieu, die Autoren der Federalist Papers und Tocqueville arbeiteten daran, der Trennung von Kirche und Staat, der Verfassung begrenzter Herrschaft sowie der Toleranz in Dingen der Religion sowohl Anerkennung wie Durchsetzung zu verschaffen.

Dies alles ist westlicher Selbstversicherung im Rückblick auf die Geschichte bestens vertraut. Zur Leistung der Modernisierung zählt, dass sich die eschatologischen Dispute dabei abschwächen. – Mark Lilla ist sich dessen durchaus bewusst. Die Pointe seines Buchs liegt freilich darin, dass es die Probleme und Folgelasten der Säkularisierung weiterdenkt. Denn obgleich sich die Welt als Schauplatz des Irdischen allmählich entgöttert, bleiben Leerstellen und Lücken: Bedürfnisse nach Sinn und Transzendenz, die den moralischen Menschen und dessen Gewissen umtreiben. So ist kein Ende der Geschichte als Heilsgeschichte erreicht, wenn später Rousseau und Kant, Hegel und Schelling versuchen, den Begriff des Politischen um die Dimension des offenbarten Guten zu ergänzen. Bei Rousseau führt die philosophische Bewegung nach innen – in die Gewissenserforschung wider weltliche und kirchliche Dekadenz. Bei Hegel zielt sie auf eine Gesamtdeutung der Historie unterm Auge des Weltgeists und in der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft.

Da meldet sich ein Ungenügen und Unbehagen an dem, was Hobbes so forsch beseitigt haben wollte: an der Auflösung des Nexus zwischen irdischen und himmlischen Sphären. Und wenn zwar die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts – mit einer Anspielung auf Heine – nur mehr die Wiederkehr eines totgeborenen Gottes bemüht, so bleibt die Forderung der Menschen nach einer Geborgenheit über ihr reines Dasein hinaus durchaus ansteckend.

Trennung von Staat und Kirche in der Zeit der Reformation

Der Verdacht, dass eine aufgeklärt kritische Moderne den menschlichen Haushalt der Affekte unbefriedigt zurücklasse, ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Indessen glauben wir – nach stürmischen Jahrhunderten – zu wissen, wie gefährlich das Leben hienieden da wird, wo Religion im Politischen sich kundtun will. Die Trennung der einen vom anderen für Staat und Gesellschaft ist allerdings essentiell – solange wir den Begriff der Freiheit öffentlich machen. Nirgends aber steht geschrieben, dass dies für ewig sich bewähren wird; woraus folgt, dass Entscheidungen nötig sind. Vor der Folie aktueller Geschehnisse und einer Rückkehr politischer Theologie fundamentalistischer Erhitzung verdiente das Plädoyer der Vernunft besonderes Gehör: keiner göttlichen Offenbarung bedarf das Gemeinwesen, damit es – bei einigen Mängeln und mancherlei Schwächen – seine Aufgaben erfüllt. Denn diese lassen sich nicht delegieren …

Feb. 2024 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, Kirche & Bodenpersonal, Zeitgeschehen | Kommentieren