Gerade wurde das Vatikanische Geheimarchiv, das über 45 Regalkilometer Akten beherbergt, die Papiere aus den Jahren 1922 bis 1939 – aus der Zeit des Pontifikats von – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auf welche Fragen darf man sich von den Akten Antworten erhoffen, auf welche nicht? piusxi.jpg«Erhalten die Archive Material über die internen Diskussionen zwischen den vatikanischen Amtsträgern, einschließlich Pacellis, über die angemessene Reaktion?» Mit Blick auf die Reichspogromnacht und das Geheimarchiv des Vatikans stellte die Jüdisch-katholische Historikerkommission diese Frage im Oktober 2000. Die Antwort, nach der zahlreiche Historiker bisher vergeblich gesucht haben, läßt sich nach dem 18. September 2007 hoffentlich endlich geben. Denn an diesem Tag macht der Vatikan alle Akten des Pontifikats  – links im Bild – Pius‘ XI. (1922 bis 1939) vollständig zugänglich.

Die Jüdisch-katholische Historikerkommission wies darauf hin, daß nach dem Pogrom von 1938 nur ein prominenter deutscher Prälat, Bernhard Lichtenberg, der Rektor der St.-Hedwigs- Kathedrale in Berlin, den Mut gehabt hatte, dieses Verbrechen öffentlich zu verurteilen. Kardinalstaatssekretär Pacelli, nach dem Papst der erste Mann im Vatikan, habe einen detaillierten Bericht vom päpstlichen Nuntius in Berlin erhalten. Aber offenbar habe es darauf keine offizielle Reaktion des Vatikans gegeben. Das sei besonders deshalb interessant, weil Erzbischof Amleto Cicognani, der Apostolische Delegat in den Vereinigten Staaten von Amerika, den Vatikan «sicherlich» über die öffentliche Verurteilung der sogenannten Kristallnacht durch die amerikanischen Bischöfe informiert habe.

Strittiges

Die Antwort auf zahlreiche weitere Fragen dieser Kommission, etwa ob «der Heilige Stuhl Mitte 1942 über den sich beschleunigenden Massenmord an den Juden gut informiert war» und wie er sich zur «Endlösung» der Judenfrage stellte, wird die historische Forschung vorläufig auch weiterhin schuldig bleiben müssen. Das hängt maßgeblich mit der Praxis der Freigabe von Akten durch das Vatikanische Geheimarchiv und mit dem gewaltigen Umfang dieser Quellen zusammen.

47 Punkte Katalog

Nicht weniger als 47 strittige Punkte umfaßte der Katalog der Jüdisch-katholischen Kommission, die sich mit dem Thema «Katholische Kirche und Holocaust» auseinanderzusetzen und hier insbesondere die Rolle Pius‘ XII. in den Blick zu nehmen hatte. Zur Beantwortung der Fragen stand der von 1999 bis 2001 tätig gewesenen Kommission vor allem die große, elf Bände umfassende Dokumentation «Actes et Documents du Saint-Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale» zur Verfügung, die im Auftrag Papst Pauls VI. zwischen 1965 und 1981 aus Beständen des Vatikanischen Geheimarchivs erstellt worden war. Diese Quellengrundlage reichte – was Wunder- den Kommissionsmitgliedern jedoch nicht aus. Sie verlangten daher Einblick in alle relevanten Akten des Vatikanischen Geheimarchivs.

Weil diese Bestände nicht unmittelbar zugänglich gemacht werden konnten, scheiterte die Kommission letztlich. In der Folge wurden der Kurie von verschiedenen Seiten Geheimniskrämerei, Vertuschung und mangelndes historisches Interesse an der Aufarbeitung der eigenen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus unterstellt. Hinter den hohen Mauern des Vatikans würden wieder geheime, hochbrisante Dokumente der Öffentlichkeit vorenthalten. Aber historisches Material muß – das sei eingeräumt – erst archivarisch aufbereitet sein, bevor es der Forschung zugänglich wird. Das war im Jahr 2000 offensichtlich noch nicht der Fall.

Vatikanische Öffnungspraxis

Überhaupt unterscheidet sich die Öffnungspraxis im Vatikanischen Geheimarchiv von jeher von jener staatlicher Archive: Während hier bestimmte Aktengruppen sozusagen automatisch nach Verjährung bestimmter Fristen (z. B. alle Sachakten nach vierzig Jahren) zugänglich werden, bedarf es im Vatikan immer dann, wenn neue Bestände geöffnet werden, einer ausdrücklichen Entscheidung des Papstes. Nach vatikanischer Tradition werden jeweils alle Quellen eines bestimmten Pontifikats der Forschung als Ganzes zugänglich gemacht. So öffnete zuletzt Johannes Paul II. in den neunziger Jahren alle Bestände der Amtszeit Benedikts XV., der vom 3. September 1914 bis zum 22. Januar 1922 regierte. Alle Akten ab dem 23. Januar 1922 blieben dagegen verschlossen in den Magazinen.

Deutschland, Pacelli, Orsenigo

Als Signal für die Bereitschaft des „Heiligen Stuhls“, auch Materialien aus der Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus zugänglich zu machen, wurden im Februar 2003 ausnahmsweise – in einer vorgezogenen Öffnung – vier Serien aus dem Pontifikat Pius‘ XI. (6. Februar 1922 bis 10. Februar 1939) freigegeben. Es handelt sich dabei um die Archive der Münchner und der Berliner Nuntiatur sowie um die entsprechende vatikanische Gegenüberlieferung im Staatssekretariat in den Serien «Baviera» und «Germania». Diese neu zugänglichen Bestände bieten der historischen Forschung einerseits große Möglichkeiten, setzen ihr andererseits zugleich jedoch deutliche Grenzen.

So ist es auf ihrer Grundlage erstmals möglich, die politische und kirchliche Entwicklung in Deutschland von 1917 bis 1929 durch die Brille des Apostolischen Nuntius zu sehen. Zugleich werden die Netzwerke von Informanten sichtbar, auf die sich die päpstliche Diplomatie vor Ort stützte. Der Sturz der Monarchie, die Weimarer Reichsverfassung ohne Gottesbezug, die Frage der Koalition des katholischen Zentrums mit der SPD oder doch lieber der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei, die deutsche Hochschullandschaft und das Universitätsstudium der angehenden Priester, die Geburtenkontrolle und die Emanzipation der Frau, die Konkordatsverhandlungen mit fast allen deutschen Ländern, die Besetzungen der Bischofsstühle und Professorenstellen an den Theologischen Fakultäten, der Frauensport . . . – Die Wahrnehmungen und Urteile des Vatikans zu all diesen Themen (und noch vielen weiteren) werden nun der historischen Forschung zugänglich.

Wenn man bedenkt, daß kein Geringerer als der spätere Papst Pius XII., Eugenio Pacelli, von 1917 bis 1929 Nuntius in München und Berlin und dann bis 1939 Kardinalstaatssekretär in Rom war, dann sind vor allem für seine zwölf Nuntiatur- Jahre erstmals verläßliche Aussagen über seine «deutschen Prägungen» möglich. Denn Pacelli schrieb fast täglich einen Bericht an seinen Mentor und Vorgesetzten, Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri. Nirgendwo sonst kommt man dem Politiker und Diplomaten, aber auch dem Seelsorger und Menschen näher als hier. Seine Wahrnehmungen, seine Einstellungen und die Entwicklung seines Denkens kann man Tag für Tag nachvollziehen. Lassen sich Einsichten für die Gründe seines «Schweigens» zum Holocaust aus seinen deutschen Erfahrungen gewinnen? Hat sich das Scheitern der Friedensinitiative Benedikts XV., mit deren Durchführung er 1917 betraut war, so prägend ausgewirkt, daß er sich später als Papst zu strikter Neutralität verpflichtet glaubte? Bevor man diese und andere Fragen präzise beantworten kann, ist es notwendig, die Tausende von Nuntiaturberichten Pacellis zu erfassen und in einer kritischen Edition vorzulegen. Entsprechendes gilt für die Nuntiatur Cesare Orsenigos in Berlin (1929 bis 1939). Beide Projekte sind bereits angegangen worden.

Quellen bleiben eingeschränkt

Andererseits ist der Aussagewert der 2003 zugänglich gemachten Quellen doch auch eingeschränkt, denn sie dokumentieren nur die deutsche Perspektive. Ohne den europäischen und weltweiten Kontext kann man aber Themen wie etwa die heftig umstrittene Frage nach dem Verhältnis der katholischen Kirche zum Antisemitismus nicht adäquat beantworten. Neben dem in Deutschland in den Nuntiaturarchiven entstandenen Material (Handakten des Nuntius, Gutachten, Denunziationen) stehen bis jetzt nur die Berichte der Nuntien nach Rom und die Weisungen aus Rom zur Verfügung.

pacelli_mussolini.jpg Über innervatikanische Entscheidungsprozesse, über die Diskussionen, die bestimmte Berichte des Berliner Nuntius ausgelöst haben müssen, kann man indes auch künftig nur spekulieren, da die internen Materialien des Staatssekretariats und der Kongregation für die Ausserordentlichen kirchlichen Angelegenheiten, die sich in der Regel mit den «heißen» politischen Themen befaßte, 2003 noch nicht zugänglich gemacht worden sind. So berichtete etwa Nuntius Orsenigo – um auf die Eingangsfrage der Jüdisch-katholischen Kommission zurückzukommen – am 15. November 1938 Kardinalstaatssekretär Pacelli (hier im Bild mit Mussolini) tatsächlich recht differenziert über die Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938. Er sprach von «antisemitischem Vandalismus» und machte deutlich, daß es sich keineswegs um spontane Erhebungen des Volkszorns handle. Vielmehr stamme «der Befehl oder die Erlaubnis zu handeln von ganz weit oben». Eine Antwort des Vatikans mit einer entsprechenden Anweisung für Orsenigo in dieser Sache existiert offenbar nicht. Jedenfalls gibt es keinen Entwurf dafür in der einschlägigen Serie «Germania» des Staatssekretariats. Ob es auch keine Ausfertigung gegeben hat, läßt sich nicht sagen, weil die Gegenprobe nicht möglich ist; das Berliner Nuntiaturarchiv ist nur für die Zeit Pacellis (bis 1929) erhalten geblieben, während die Akten Orsenigos im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden.

Kontexte

Die Öffnung aller Akten des Pontifikats Pius‘ XI. in diesem Jahr wird für die Beantwortung dieser und zahlreicher anderer Fragen tatsächlich einen qualitativen Sprung darstellen. Wurden 2003 gerade einmal einige hundert archivalische Einheiten (Faszikel, Büschel, Schachteln) zugänglich, so werden es ab 18. September rund hunderttausend sein. Das heißt: Vom Februar 1922 bis zum Februar 1939 stehen alle rund achtzig Nuntiaturarchive, das komplette Material von Staatssekretariat (sowohl die Korrespondenzen nach aussen, etwa mit den Nuntien oder Regierungen, als auch die internen Diskussionen), Konsistorialkongregation, Datarie, Cancelleria Apostolica sowie der Ritenkongregation – um nur die wichtigsten Bestände zu nennen – zur Verfügung. Dazu kommen die nach Ländern sortierten Serien der Kongregation für die Ausserordentlichen kirchlichen Angelegenheiten sowie deren interne Sitzungsprotokolle mit Gutachten und Voten einzelner Konsultoren und Kardinäle zu den politisch brisantesten Fragen.
Fürderhin wird man die Pogrome vom November 1938 nicht nur auf der Basis des zitierten Berichts Orsenigos behandeln müssen. Vielmehr wird die Vernetzung der unterschiedlichen Überlieferungsstränge (etwa aus den einzelnen Ländern der katholischen Welt) eher zu einem Gesamtbild des Themas beitragen. Jetzt wird man das «sicherlich» in der Eingangsfrage der Kommission beurteilen und die Frage, ob und wie Cicognani Pacelli von der öffentlichen einhelligen Verdammung des Terrors der «Reichskristallnacht» durch den amerikanischen Episkopat berichtet hat, exakt beantworten können.

Jetzt wird man endlich erfahren, ob es nur vereinzelte Stimmen gab oder ob eine Welle des Entsetzens via Nuntiaturen aus aller Herren Ländern in die römische Kurie schwappte – und vor allem, ob Kardinalstaatssekretär Pacelli diesem Thema einen so hohen Stellenwert einräumte, daß er die Kongregation für die Außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten damit beauftragte, den Papst hinsichtlich einer adäquaten Antwort Roms auf diese Herausforderung zu beraten. Auf diese Gutachten wird man besonders gespannt sein dürfen. Falls es keine Sitzung zu diesem Thema gab, spräche dieses Ergebnis auch für sich. Überdies wird man zahlreiche offene Fragen zum Verhältnis der katholischen Kirche zu den totalitären politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive der Kurie und ihrer Vertreter vor Ort durch die Archivöffnung einer Beantwortung näherbringen können: Fragen zum Verhältnis des Vatikans zum Nationalsozialismus in Deutschland, zum Faschismus in Italien, zum Franquismus in Spanien, zum Ständestaat in Österreich, zum Kommunismus in Russland oder zum Antiklerikalismus in Mexiko.

EIne handwerklich gelungene Arbeit der Archivare

Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, die hunderttausend Einheiten durchzuarbeiten und auszuwerten – so wie es schon Jahrhunderte gedauert hat, das Material des Archivs zu verzeichnen und zu inventarisieren, um es der Forschung überhaupt zugänglich machen zu können und zugleich seinen Bestand zu sichern. Dies ist dank der Tatkraft und Weitsicht von Sergio Pagano, dem Präfekten des Archivio Segreto Vaticano, trotz knapper Personalausstattung, bisher (was die handwerkliche Seite angeht jedenfalls) vorbildlich gelungen. Aber: Es handelt sich bis jetzt «nur» um den Pontifikat Pius‘ XI., noch nicht um die Akten aus der Zeit Pius‘ XII. (1939 bis 1958). Deshalb kann man die entscheidenden Fragen nach der Rolle der Kirche während des Holocausts und nach dem «Schweigen» Pius‘ XII. auf der Basis dieser Archivöffnung redlicherweise noch nicht beantworten. Es dürfte aber nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch der Pontifikat Pius‘ XII. einsehbar sein wird, wenn Benedikt XVI. der Praxis seiner Vorgänger treu bleibt – und wer () wollte daran zweifeln?

«Wir haben keine Angst vor der Veröffentlichung der Dokumente»

Die Öffnung des Archivs der römischen Inquisition und der Indexkongregation 1998, das Schuldbekenntnis Johannes Pauls II. im „Heiligen Jahr“ 2000, die vorzeitige Apertura von 2003 und die vollständige Öffnung für Pius XI. jetzt zeigen, daß Papst und Kurie entschlossen sind, sich den dringenden Fragen der Geschichte zu stellen, gemäß der Maxime Leos XIII., der anläßlich der Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs für die Forschung im Jahr 1881 formuliert hatte: «Non abbiamo paura della pubblicità dei documenti» – «Wir haben keine Angst vor der Veröffentlichung der Dokumente». Daß die Erde keine Scheibe wäre, ist ja nun schließlich seit einigen Jahren auch im Vatikan angekommen.  got

Jan 2008 | Allgemein, Kirche & Bodenpersonal, Sapere aude | Kommentieren