Eine der schärfsten Kritikerinnen des patriarchalischen Islams kommt aus den Reihen der türkischstämmigen Migranten: Necla Kelek, geboren 1957 in Istanbul, gelangte als Zehnjährige nach Deutschland, studierte Volkswirtschaft und Soziologie und promovierte über das Thema «Islam im Alltag». Sie ist ständiges Mitglied der Deutschen Islam-Konferenz. Ein Gespträch mit der streitbaren Autorin pointierter Bücher:

Der türkische Ministerpräsident hat bei seinem Deutschlandbesuch die Assimilierung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit attackiert. Wie interpretieren Sie seine Worte?

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Necla Kelek: Nicht als Integrationshilfe. Wir stehen seit zwei Jahren in einer intensiven Auseinandersetzung darüber, was Integration für die türkisch-muslimischen Migranten bedeutet, die in der vierten Generation in Deutschland leben und die ja, das muss man betonen, Integrationsverlierer sind gegenüber anderen Migranten. Wenn dann Herr Erdogan nach Deutschland kommt und bekräftigt, er sei ihr Präsident, hilft das natürlich der Integration überhaupt nicht.

Kam er nur als Wahlkämpfer?

Die Bilder aus der Arena in Köln zeigen eine Parteiveranstaltung der AKP: Frauen mit Kopftuch und türkische Fahnen. Anscheinend hat er es geschafft, beides symbolisch zusammenzubringen, den Islam und die türkische Republik.
Der Schriftsteller Zafer Senocak, der wie Sie als Kind aus der Türkei nach Deutschland kam, hat den Besuch als türkische Entwicklungshilfe für die deutsche Integrationspolitik gelobt.
Ich kann die säkularen Türken nicht verstehen, dass sie die Islamisierung so verharmlosen. Was soll denn eine Partei wie die AKP noch alles tun, damit wir wach werden? Peu à peu werden uns die demokratischen Rechte aus der Hand genommen, werden Frauen- und Bürgerrechte durch Einführung der Scharia kassiert.

Sie gehen davon aus, die Scharia setzte sich auch bereits in den Parallelgesellschaften in Deutschland durch?

Ja. Seit dem Regierungswechsel 2003 haben Erdogan und seine AKP die Aufsichtsbehörde für Religion, die Diyanet, zu einer Missionsbehörde des Islams umgeformt. Die Anstalt verfügt jetzt über ein Budget von fast einer Milliarde Euro und beschäftigt mehr Beamte und Vorbeter, als es Hochschullehrer gibt in der Türkei. Allein in Deutschland beten und leben über 800 von der Türkei bezahlte Vorbeter in den Moscheen. Das sind alles Schritte in Richtung eines islamischen Landes. Und in der Türkei stehen heute, als Folge der AKP-Regierung, mehr Moscheen als Schulen. Dabei ist das Bildungssystem marode. Doch die Gelder fliessen in den Moscheebau, und Imame werden nach Deutschland und Europa entsandt.

Woher kommen die gegenwärtigen «Belastungen» im türkisch-deutschen Verhältnis?

Nach vierzig Jahren Einwanderung haben die Migranten eine Identität gebildet darin, sich abzugrenzen von der deutschen Gesellschaft. Das hat leider etwas mit ihrer islamischen Kultur zu tun, die klar besagt, sich mit Ungläubigen nicht zusammenzutun, da Ungläubige Schweinefleisch essen, nicht beschnitten sind, ihre Frauen Freiheiten haben und so weiter. Das hat ja, wenn ich mein Leben als gottgefälliger Mensch bewahren will, im Alltag enorme Folgen. Die vielen verschiedenen Islamvereine und ihre Verbandsfunktionäre sind ihre Sprecher. Sie hören eher auf jene Abgrenzung predigenden Stimmen, die ihre archaische Kultur bedienen und ihnen bestätigen, sie müssten sich gar nicht integrieren.

Es scheint, Sie schieben allein den Türken die Schuld an allen Problemen zu. Sehen Sie keine Versäumnisse bei der deutschen Einwanderungspolitik.

Auf der deutschen Seite gibt es ganz viele Konzepte, welche die Migranten in jener Verweigerungshaltung bestärken. Also: Möchte die sechsjährige Ayse aus religiösen Gründen Kopftuch tragen, dann soll sie das tun. Darf sie nicht am Schwimmunterricht teilnehmen, dann trennen wir eben die Schwimmbäder. Es gibt Schulen in Deutschland, wo im Ramadan die Schulkantine geschlossen und kein Brötchen mehr verkauft wird.

Davon sollen deutsche Schüler betroffen sein?

Auch sie bekommen aus Rücksicht auf die Muslime tagsüber kein Essen angeboten. Dabei geht auch im Islam Bildung vor religiöser Pflicht. Wie eine Serviceanstalt hat die deutsche Gesellschaft alles dafür getan, dass die verschiedenen Kulturen hier ihr Zuhause finden. Daraus sind Parallelgesellschaften entstanden. Die Fehler sehe ich auf beiden Seiten.

Aber bei Ihnen klingt das so, als habe sich die deutsche Gesellschaft und Politik den Migranten nicht zu wenig, sondern zu stark geöffnet. Der Anlass, der Erdogan nach Deutschland führte, der Brand eines ausschliesslich von Einwanderern aus der Türkei bewohnten Hauses in Ludwigshafen, hat sofort Analogien zu den ausländerfeindlichen Anschlägen in Mölln und Solingen provoziert. Haben die Türken denn nicht Grund, sich als Menschen zweiter Klasse behandelt zu fühlen?

Für mich war es ein Beleg dafür, wie sie sich seit Jahrzehnten abgrenzen. Und in dieser Abgrenzungsidentität steckt auch, dass sie Opfer sind. Wenn irgendwo ein Haus brennt, wo Türken wohnen, da wird nicht hinterfragt, ob das ein marodes Haus gewesen ist. Stattdessen führen die Sprecher aus den Verbänden das Wort und erklären im Verein mit der türkischen Presse: Die Deutschen haben uns erneut verbrannt. Wenn es ein rechtsradikales Verbrechen war, müssen wir das doch als gemeinsames Problem sehen.

Würden Sie sich als integriert oder als assimiliert beschreiben?

Ich bin ein Teil dieser Gesellschaft. Ich bin Bürgerin und habe Bürgerpflichten wie Bürgerrechte. Ich bin hier sozialisiert worden, bin hier zur Schule gegangen, die deutsche Sprache ist meine erste Sprache. Ich habe kein Problem mit dem Begriff «Assimilation», da ich das als Anerkennung der Gesellschaft sehe, in der ich lebe.

Ist die Unterscheidung zwischen Assimilation und Integration für Sie nur ein Spiel um Worte?

Jedenfalls liegt die Entscheidung, wie man leben möchte, bei jedem selbst. Das kann kein türkischer Ministerpräsident vorschreiben. Assimilation einfach eine Menschenrechtsverletzung zu nennen, verletzt alle, die hier angekommen sind und zum Beispiel einen deutschen Ehepartner gefunden haben.

Wie stehen Sie zu dem Ruf nach türkischen Schulen und Universitäten in Deutschland?

Wir brauchen keine in der Türkei ausgebildeten Lehrer, sondern eine gute Ausbildung türkischer Schüler für die Erfordernisse hier.

Türkische Schulen wären eher ein Beitrag zur Segregation?

Ja. Es würde noch mehr Parallelgesellschaften fördern. Wir haben hier über 2,6 Millionen Türken, darunter viele, die die deutsche Sprache sehr gut beherrschen, auch viele, die an der Universität studieren. Diese Menschen müssen die Verantwortung für die Integration tragen. Es gibt bilinguale Schulen, die ich sehr gut finde, aber Bildungsimport aus der Türkei brauchen wir nicht.

Was würden Sie der deutschen Politik empfehlen, wie sie auf die Forderungen des Ministerpräsidenten Erdogan reagieren sollte?

Islamkonferenz und Integrationsgipfel stehen für eine aktive Auseinandersetzung über Fragen der Integration. Wir haben nach zwei Jahren schon mehr Erfolge erzielt als in den Jahrzehnten vorher. Dass die Erregung in den letzten Wochen so hoch ging, zeigt ja, wie ernst die Lage ist. Aber Deutschland ist ein Rechts- und Sozialstaat und fühlt sich verantwortlich für die gesellschaftlichen Probleme. So eine Einrichtung wie die Islamkonferenz hat dafür gesorgt, dass eine Kritikerin des Islams wie ich mit islamischen Verbänden an einem Tisch sitzt. Wir streiten uns, und diese Streitkultur tut uns allen gut.

Feb 2008 | Allgemein | Kommentieren