Von ihren früheren Unworten und Untaten reden die Achtundsechziger nicht gerne. Stattdessen verstecken sie sich hinter dem Terror der RAF, dem „durchgeknallten“ Andreas Baader, der „kalten“ Gudrun Ensslin oder der „verzweifelten“ Ulrike Meinhof. Nach derselben Methode verfuhren die Deutschen 1945. Statt über ihr eigenes Handeln nachzudenken, dämonisierten sie Adolf Hitler zum einzig Schuldigen. Wie die hier vorzustellenden Neuerscheinungen zu 1968 zeigen, stricken die revolutionären Ruheständler ihre Biografien fast alle nach dem Muster, das Franz Schönhuber 1983 zum Titel seiner verklärenden Erinnerungen an die Waffen-SS erhob: „Ich war dabei“. Demnach kann, wer nicht dabei war, auch nicht mitreden. Im Ton sind die älteren 68er-Herrschaften ziemlich defensiv geworden, frei nach dem auch schon bekannten Motto „Es war nicht alles schlecht“.
Eine erfreuliche Ausnahme gelingt Willi Winkler mit seiner Geschichte der RAF. Er verdankt das seinem sicheren Gefühl für die richtigen Details und wohl auch der Gnade seiner späten Geburt (1957). Sie verschafft ihm Distanz. Mit Lust ruft Winkler den Satz des einstigen Ensslin-Verteidigers Otto Schily ins Gedächtnis: „Alle rechtsstaatlichen Errungenschaften beruhen auf revolutionärer Gewalt.“ Er betrachtet die nationalen Unterschiede im studentischen Aufbegehren von 1968; die deutsche Variante sei „freudlos im Wesentlichen“ gewesen, „zur Introspektion neigend, aber im Zweifel zum Kampf entschlossen“: „Deutsch sein hieß wieder einmal, eine Sache um ihrer selbst willen zu betreiben, im Fall der RAF fast dreißig Jahre lang.“
Ulrike Meinhofs Badewanne
Gemessen an Winklers informativer und kurzweiliger Darstellung liest sich Jutta Ditfurths Biografie von Ulrike Meinhof öde. Über das Liebesleben der Heldin erfährt man: „Lothar Wallek war glücklich, als er [die 21-jährige] Ulrike Meinhof wiedersah. Aber sie wünschte sich mit Thomas Lenk bald einen neuen Anfang zu erleben.“ Einen solchen Erika-Roman hat die Meinhof nicht verdient, selbst wenn man den Terror, den sie schließlich wollte, als Irrweg ablehnt. Aber Ditfurth schreibt unverdrossen drauf los. Ja, lamentiert sie, „das Leben in der Illegalität war teuer“ und voller Unwägbarkeiten: „Von nun an trug Ulrike Meinhof oft wieder ein Kopftuch“. „Stundenlanges In-der-Badewanne-Liegen und gemeinsames Kochen“ halfen, sich vom Stress des illegalen Alltags „zu entspannen“.
Was nicht in ihre geistige Badewanne passt, lässt Ditfurth aus, zum Beispiel Meinhofs Kommentar zu Willy Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghettodenkmal im Dezember 1971: „Die reformistische Linke zielt darauf, Konflikte zu vermeiden […] indem sie überalterten Konfliktstoff ausräumt (der Kniefall des Kanzlers in Polen z.B.).“ Im Dezember 1972 verstieg sich die Meinhof als Zeugin im Prozess gegen Horst Mahler zur Bemerkung: „Der Antisemitismus war seinem Wesen nach antikapitalistisch. [.] Ohne dass wir das deutsche Volk vom Faschismus freisprechen – denn die Leute haben ja wirklich nicht gewusst, was in den Konzentrationslagern vorging -, können wir es nicht für unseren revolutionären Kampf mobilisieren.“ Auch diesen Satz sucht man bei Ditfurth vergeblich. Stattdessen stellt sie am Ende in aller Bescheidenheit und Erich Fried zitierend fest, wen sie da in grober Holzschnitttechnik porträtierte: „Die bedeutendste deutsche Frau seit Rosa Luxemburg.“ Wer gern Heiligenlegenden liest, wird das Buch lieben.
„Das Projektil sind wir“ ist ein seltsames Gesprächsbuch mit Karl-Heinz Dellwo. Er gehörte zu dem Terrorkommando, das 1975 die Deutsche Botschaft in Stockholm besetzte, um die Gefangenen der RAF und anderer Bombenlegergruppen freizupressen. Der angeblich „politisch reflektierte Lebensbericht“ fängt merkwürdig an: Dellwo drang, so formuliert er heute, nicht in die Botschaft ein, um im Dienste seiner politischen Ziele einzelne Menschen in Todesangst zu versetzen, sondern um, wie er in gewagter Grammatik schreibt, „die höhere Botschafterebene als Geiseln zu nehmen und 26 politische Gefangene aus den Gefängnissen der BRD zu befreien“.
Es gehört ein erheblicher Mangel an Einsichts- und Umkehrbereitschaft dazu, wenn Dellwo seine Gewalt- und Mordtat 32 Jahre später so beschreibt: „In der Zwischenzeit hatten wir unser Ultimatum gestellt und zwei Diplomaten erschossen, die Attachés Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart. Nach einer unvorhergesehenen Explosion um 23:47 Uhr verloren wir einen Genossen, nämlich Ulrich Wessel, direkt vor Ort, und 10 Tage später in einer Gefängniszelle in Stuttgart-Stammheim den zweiten, Siegfried Hauser. Wir anderen gingen danach über 20 Jahre ins Gefängnis.“ Ulrike Meinhof ließ ausrichten: „Stockholm ist das Dien Bien Phu der Sozialdemokratie“, also eine vernichtende Niederlage. Dellwo „bedauert“ seine Tat seit langem, die Sprache dafür hat er noch nicht gefunden.
Einsame Herzen
Die Interviewer wollen mit dem Buch klarmachen, dass „das Argumentationssystem RAF [.] Respekt verdient“. Stattdessen haben sie ein Dokument abgeliefert, das Einblick in die hartherzige Innenwelt, die Gedankensperren, das Selbstmitleid und die lebensgeschichtlichen Vorprägungen des linksradikalen Teutoterrorismus gibt. Über seinen kriegsgeschädigten, oft betrunkenen Vater berichtet Dellwo: „Mit meiner Mutter zusammen hatte er eine Großfamilie in die Welt gesetzt, mit der er angesichts seiner eigenen, zu kurz gekommenen Lebenshoffnung völlig überfordert war. Er ist über Krieg und Faschismus entwurzelt worden. Das haben wir als Kollateralschaden abgekriegt.“
Der nationalgeschichtlich bewirkte Generationsschaden rechtfertigt so manches, aber nicht alles. Das muss man den Ex-Terroristen Bommi Baumann und Till Meyer vorhalten, von denen letzterer sich auch für den Staatssicherheitsdienst der DDR engagierte. Schon das Titelblatt ihres Buches enthält eine grobe Lüge: Die beiden haben kein Buch geschrieben, wie sich vermuten lässt, sondern Dokumente aus dem Umkreis der amerikanischen Black-Power-Bewegung herausgegeben. Genauer gesagt: Sie haben Texte aus den Jahren 1963 bis 1974 zusammengeklatscht, nach undurchsichtigen Kriterien gekürzt und ohne jeden erklärenden Kommentar veröffentlicht.
Der Verlag stellt seine Pseudoautoren mit den Worten vor, sie „gehörten in den 70er-Jahren zu den Gründern der Bewegung 2. Juni“. Das klingt, als handele es sich um eine Bürgerinitiative zum Schutz des grauen Teichmolches. Tatsächlich hat diese Gruppe zumindest zwei unaufgeklärte Verbrechen auf dem Gewissen. Zum einen den Tod eines Angestellten im britischen Yachtclub in Berlin. Er starb bei der Explosion einer Bombe, die von den Leuten der „Bewegung 2. Juni“ gelegt worden war, um Offiziere zu treffen und so den „Befreiungskampf“ der nordirischen Katholiken zu unterstützen. Der zweite Tote ist der Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann, der 1974 in Berlin kaltblütig erschossen wurde. Zwei Männer, die einen solchen Mörderhaufen mitbegründeten und zur Aufklärung der genannten Kapitalverbrechen nichts beitragen, suhlen sich heute in moralischer Rechthaberei: „Der Irakkrieg ist ein Verbrechen, ein anhaltender Verstoß gegen das Völkerrecht.“
Neben der insgesamt ziemlich aufdringlichen Terrorliteratur sind noch zwei Bücher zu Achtundsechzig und den Folgen zu vermelden, die eher in das Segment Erbauliches für die heranwachsende Jugend fallen: Das von Daniel Cohn-Bendit und Rüdiger Dammann herausgegebene Brevier „1968. Die Revolte“ sowie das von Irmela Hannover und Cordt Schnibben angeleitete Gesprächsbuch „I Can’t Get No“. Beide Bücher funkeln nicht vor Geist, beide versäumen die Auseinandersetzung mit den damaligen Gegnern und gründeln allein in den Erinnerungen der einstigen Linksradikalen. Sie verzichten auf jede sozialgeschichtliche Einordnung. Doch sind sie breiter angelegt als die unendlich ausgedehnte, langatmige RAF-Literatur. Über seinen Vater erzählt Schnibben: „Er war eigentlich auch im kommunistischen Jugendverband und ist dann zu den Nazis übergelaufen.“ Erst als der Vater tot war, erfuhr er, dass dieser Mann im letzten Kriegsjahr einen Hitler-Gegner exekutiert hatte. Zwar wusste der Sohn von den drei Jahren Zuchthaus, die der Vater nach dem Krieg abgesessen hatte, aber zu Lebzeiten traute er sich nie, danach zu fragen: „Ich hatte den Mut nicht, ihn persönlich zu konfrontieren.“
Bitburg 1985
Eine ähnliche Geschichte findet sich bei Cohn-Bendit und Dammann. 1997 sprach die Grünen-Abgeordnete Christa Nickels während der Bundestagsdebatte über die Verbrechen der Wehrmacht von ihrem 1908 geborenen, noch nicht lange verstorbenen Vater: Der hart arbeitende Bauer hatte in den 1950ern „jede Nacht furchtbar von Feuer und Kindern geschrien“. Dann kam die Abgeordnete dankbar auf die Versöhnungsgeste zwischen „unserem Bundeskanzler“ Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg 1985 zu sprechen, die wegen einiger Gräber von Soldaten der Waffen-SS höchst umstritten gewesen war: „Dabei ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass mein Vater auf dem einzigen Foto, das es aus dieser Zeit gibt, eine Uniform trägt, die schwarz ist und auf der Totenköpfe sind. Damals war ich schon für die Grünen im Bundestag und habe es nicht gewagt, meinen Vater zu fragen, denn es fiel mir unendlich schwer.“
Es hatte 30 Jahre gedauert, bis im Deutschen Bundestag das zentrale Problem der 15- bis 25-Jährigen von 1968 ausgesprochen werden konnte. Sie waren der Konfrontation um die NS-Verbrechen ihrer Eltern ausgewichen, suchten stattdessen die Völkermörder in Washington und skandierten in völliger Besinnungslosigkeit „USA-SA-SS“. Statt die familiäre Auseinandersetzung zu führen, stellten sie lieber das „System“ in Frage. Statt sich mit dem allgegenwärtigen familiären Spuren des Nationalsozialismus zu beschäftigen, erklärten sie die liberal-demokratische Bundesrepublik für „faschistisch“. Das aber wird in den Büchern zu 1968 allenfalls zufällig gestreift. Stattdessen dominiert das analytisch schwache, blumige und gelegentlich sündenstolze Erzählen über eine wilde Jugend.