Pascal Bruckner, der streitlustige Philosoph und Schriftsteller aus Paris, sorgte bereits letztes Jahr für einigen Furor: In der internationalen Debatte über den Umgang mit dem Islam in Europa attackierte er Timothy Garton Ash und Ian Buruma für deren beschwichtigenden Multikulturalismus. Die beiden hatten der mutigen Dissidentin des Islam, Ayaan Hirsi Aly, vorgeworfen, eine «Fundamentalistin der Aufklärung» zu sein. In seinem neuen Buch beleuchtet Bruckner die Herkunftsgeschichte eines Multikulturalismus, der die westlichen Werte und Errungenschaften in beunruhigender Weise relativiere. Er konstatiert einen «Schuldkomplex» der Europäer, die aufgrund ihrer blutigen Geschichte geneigt seien, die westliche Zivilisation als Quelle aller Übel dieser Welt anzusehen.

«Rassismus der Antirassisten»

In der Verherrlichung des Fremden, Ursprünglichen, nicht von der Moderne und dem Kapitalismus Glattgeschliffenen manifestiert sich bis heute das schlechte Gewissen angesichts der europäischen Kolonialgeschichte. Doch zugleich waltet ein Paternalismus, der in den sogenannten unterentwickelten Völkern nur die Opfer sieht. Mit dieser Projektion kettet der gutgemeinte Multikulturalismus aber gerade Frauen, Männer und Kinder an Lebensformen und Traditionen, von denen diese sich oft befreien wollen. Diese kulturelle und ethnische Identitätspolitik reproduziert erneut die Unterschiedlichkeiten, obwohl sie vorgeblich die Gleichheit befördern möchte. Und damit konserviert sie im Namen des Antirassismus just jene Vorurteile, die man mit Rasse und Volkszugehörigkeit verbindet. Bruckner nennt dies den «Rassismus der Antirassisten». Nicht das Individuum zählt, sondern das ethnische oder religiöse Kollektiv, das Gruppenrechte einfordert und von der Mehrheitsgesellschaft gewährt bekommt.

Die westliche Zivilisation ist heute aber doppelt herausgefordert: In den Parallelgesellschaften der Migrantenmilieus überwintern mitten in Europa archaisch-patriarchalische Lebensweisen, die mit den Errungenschaften der westlichen Aufklärung und Moderne kollidieren. Und gleichzeitig wütet vonseiten des politischen Islam ein militanter Hass auf die sogenannte Dekadenz des Westens. Doch anstatt selbstbewusst seine mühsam errungenen Freiheiten zu verteidigen, reagiert Europa – noch immer – in Büßermanier.

Das Paradoxe in der Geschichte Europas liegt jedoch gerade in der Verbindung von Fortschritt und Grausamkeit. Wie der Phönix aus der Asche erhob sich aus der mittelalterlichen Ordnung die Renaissance, aus dem Schoß des Feudalismus wurde unter Schmerzen die Demokratie geboren. Als Reaktion auf die blutige Unterdrückung durch die Kirche siegte unter schweren und leidvollen Kämpfen die Aufklärung. Und die Religionskriege ebneten à la longue die Wege für die Idee des säkularen Staats. Die europäische Kolonialpolitik und ihre Eroberungen in Übersee provozierten antikoloniale Bewegungen. Den kommunistischen, nationalsozialistischen und faschistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts folgten antitotalitäre Bewegungen. – Die Geschichte Europas hat ein grausames und ein fortschrittliches Gesicht; Europa bescherte der Welt den Despotismus und zugleich die Freiheit und die Menschenrechte.

Bussfertigkeit verhindert Verantwortung

Seit 1945 wird der Kontinent von regelrechten Reuequalen heimgesucht. Seine Geschichte scheint eine einzige Abfolge von Greueltaten zu sein, die in die beiden Weltkriege und den Holocaust mündeten. 1945 und nochmals 1989 ist Europa diesem Abgrund entkommen. Der Parole «Nie wieder Krieg» folgend, will es sich allerdings aus den unfriedlichen Angelegenheiten der restlichen Welt heraushalten und überlässt das Eingreifen (weitgehend) den ungeliebten Amerikanern. Die Alte Welt fühlt sich wohler im Schuldbewusstsein als in der Übernahme von Verantwortung. Denn die europäische Bussfertigkeit schafft Menschen, die sich für alte Vergehen entschuldigen, um sich die gegenwärtigen Verbrechen vom Leibe zu halten.

Bruckner fragt sich deshalb zu Recht, ob die dunklen Seiten unserer Vergangenheit heute wichtiger für uns sind als die Lehren, die wir aus ihnen gezogen haben. Was versprechen wir uns von der gebetsmühlenhaften Beschwörung der Massaker, die unsere Bemühungen, der Knechtschaft und Ungleichheit zu entkommen, derartig in den Schatten stellen?

«Bei der Beschäftigung mit unserem Erbe», resümiert Bruckner, «sollten wir uns eher für unsere Triumphe begeistern, als unsere Trauerfälle zu beklagen, denn der Triumph ist ja nichts anderes als der Trauerfall plus dessen Überwindung, die erduldeten und bezwungenen Leiden, die kollektive Anstrengung, dem Unglück die Stirn zu bieten. Europa darf nicht so wenig von sich halten. Es soll die Freiheit als sein köstlichstes Gut begreifen.»

Pascal Bruckner plädiert in seinem aufrüttelnden Essay für ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Wertschätzung unserer westlichen Freiheitstraditionen – beides haben wir dringend nötig!

Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa. Aus dem Französischen von Michael Bayer. Pantheon, München 2008. 255 Seiten

Apr. 2008 | Allgemein | Kommentieren