Wut und Hass konzentrieren sich auf den Mann, der es gewagt hat, in Zusammenhang mit Jugendkriminalität die Spießer-Frage zu stellen: Jens Jessen in Gefahr.
Mit seinem Video-Blog zur „Atmosphäre der Intoleranz“ zum Zusammenhang zwischen Gewalt und Spießertum hat es Jens Jessen als Feuilleton-Chef der ZEIT gewagt, Salz in die Wunde um die Debatte zur Jugendkriminalität zu streuen.
Es könne sein, so der Journalist, dessen Großvater für seine Beteiligung am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet worden ist, dass Jugendliche deshalb so ausrasteten, weil sie genervt seien von einer ganzen Generation von Spießern. Die Tat, den Rentner in der Münchner U-Bahn zu verprügeln, sei „zweifellos unentschuldbar“, doch die „unendliche Masse von Gängelungen, blöden Ermahnungen, Anquatschungen, die der Ausländer, namentlich der Jugendliche, hier ständig zu erleiden“ habe, sei es auch.
Was allerdings ebenso unentschuldbar ist, ist der Ton, mit dem Jessen nun angefeindet wird. Allen voran von der unglückseligen Allianz zwischen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem Springer-Konzern: „Der feine Kultur-Chef der Zeit verhöhnt verprügelten Rentner“, titelt hämisch die Bild, Frank Schirrmacher von der FAZ bedauert den „Wahn“, seines „geschätzten Kollegen“, die deutsche Mehrheit nach Belieben unter Nazi-Verdacht zu stellen. Bild druckt beglückt die FAZ-Zeilen ab, stellt noch ein paar entrüstete Rentner, die alle Peter heißen und alle die Arme verschränken, dazu, und Kolumnist Wagner fordert vergnügt, Jessen ins RTL-Dschungelcamp einweisen zu lassen, denn er habe „den Unterhaltungswert eines durchgeknallten Dschungel-Tarzans“.
Das war der Anfang. Angefeuert durch Bild und FAZ, tobt nun eine Welle der Empörung in Internetforen, Blogs, und Userkommentaren. Was dort zu lesen ist, ist zuweilen justiziabel: Man solle dem „Deutschland-Hasser“, diesem „hinterhältigen und verdorbenen Gesellen“, dem „charakterlosen Wurm“ auf die „Fresse hauen“, den „ekelhaften Rotfaschisten“ auf den „Müllhaufen der Geschichte“ werfen, das „widerliche linke Schwein“ in der U-Bahn so verprügeln, „dass er sich für den Rest seines Lebens von Flüssignahrung ernähren muss“. Es wird gefragt, ob man ihm „bei Gelegenheit den Schädel eintreten“ dürfe, oder gefordert, dass „Schläge das Denkvermögen“ erhöhen mögen und sich der „Perversling“ schämen soll und schließlich wird dort gehofft, dass Jessen seinen Job verliert, „oder besser noch: Verschwinden Sie aus Deutschland. Ich klage Sie an wegen Verbrechen gegen das deutsche Volk“ – und so geht das in Hunderten Kommentaren in einem fort. Es kann einem schlecht werden dabei.

Ein schöner Tag

Auch das ist Gewalt. Sie drohen, sie beleidigen, sie hetzen und sie rüpeln. Das Ganze ist längst kein Spaß mehr. Zwei Verlierergruppen der Gesellschaft, die chancenlosen Jugendlichen und die Alten, sind aufeinander losgelassen. Dazu gesellt sich eine Gruppe offenbar gewaltbereiter Spießer, die nichts unversucht lässt, die Diskussion bis aufs Blut zu führen.
In ihren oft vor Grammatikfehlern strotzenden Zuschriften fordern die Empörten, „die linke Hochburg, das öffentlich-rechtliche Fernsehen“, endlich abzuschaffen, und offenbaren selbst am überzeugendsten, dass dies kein Aufstand braver Bürger ist, sondern dass sich hier Radikale gegenseitig weiter radikalisieren: „Merkt Ihr was? Wir sind nicht mehr allein!“ Und: „Dies ist ein schöner Tag für Deutschlands Demokratie.“
Hervortun sich dabei nicht nur die Kommentatoren, die direkt unter Jessens Text schreiben, sondern vor allem die User der Homepage Politically Incorrect – einer Seite, die sich als „pro-amerikanisch, pro-israelisch und gegen die Islamisierung Europas“ bezeichnet, und deren Kommentare die wüstesten sind. Auch bei Youtube findet sich jede Menge geposteter Hass unter Jessens Video, bei wikio findet sich eine Übersicht.
Schon einmal hat Jens Jessen darüber geschrieben, dass den Deutschen, allen voran den „verwahrlosten Massenmedien“, nicht zu trauen sei, weil Spuren des nationalsozialistischen Gedankenguts nach wie vor in den Köpfen der Spießer zu finden seien und sich von der Politik in den privaten Terror zurückgezogen habe: „Es steckt im gereizten Kern der Gesellschaft. Es steckt in den Aufpassern, den Liebhabern des Verbietens und Strafens, … im Nachbarn, der die Kehrwoche kontrolliert, im Passanten, der den Falschfahrer anzeigt, ohne behindert worden zu sein, in der Mutter, die anderen Müttern am Spielplatz Vorhaltungen macht. Es steckt im guten Bürger, der seine eifernde Intoleranz auf Befragen wahrscheinlich als zivilgesellschaftliches Engagement ausgeben würde.“
Als sein Artikel im Jahr 2005 erschien, gab es noch nicht unter jedem Artikel eine Kommentarfunktion und keine Hass-Debatte. Nun, da sie losgetreten ist, schlägt die Wut über demjenigen zusammen, der die intellektuelle Abweichung von der Masse verkörpert.

Jessen selbst hat inzwischen auf die Flut von Wut geantwortet: „Die Menge der Zuschriften hat mich doch erschrocken, die ganz augenscheinlich meinen Kommentar nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollten oder nur auf eine Gelegenheit zum Losschlagen warteten.“ Er beharre allerdings darauf, dass Deutschland ein Spießer-Problem habe. Das sei keine Rechtfertigung von Gewalt. Absichtlich habe die Zeit nicht alle Leserreaktionen veröffentlicht, denn „in einigen artikuliert sich just jener Mob, der auch schon der Oktoberrevolution zum Sieg über die Minderheit verholfen hat.“
Jessen beendete seinen Artikel über die Furcht vor den Deutschen damals mit den Worten: „Es gibt keinen Grund, die Deutschen zu fürchten. Aber sorglosen Gewissens unter ihnen leben kann man auch wieder nicht.“
Wie vorausschauend das war, konnte er damals noch nicht ahnen.

Feb 2008 | Allgemein | Kommentieren