Es fängt schon mit dem Untertitel an: „Mein ’68“. Und es geht so weiter, bis zum Epilog auf Seite 362: „Meinen Kindern sage ich …“. Was die Häufigkeit des Gebrauchs des Wortes „Ich“ in allen Variationen betrifft, steht Peter Schneiders Buch schon mal sicher auf Platz 1 der gar nicht so kleinen 68er-Erinnerungs-Literaturliste.
Schneider setzt sich damit einem doppelten Verdacht aus: Besitzt er die Unverschämtheit, von der Epoche interpretatorisch Besitz ergreifen zu wollen? Oder gibt er, unter Rückgriff auf die individualistische, psychologisierende Fraktion der Nach-68er, den Bescheidenen, der sich auf Selbsterlebtes und Selbsterinnertes beschränkt, ohne Anspruch auf historiografische Allgemeingültigkeit?
Klare Antwort: beides. Peter Schneider ist bescheiden und unverschämt zugleich. Er ist geschichtsklug genug, den unerfüllbaren Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu dementieren, indem er „nur“ von sich erzählt, von sich in der doppelten Identität des jungen Kämpfers und des 40 Jahre älter gewordenen Autors.
Schneider ist aber auch Schriftsteller genug, um beim Dementi ganz unverschämt mit den Augen zu zwinkern. Natürlich weiß er (und darum: will er), dass sein Geschichten-Buch auch als Geschichts-Buch gelesen wird.
Doch genau dieses Spiel mit den Widersprüchen zwischen subjektivem Erleben und objektivem Geschehen macht Schneiders Buch zum vielleicht glaubwürdigsten unter all den Deutungsversuchen zu 68.
Genau genommen begegnet uns Schneider nicht nur als „erzählter“ junger Kämpfer und „erzählender“ Autor. Er taucht zusätzlich in Tagebuch-Auszügen von damals auf: als eine mit sich – und vor allem seiner gescheiterten Beziehung zur geliebten „L.“ – bis zum Überdruss hadernde Person. Als jemand, der das Infragestellen nicht nur der Verhältnisse, sondern der eigenen Person bis ins Exzessive, fast Selbstzerstörerische treibt. Als eine für einen 28-Jährigen, der gerade Geschichte zu machen glaubt, seltsam unreife Person. Die Tagebuch-Auszüge, schreibt er, „machen mich ungeduldig, ja sie sind mir, wenn ein solches Urteil bei unzweifelhafter Identität der Verfasser möglich ist, manchmal sogar widerwärtig“.
Aber sie retten das Buch. Sie ermöglichen, ja erzwingen die ironische Distanz, mit der Schneider arbeitet und die ihn vor der Gefahr schützt, im Kampf zwischen Verteidigern und Delegitimierern der Revolte, die sich nur in ihrer jeweiligen Selbstüberhebung gleichen, nun seinerseits den Thesenhammer auszupacken. Weil er sich selbst in der Geschichte sieht, sich selbst als großmäuliger Kämpfer und kleinmütiges Würmchen zugleich, entgeht er sowohl der Idealisierung als auch der pauschalen Verurteilung.
Die Scham über die totalitären Züge der Bewegung spürt man auch bei Peter Schneider. Doch weil er dem eigenen Befreiungsdrang von damals die Sympathie so wenig verweigert wie seinem besseren Wissen von heute, kann er zu einem differenzierten Urteil kommen. Bei einigen 68ern hat sich ja offenbar das schlechte Gewissen über die teils unmenschlichen Verhaltensweisen in eine (Selbst-)Demontage geflüchtet, die den Überzeugungen von damals zwar diametral widerspricht, ihnen in Härte und Totalität aber kaum nachsteht – siehe Götz Alys Konstrukt einer Linie zwischen den „33ern“ und den 68ern. In diese Falle ist Peter Schneider nicht gelaufen.
So befreit aus den Gräben der Veteranenkämpfe, lässt er sein lakonisches Erzähltalent spielen. Er nimmt uns auf einer langen Strecke mit: von der Kindheit in Freiburg über Berlin und Italien, wo er den schwer verletzten Rudi Dutschke wieder traf – bis in die Tage, als der wilde, oft wahnhafte Aufbruch mit Gewalt implodierte. Mit der Gewalt, die sich einige Genossen selbst antaten, weil sie den Rückweg ins „normale“ Leben nicht fanden. Mit der Gewalt des Terrorismus, in den sich auch die lange geliebte „L.“ verstrickt.
Man spürt Peter Schneider am Ende die mal staunende, mal stolze Erleichterung an, zu jenen zu gehören, die einen anderen Weg fanden. Und vielleicht ist mit „Staunen“ das Verhältnis des Autors zum Geschehen und seiner Rolle am besten beschrieben. Ein Staunen, das das Wahnhafte erkennt und sich gerade deshalb auch Sympathie für die Motive der 68er erlauben kann.
An einer Stelle fasst Peter Schneider diese Sichtweise explizit zusammen: „Man kann der Gesellschaft und uns nur dazu gratulieren, dass wir nie eine reale Chance hatten, die Macht zu ergreifen. Zum Glück haben die neuen Lebens- und Kommunikationsformen, die die Bewegung sozusagen nebenbei und hinter dem Rücken ihrer Ideologen hervorbrachte, eine unendlich folgenreichere Ansteckungskraft bewiesen als die bombastischen Programme ihrer Wortführer. Aus dem Zusammenstoß einer importierten, personell mit dem Nazireich tief verstrickten und nur formal existierenden Demokratie mit einer radikalen, am Ende ins Totalitäre überschwappenden Protestbewegung ist die bei weitem lebendigste zivile Gesellschaft in der Geschichte Deutschlands entstanden.“
Wer „Rebellion und Wahn“ ganz gelesen hat, wäre auf diese Sätze eigentlich gar nicht angewiesen. Das Schöne an diesem Buch ist, dass die Erzählung selbst der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lässt. Man lehnt sich entspannt zurück und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen über den Kampf um die Interpretationshoheit, den weniger souveräne Zeitzeugen (wobei wir uns nicht ausnehmen) bis heute führen. got
Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein ’68. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 368 Seiten, 19,95 Euro.