Kurt Beck ist der personifizierte Kleinbürger, der seine Abneigung gegen links überwindet und dabei alles falsch macht. Deshalb wird er (noch) gebraucht.

Am 15. August 2007. Documenta. Kassel. Auf dem Stuhl vor einem Kunstwerk sitzt ein übergewichtiger Mann mit geröteten Augen. Kurt Beck, SPD-Vorsitzender und rheinlandpfälzischer Ministerpräsident absolviert einen der rituellen Politikerrundgänge auf der größten Kunstausstellung der Welt. Doch Territorium Artis, das Land des Vieldeutigen, der rätselhaften Formen und metaphorischen Versprechen – das ist nicht seine Welt. Und man sieht es. Der Mann aus der Pfalz wirkt auf dem Olymp der Kunst wie ein Dorfschullehrer aus der Provinz, der seine Angst vor der Achterbahn überwinden muss.

In einer Mischung aus Ingrimm und Staunen steht er neben Kurator Roger Buergel. Das Unbegriffene ist ihm quasi ins Gesicht geschrieben. Er nutzt jede Gelegenheit, um auszubrechen. Als eine SPD-Gruppe auftaucht, entschwindet er flugs zum Gruppenfoto mit der Basis. Zum Schluss sagt er so salomonisch wie Onkel Erwin, der auf der Geburtstagsfeier des ungeliebten Schwagers auch ein paar unverbindliche Freundlichkeiten sagen muss: „Je länger man durchgeht, desto mehr Eindrücke sind es, die man mitnimmt“.

Als Kurt Beck vor drei Jahren zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde, haben einige dann doch geschluckt. Denn mit dem Mann aus der Pfalz war in der SPD ein Habitus wieder auferstanden, den die selbstverliebten „Brandt-Enkel“ von Engholm bis Schröder schon zu den Akten eines untergehenden Milieus gelegt hatten: Dem des rechtschaffenen, ordnungsliebenden Durchschnittspolitikers, dem jede falsche Hast fremd, linke Umtriebe verdächtig und der Dämmerschoppen heilig ist. Kein Heroe des Geistes, kein Designer-Sozialist, keine proletarische Kampfsau, dafür ein St. Martin der Wochenmärkte und Feuerwehrfeste.

Auch Avantgardisten war es natürlich ein Gräuel, dass dieser Mann so unversehens an die Macht gespült wurde wie weiland Harry Truman nach dem Tod Franklin Roosevelts. Denn Beck, das war sozusagen der Stabsunteroffizier der SPD: Mit seinem Kinnbart und der Vokuhila-Frisur sah er aus wie ein Zeitsoldat, der am Freitagmittag die Kaserne verlässt, den Opel Manta besteigt und „heem“ macht, damit er am nächsten Morgen beim Training der Alten Herren dabei sein und den Grillabend vorbereiten kann. Ein Mann, der als Lieblingsgericht gern „Schnüffel“ (fette Schweinenasen) angibt – das schien wie die Rache der Kleinbürger an den Postmaterialisten. Politik und Anmut, Politik als Diskurs, als Inszenierung – die Blütenträume auf ein neues Kapitel der Kulturgeschichte schienen mit dieser zentnerschweren Altlast aus der Provinz auf einen Schlag begraben.

Ganz sind die Zweifel an dem Typus Beck nicht beseitigt: Bis heute ist es nur sehr bedingt vorstellbar, dass dieser Mann im Berliner Kanzleramt Patti Smith empfängt, mit Jürgen Habermas in der Skylounge über Europa parliert oder auf irgendeinem G8-Gipfel in der Karibik mit Bono den Blues für Afrika singt. Im Anzug sieht Kurt Beck immer noch aus wie die drei Jungbauern aus dem Westerwald auf dem Weg in die Stadt, die der Fotograf August Sander 1914 abgelichtet hatte. Am Sitz ihres ungewohnten schwarzen Anzugs hatte der englische Schriftsteller und Kunstkritiker John Berger einst die kulturelle Hegemonie der bürgerlichen Gesellschaft abgelesen. Wie anders wirkt gegen Kurt Beck Barack Obama.

Dass sie alle gelästert haben über diesen Beck – was Wunder: „Letztes Aufgebot“ hieß es hämisch. Linksparteichef Lafonaine spottet noch heute gern über den „Dorfbürgermeister“. Als ob sein kometenhafter Aufstieg in der SPD nicht selbst einst in dem Weltdorf Saarbrücken angefangen hätte, wo Oskar der Schwarm der Marktfrauen war. Doch der Standortvorteil des Maurersohns und gelernten Elektromechanikers Beck war immer, dass er Bodenhaftung besaß, Gespür für die einfachen Leute und sich in ihrem Alltag erstaunlich gut auskennt und nicht nur rhetorisch. Becks Frau Roswitha arbeitet bis heute zwei Mal in der Woche als Friseuse im Salon „Fashion Hair Design“ in Bad Bergzabern. Sie nervt niemanden mit Kochbüchern oder obskuren Thesen zur Familienpolitik, die Bundeshauptstadt ist ihr eh „eine Spur zu hoch“. Parvenü-Allüren wie Oskar Lafontaine, der sich eine gitterbewehrte Protzvilla bei Saarlouis bauen ließ, sind dem Ehepaar fremd.

Nun gut: Die Bedächtigkeit ist dem schwergewichtigen Pfälzer etwas deutlich ins Gesicht geschrieben. Das „Immer mal langsam mit de Leut´“, mit dem er kurz nach Amtsantritt vorsichtig die Abkehr von der Schröderschen Agenda-Politik einläutete, ist nicht nur billige Leutseligkeit, sondern das Credo, das seinen politischen Erfolg begründet hat. Wie sonst hätte er es schaffen können, im CDU-Stammland Rheinland-Pfalz drei Mal hintereinander die Wahlen für die SPD zu gewinnen, zuletzt sogar mit absoluter Mehrheit?

Das Problem mit Becks nachgeholter Entdeckung der Langsamkeit: Sie suggeriert, Politik könnte einfach mal so die Handbremse ziehen. Doch angesichts des Tempos, mit dem die ökonomische Globalisierung die sozialen Leitplanken vor Ort mitreißt, wirkte Becks Reformmoratorium ungefähr so wirkungsvoll wie ein rot-weiß gestreiftes Trassierband gegen eine Schnee-Lawine in den Alpen. Tatsächlich müsste das Steuer eher herumgelegt werden. Und wer sich das ökologische Desaster im Gefolge der Erderwärmung, die Zeitbombe der Armut im Süden, den Steppenbrand der „neuen“ Kriege nach dem Ende des Kalten und den weltweiten Verfall der Solidarität anschaut, dem dürfte es mit dieser Kursänderung nicht schnell genug gehen.

Im Wahlprogramm der SPD von 1972 finden sich heute revolutionär klingende Formeln wie: Mitbestimmung, „Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen“, und die schillernde Vokabel von der „Lebensqualität“. Willy Brandts Wahlkampfmotto von 1972 „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“ müsste Beck heute so umformulieren: Wer morgen anders leben will, muss heute für den Linksruck kämpfen.

Doch weit ist der Weg dahin für einen Kleinbürger, der gern Fahrradurlaub an der Mosel macht und Weinköniginnen herzt. Aber immerhin hat dieser geschmähte Provinzfürst und nicht der Weltökonom Lafontaine die „Unterschichten“frage entdeckt. Ganz frei von den Affekten des Kleinbürgers, der es zu etwas gebracht hat, und herablassend auf den Bodensatz schaut, dem er selbst entstammt, ist natürlich auch Beck nicht. Den Rat, sich zu waschen und zu rasieren, den er dem arbeitslosen Henrico F. kurz vor Weihnachten 2006 gab, um an einen Job zu kommen, erinnerte in Ton und Denke an die Dachlatten, die der hessische SPD-Ministerpräsident Holger Börner einst gegen die Demonstranten schwingen wollte, die die Startbahn West am Frankfurter Flughafen bekämpften und später seine Koalitionspartner werden mussten.

Doch mag man auch intellektuelles Charisma an dem behäbig wirkenden Couchpotato vermissen. Unterschätzen sollte man die Wirkung, die von diesem Mann ausgeht, nicht: So wie sich bei Beck Bodenständigkeit, Machtbewusstsein und „Rechtschaffenheit“ mischen, ist er wie gemacht für die „Unterschichten“, die die SPD bei der Stange halten muss, wenn sie in Zukunft politisch noch etwas zu melden haben will. Mit seiner Warnung damals hatte er ihren Nerv besser getroffen als sein überforderter Vorgänger Platzeck mit der neoliberalen Retortenformel vom „vorsorgenden Sozialstaat“.

Kurzum: Kurt Beck ist der personifizierte Kleinbürger, der, langsam aber sicher, seine Abneigung gegen links überwindet. Man sieht ihm die Anstrengung körperlich an, wenn er über seinen Schatten springen muss. Erst schwört er sich, nie wieder mit dem ungeliebten Schwager namens Linkspartei zu sprechen. Dann merkt er: Es geht nicht. Er druckst herum, schwitzt, wirkt tolpatschig, verhaspelt sich, wie im Hamburger Ratskeller, entschuldigt sich schließlich so ungelenk wie auf der Pressekonferenz nach der zweiwöchigen Grippe. So stellt man sich Peter Hacks´ Bär vor, der auf den Försterball geht. Aber genau in dieser undankbaren Rolle bleibt er paradigmatisch, ja unverzichtbar.

Wenn jetzt eine unheilige Allianz aus Alt- und Neurechten den Slogan „Beck muss weg“ intoniert, handelt sie ausgesprochen kurzschlüssig. Hingegen sei davor gewarnt, die Kleinbürger abzuschreiben. In ihrer Geschichte der letzten zweihundert Jahre hat die Linke keinen größeren strategischen Fehler begangen, als sich das Kleinbürgertum zum Gegner oder bestenfalls zum Zweckverbündeten zu machen und das organisierte Industrieproletariat als ihre Stammwählerschaft zu definieren – wie richtig das gedacht ist, läßt sich – unter anderem – daran festmachen, dass die Neue Mitte von Schröder, Blair&Co. inzwischen beim Job-Center Schlange steht.

Wenn es überhaupt einen Weg nach links geben wird in dieser Gesellschaft, dann nur, wenn ihn diese verunsicherten Kleinbürger mitgehen. In seiner Analyse der Maiaufstände der Deutschen Revolution von 1848/49 stellte Friedrich Engels dieser Klasse zwar ein denkbar schlechtes Zeugnis aus: „Dem Kleinbürgertum“, schrieb er, „groß im Prahlen, fehlt die Kraft zur Tat, und es scheut ängstlich vor jedem Wagnis zurück.“ Gerade deshalb braucht es ein Vorbild. Einen von ihnen. Einen, der sich zum Wagnis durchringt. Einen wie Beck.

Intellektuellen mag vielleicht Klaus Wowereit besser gefallen: Polyglott, urban, populär, szenekompatibel, notfalls sogar intellektuell. Wowereit war schon immer gegen Helmut Schmidt und die Nachrüstung, läuft aber trotzdem im gutsitzenden Boss-Anzug herum. Und er hat keine Berührungsängste nach links. Aber auf die Intellektuellen – pardon – kommt es nicht an.

Mag mancher auch von Richard Floridas „creative class“ träumen, jenem unaufhaltsam wachsenden Heer der Kreativen, Selbstständigen und sonstigen Helden der immateriellen Arbeit. Die ist vielleicht die „Hefe im Teig“ (Kurt Beck auf der Documenta über Kunst). Aber revolutionäres Subjekt ist sie (noch) nicht. Und, viele jener Zeitgenossen, sind doch heute selbst Kleinbürger, wenn nicht aufgrund ökonomischer Fakten, so doch aufgrund der mentalen Orientierung. Mögen sich die Kulturwissenschaftler auch noch so raffiniert mit eckigen Hornbrillen tarnen.

Auf dem Terrain des Kleinbürgerlichen entscheidet sich die Suche nach der großen Alternative. Und dorthin geht der Kurt voran. Nicht der asketische Neo-Wehner Münte. Nicht der Leitende Angestellte Steinmeier. Und schon gar nicht der Wall-Street-Sozialist Steinbrück. Niemand macht sich Illusionen: Kurz nach seinem Amtsantritt als SPD-Chef schwärmte Beck noch von einer Koalition mit der FDP. Inzwischen schielt er nach links. Wenn er sich traut, ein paar kleine Schritte weiterzugehen, könnte er eines Tages womöglich noch Fackelträger jener „Avantgarde der neuen Freiheit“ werden, die ihren 1902 in Wien geborenen Initiator auf die Documenta II von 1959 katapultierte. Sein Name: Gustav Kurt Beck.

      Jürgen Gottschling

Apr. 2008 | Allgemein | Kommentieren