Vor dem Hintergrund eines globalen Verdrängungswettbewerbs entdecken auffallend viele nachdenkliche Menschen die ethischen Vorzüge des Christentums: Peter Sloterdijk prophezeit ein grausames 21. Jahrhundert. Mit Nietzsche nennt er es neo-antik, weil nun endgültig „die Wiederholung der Antike auf der Höhe der Modernität“ anstehe. Künftig, so Sloterdijk, werde ein innerweltlicher Fatalismus herrschen: Im Hier und Jetzt, am meßbaren Erfolg entscheidet sich, ob ein Leben gelingt. Die Möglichkeit eines „Rückspiels“ im Jenseits, wie es bisher vom „Balkon am Petersplatz“ aus versprochen wurde, habe keine Relevanz mehr. Das „Mitleid mit den Verlierern“, das durch das Christentum in die Welt kam, sei nicht mehr gefragt.

Der Propagandist der zynischen Vernunft, Sloterdijk, hat so  die christlichen Tugenden gewürdigt. Sein Ruf nach einer „christlichen Dämpfung“ der Kämpfe ums schönere Leben, um höhere Löhne und elastischere Körper, markiert eine Abkehr vom moralfreien Diskurs.

Als im vergangenen Jahr der Friedenspreis des Buchhandels an Jürgen Habermas verliehen wurde, warnte dieser den liberalen Staat davor, die „religiöse Herkunft seiner moralischen Grundlagen“ zu verleugnen. Ebendieses Bewußtsein vom religiösen Fundament des Staates teilt Joschka Fischer. In seinem Buch „Die Linke nach dem Sozialismus“ schreibt er: „Eine Ethik, die sich nicht auf die normative Kraft einer verbindlichen Religion stützen kann, wird es schwer haben, von Dauer zu sein.“

Wirtschaftsobjekt der Begierde

Sloterdijk, Habermas, Fischer unterscheiden sich im Rang, den sie dem Christentum zusprechen; einig sind sie sich hingegen in der Diagnose: Eine vollkommen entchristlichte Gesellschaft wäre barbarisch. Wenn kein Individuum sich dem anderen verbunden weiß durch den gemeinsamen Schöpfer, wenn niemand daran glaubt, davon redet und danach handelt, daß jedem Menschen das Heil fest zugesagt ist – dem jungen wie alten, dem männlichen wie weiblichen, dem erfolgreichen und dem erfolglosen –, dann vertrocknet die Gesellschaft zur gnadenlosen Nützlichkeitswüste. Wie aber kann die Botschaft Jesu weiter getragen werden in einer Welt, deren Hunger nach Sinn gepaart ist mit Ungeduld?

Managementmethoden in der Kirche

Die Debatte löste sich rasch von mit der Prqaxis längst belegten Behauptung, Die Kirche wolle ihre Pfarrer mit Managementmethoden bewerten. Peter Barrenstein von McKinsey verteidigte jene „Effizienzaspekte“, die sein Arbeitgeber für nicht nur die katholische, sondern auch für die protestantischen Kirche näher bringt. Hingegen gibt es längst Menschewn,  welche die „Übernahme der Kirchenführung durch Berater kritisierte“, Carl Amery geißelte die „Unfähigkeit zur Zukunft“, die den Befürwortern des „Totalen Marktes“eigen sei. Die Kirche müsse Nein sagen, wenn die neoliberale Konsensmaschine Schreckgespenste gebiert. Als mehrheitsfähig erwies sich rückblickend Friedrich-Wilhelm Marquardts Forderung nach „ehrlicher Erfolglosigkeit und hartnäckiger Abseitsstellung“.

Schon immer taten Kirche wie Gläubige sich schwer mit der Erkenntnis, daß die Geldgier die Wurzel aller Übel ist (1 Tim 6,10). Besonders lehrreich ist der Versuch Adam Müllers, den Staatshaushalt „auf theologischer Grundlage“ zu errichten. Der Romantiker Müller war 1820 davon überzeugt, dem Neuen Testament finanzpolitische Direktiven entnehmen zu können: So wie Gottvater, Christus und der Heilige Geist eins seien, müßten bei jeder menschlichen Betätigung die „drei Stücke Kraft, Werkzeug und Material“ verschmelzen. Als Werkzeug begriff er „das Volk der Arbeiter“, als Material oder Kapital „das Volk der Rentenierer“, die von ihrem Eigentum leben. Damit diese Gruppen keine Feinde werden, bedürfe es der Kraft „von oben“: „Nur durch die Religion ist das Arbeitssystem einer Nation mit dem Kapitalsysteme in Übereinstimmung zu bringen.“

Das Credo des Cabrios

Adam Müller ging von der versöhnenden Wirkung des Heiligen Geistes auf die Antagonismen einer in Arbeitgeber und Arbeitnehmer zerfallenden Gesellschaft aus – eine Ahnung solch „christlicher Dämpfung“ vermittelt heute die Tarifpartnerschaft. Damit Müller sein Denkmodell begründen konnte, mußte er aber in den Jargon seines Antipoden, Adam Smith, verfallen. Müller lehnte „ein strenges Privateigentum von Grund und Boden“ ab und definierte zugleich das Individuum primär über dessen Leistungsfähigkeit. Von der Kapitalkraft Mensch hin zum verdinglichten Wirtschaftsobjekt war es – entgegen Müllers Absichten – nur ein kleiner Schritt.

Ähnliche Gefahr droht, wenn das Lob für „Effizienzaspekte“ Anleihen nimmt beim Neoliberalismus. Solche Überlegungen mögen angebracht sein auf eng begrenzten innerkirchlichen Feldern, etwa beim zersplitterten deutschen Protestantismus, sobald aber von Kirchenseite eine öffentliche Debatte mit den Begriffen des Lean Management geführt wird, büßt die Frohe Botschaft ihre Leuchtkraft ein. Sie wird ununterscheidbar, wenn über sie im Stile eines Produktes geredet werden kann. Die Produkt- und Werbesprache ist die schlechthin substanzlose Rede und borgt sich den Schein des Wesentlichen bei der Religion: Ein Damenrasierer „weckt die Göttin in Dir“, ein Cabrio ist ein „Tempel für den Gott des Windes“, ein Mobilfunkbetreiber verspricht Transzendenz, „es sollte keine Grenzen geben, die uns unsere Möglichkeiten nehmen. Wie frei sind  S i e ?“

Freiheit bedeutet laut Viag Interkom, „alles zu tun, was man tun möchte“. Klarer hat sich die werbetreibende Industrie bisher nicht zur neo- antiken Grausamkeit bekannt. Der Persilschein für Egoismen jeder Art ist das Resultat, wenn die christlichen Vorbehalte fallen. Der alte Mann aus dem Petersdom weiß, daß er Fels sein muß und kein Fähnchen im Winde, um den Ideologien des Machbaren entgegenzuwirken; er weiß, daß Gott der einzige „Macher“ seiner Schöpfung ist; er hat erkannt, was die Stunde schlägt.

Paul Tillich nannte spezifisch protestantisch jene Hartnäckigkeit, die Johannes Paul II. praktiziert: Er verkündet radikal die „menschliche Grenzsituation, die erreicht ist, wo die menschliche Existenz unter die unbedingte Bedrohung gestellt ist.“ Die Zeit ist gekommen.

„Die Zeit ist gekommen“? – aber wofür?

In jährlichen Beurteilungsgesprächen soll jedem Pfarrer (vom Dekan erst mal, oder?) auf den Zahn gefühlt werden. Ziele für das kommende Jahr sollen festgelegt, „Fördermaßnahmen“ empfohlen und die Ergebnisse in standardisierter Form festgehalten und zentral gespeichert werden. Es geht dabei um Existenzsicherung: Wie verkauft sich der Pfarrer in der Öffentlichkeit? Wie entwickeln sich das Spendenaufkommen und der Gottesdienstbesuch, die Kirchenaustritte und Neueintritte, wie ist der Saldo? Wie im Fernsehen zählt die Quote, wie im Marketing geht es ums Image.
Der Kampf gegen die katholische Autoritätshörigkeit – etwa der Kirche von unten – könnte ein Klima für kritische, emanzipierte Geister fördern, sind  doch „Richtlinien“ von oben alleweil als die Spitze einer Entwicklung einhergekommen, die sich als ökonomistische Revolution von oben entpuppt haben.
Längst gibt es nicht nur Marketingstratege, sondern auch Sozialethiker, welche die Kirche zu „totalem Kundenkontakt“ aufgefordert haben. Die Kirche müsse ihre „Unternehmensziele“ klarer bestimmen und sich entscheiden, ob sie als „Anbieter auf dem Sinnstiftungsmarkt“ die Nummer Eins bleiben oder „als Nischenanbieter Profil gewinnen“ wolle. Das „Unternehmen Kirche“ solle „kämpfen um Kundinnen und Kunden“ und die „Markt- und Meinungsführerschaft anstreben, auch wenn dies gerade nicht in die langfristige Ökumenediplomatie paßt“ – nein, Sie haben was Wunder richtig gelesen, von Ökumene war da nicht die Rede, denn da verhält sich katholische Amtskirche ja genau so.

Nadelstreifentheologen fordern eine „Corporate Identity“ der Kirche

Das war vor ungefähr fünf Jahren. Seitdem krempeln sie die Kirche um, fordern eben diese „Corporate Identity“ der Kirche und die „Konzentration aufs Kerngeschäft“. Und wenn es einem Pfarrer einfach nicht gelingen will, Busineß und Kirche gedanklich zusammenzubringen? Dann wird es befohlen. Zwischen oben und unten besteht mehr denn je ein Machtverhältnis, und wer die Macht hat, der hört nicht zu, sondern ordnet an und degradiert den Pfarrer zum Untertan, oder läßt – Christen, hört die Signale – „mit dessem freien Willen“ (sic) einen Dekan wieder Pfarrer werden).

Viele Dekanate und Bistümer und Landeskirchen gehen jetzt mit sehr viel Eifer daran, Logos zu erfinden und einheitliche Briefköpfe auf einheitliches Briefpapier zu drucken – Pfarrer spielen Unternehmenskultur. Vor allem die jungen spielen gerne mit, was nicht weiter verwundert, weil das Erfinden von Logos natürlich viel mehr Spaß macht, als eine kranke Oma zu besuchen, die leise und langweilig vor sich hinredet.

Herumkaspern bei kreativem Gestalten

Mit den Sitzungen, auf denen die Logo-Bastler ihre Kreativität austoben, läßt sich das Studentenleben in das Berufsleben hinein verlängern. Dieses gemeinsame Herumkaspern beim kreativen Gestalten, diese themenzentrierte Interaktion mit ihren gruppendynamischen Prozessen, erspart den Jungpfarrern den Praxisschock in der Gemeinde. Ohnehin scheut der Nachwuchs die Gemeindearbeit, trachten doch viele Jungpfarrer danach, ihre Zeit in der Gemeinde so kurz wie möglich zu halten und rasch in eine schicke Stabsstelle, in die Öffentlichkeitsarbeit oder ins Management zu entkommen. Früher, das war gestern. Heute wird an der PR,  dem Erscheinungsbild und an
corporate-identity-orientierten Pfarrer gearbeitet.

Auch Gottfried Benn verbrachte seine Kindheit in einem Pfarrhaus. Als er lange schon mit dem Christentum gebrochen hatte, dachte er noch dankbar zurück an die „moralische und intellektuelle Erbprägung“, die er dort erfahren hatte. Wehmütig erinnerte er sich an seine Erziehung im Schatten der riesigen Linde, des Flieders, der Akazien und des Faulbaums, die vor dem elterlichen Pfarrhaus standen. Woran werden sich heutige Pfarrerskinder später einmal erinnern? An ein Pfarrhaus, in dem die Stechuhr regiert? An einen Pfarrgarten, in dem auf jedem Baum ein Controller hockt? An die jämmerliche Außenstelle einer verknöcherten Behörde namens Kirche? Wehmut aber wird die Erinnerung an diese willkürlich von oben zerstörte Institution kaum noch begleiten.

Das Pfarrhaus wird von allen möglichen Leuten zu jeder Tages- und Nachtzeit als Serviceeinrichtung betrachtet. Nicht die Kirchenleitung betrachtet es so.

Die Kirche heute ist nicht mehr die Pfarrerskirche von gestern. Die Anforderungen an Pfarrer und Pfarrerinnen sind rapide gewachsen. Selbstbewusste Haupt- und Ehrenamtliche arbeiten im Team mit. Das führt mitunter zu ungeklärter Berufsidentität bei einigen Pfarrern: Wer bin ich in diesem Team? Ich bin Seelsorger und Dienstvorgesetzter zugleich, bin Wortverkündiger und Mitglied im Kirchenvorstand, den ich leiten soll, in dem ich aber auch nur eine Stimme habe. Die meisten von ihnen leisten vorzügliche Arbeit. Aber die Anforderungen sind oft größer als die Kräfte.

Dann noch (kurzer Blick nach Heidelberg) Weinheim als Dekan mit  „übernehmen“ zu sollen (wie der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch vom Dekan der Kirchengemeinde Heidelberg Klaus von Zedtwitz gerade gefordert hat, um ihn (den Verweigerer des „Treue-Eides und Befürworter von Donum Vita) loszuwerden – er ist jetzt in Mannheim als Pfarrer hoffentlich gut aufgehoben – also, wer zuerst Seelsorger statt Verwalter sein will, der kann dies nicht leisten! Und nicht wollen. Was natürlich auch jener Erzbischof genau weiß …  (Der Fall Zedtwitz)

Und die Evangelen?

Der hessische Pfarrerverein hat kürzlich eine Befragung seiner Pfarrer und Pfarrerinnen durchgeführt, um deren Zufriedenheit mit ihrer Arbeitssituation zu erkunden. Das Ergebnis: Die überwiegende Mehrheit zeigte sich trotz hoher Belastung mit der vielfältigen Gemeindearbeit zufrieden, äußerte jedoch deutlichen Unmut über manche kontraproduktive Aktionen der Kirchenleitung. So werde etwa mit deren Image-Kampagne ein fatales Bild von Kirche erzeugt, für das dann die Pfarrer und Pfarrerinnen den feixenden Menschen in den Gemeinden Rede und Antwort stehen müssen. Der jetzige Bischof von Hessen-Kassel, Martin Hein, hat beispielsweise noch als Dekan einen Kinospot mit verantwortet, bei dem auf der Brustwarze eines jungen Mannes ein gepierctes Kreuz gezeigt wurde, wozu die message ertönte: „Die Zeiten haben sich geändert. Evangelische Kirche in Kassel!“ Das solchermaßen umworbene Publikum brach in schallendes Gelächter aus.

Für die Kinos von vierzig badischen Städten wurde im oberkirchenrätlichen Auftrag ein 35-Sekunden-Spot produziert, der Jungwähler an die kirchlichen Wahlurnen locken sollte. Das Filmchen zeigt ein junges Mädchen, das bei einem Ausstellungsbesuch plötzlich einen Magendruck verspürt. Vor Schmerz gekrümmt, legt sie sich auf den Boden und läßt geräuschvoll einen Furz ab. Daraufhin skandiert die Darstellerin: „Mehr als heiße Luft – die evangelische Jugend geht wählen.“ Bei der Präsentation des Werbespots erklärte der für solche Kampagnen besonders anfällige Landesbischof Ulrich Fischer, er halte es „für gut, daß auf originelle Weise geworben“ werde. Der Sprecher der produzierenden Werbeagentur sagte, er habe sich gewundert, daß die Kirche diesen Spot-Vorschlag auf Anhieb akzeptierte.

Die christliche Botschaft der Vergebung und Hoffnung ist ebenso zeitlos wie einzigartig: „Wir können nicht tiefer fallen als in die Hände Gottes.“

Christliches Gedankengut hat unser Weltbild geprägt, die Zehn Gebote und die Gleichnisreden bilden die Textur unseres Kultursystems. Wie kommt es dann, daß die Außendarstellung unserer Kirche, aber auch die innerkirchlichen Diskussionen so oft geprägt sind von Verzagen und Hilflosigkeit? Erfolgreiche Unternehmen begeistern ihre Mitarbeiter mit Visionen und schaffen herausragenden Nutzen für ihre Kunden. Als Christen haben wir diese Vision schon längst: das Evangelium, das es mutig, vorwärtsgerichtet und pointiert zu verkündigen gilt.

Angesichts des häufigen Vorwurfs der Beliebigkeit und Profillosigkeit sollte sich die Kirche bewußt auf Kernkompetenzen wie Glaubensvermittlung, Missionierung, individuelle Seelsorge und soziale Leistungen konzentrieren. Umgekehrt bedeutet dies, außerhalb dieser Kernkompetenzen liegenden Tätigkeiten aufzugeben: Sprach- und EDV-Kurse sind ebenso mögliche „Streichkandidaten“ wie Stellungnahmen zu jedwedem Thema der Tagespolitik.

Karl Barth schrieb 1916: „Es ist eine wundervolle Illusion, wenn wir uns damit trösten können, daß in unserem Europa neben Kapitalismus, Prostitution und Militarismus die kirchliche Verkündigung ihren unaufhaltsamen Gang geht. Noch sind wir Christen – eine wundervolle Illusion, aber eine Illusion! Was soll all das Predigen, Taufen, Konfirmieren und Orgeln? All die , sittlich-religiösen Ratschläge‘, die Gemeindehäuser mit und ohne Projektionsapparat.“ Später ergänzte er: „Wir brauchen tüchtige Pfarrer, aber nicht geschäftstüchtige. Die Verwaltung des Wortes ist kein Geschäft, und wenn es noch so glänzend ginge. Die Tüchtigkeit wird sich zu erweisen haben in Situationen, in die in Geschäften nur Untüchtige kommen: in Erfolgs- und Wirkungslosigkeit, in schwerster Isolierung, in negativen Abschlüssen, vielleicht bis zum Lebensende.“

Eine Illusion ist es jedenfalls, so zu tun, als lebten wir heute in einer „veränderten Gesellschaft“ und als hätten die „modernen Menschen“ eine ganz andere Auffassungsgabe für das Evangelium als die Menschen früherer Generationen. Die Jagd der Evangelischen Kirchen dem „modernen Menschen“ hinterher war bisher immer, ob 1933 oder 2002, ihre bornierteste Selbsttäuschung. Martin Luther hielt dagegen: Das Evangelium findet seine Hörer nicht vor, sondern schafft sie sich. Liebe Evangelische Kirche, lerne bei deinem Lehrer!

Statt unablässig an ihrem eigenen Weiterreden herumzubasteln, sollte die Kirche eine Schule des Hörens kultivieren, des Hörens auf die Bibel und des Hörens auf die Menschen. Sie braucht tatsächlich einen „anderen“, nämlich den ihr eigenen Geist, keine Ersatz-Systeme an dessen Stelle. Vor allem aber, liebe evangelische Kirche: Sorge dafür, daß deine Pfarrer „glaubwürdige“ Menschen bleiben oder werden können – solche, die selbst dem Herrn glauben, den sie predigen. Seelsorge an den Seelsorgern ist die einzige Aufgabe für eine Kirchenleitung. Dann hat’s keine Not.

Religion hat es schwer. Sie war mal für den Glauben, für Seele und Sinn verantwortlich.

Im Fernsehen läuft derzeit eine Werbung, die festhält, was geschehen ist: „Nutella ist für die Seele.“ Eine Nussnougatcreme erklärt sich für die Seele zuständig. Ferrero folgt damit ebenso dem Credo des kundenorientierten Handelns wie die Kirche selbst. Um den Jargon der Leitung einer evangelischen Landeskirche aufzugreifen: „Welche Ziele nehmen wir uns vor?“, fragen die Theologen dort und wollen ermitteln, „welchen Gewinn die Kunden in dem jeweiligen Angebot sehen“, was wiederum eine „Erfassung von Erfolgen und Veränderungsnotwendigkeiten durch standardisiertes Berichtswesen“ erforderlich macht. Unschwer lässt sich erkennen: Gute Theologen sind Unternehmensberater.

Robert Musil sprach von einer „Großindustrie des Geistes“ und meinte genau das: Nutella und den neuen Kirchen-Management-Jargon. Die Kirchen sind Großindustrien des Geistes geworden, in Amerika noch mehr als hierzulande. „Religion ist Geld“, sagte mir ein Anwalt in Los Angeles; Kirchen funktionierten eben wie andere Geschäfte auch. Die fatale Vereinigung von Kohlenpreis und Seele, von der Musil sprach, ist Wirklichkeit geworden. Die Kirchen wollen nun endgültig zum Hochtheologiekonzern werden. Männer ohne Kirchen-, aber mit McKinsey-Eigenschaften sind die geistigen Führer, die Firmen und Kirchen gleichermaßen den Erfolg verheißen.

McKinsey hat Sendungsbewusstsein. Marvin Bower, legendärer Nachfolger des Gründervaters James Oscar McKinsey hatte durchgesetzt, daß in Bezug auf McKinsey nur noch von der „Firma“ gesprochen wurde. Und Rajat Gupta, Weltchef der „Firma“, bekannte, daß es das Ziel von McKinsey sei, in jeder wichtigen Volkswirtschaft entscheidenden Einfluss zu haben. Wenn man bedenkt, daß die Kirche bislang das globalste Unternehmen mit der längsten Beratungserfahrung war, wird man das Gefühl nicht los, es bei McKinsey mit einer konkurrierenden Religion zu tun zu haben, mit einer Bruderschaft, einer Art Geheimbund derer, die in Wirtschaft, Finanzen und Unternehmen weltweit bestimmen.

Business Week sprach von den Jesuiten der Wirtschaft. McKinsey gilt als das päpstlichste Unternehmen, wenn es ums Rechnen und Rationalisieren geht. Dabei vernachlässigt McKinsey systematisch die so genannten weichen Faktoren. McKinsey kann sparen, erreicht aber keine Steigerung der Leistung, und das wäre ja das eigentliche Ziel einer nachhaltigen Beratung. Die Frage ist: Wussten das die Kirchen, die bereit sind, viel Geld auszugeben für eine Beratung, die leider nicht im doppelten Sinn „teuer“ ist?

Psychotherapeuten werden oft als die säkularisierten Beichtväter bezeichnet. Analog dazu sind Unternehmensberater die spirituellen Führer und Fundamentaltheologen einer von Wirtschaft dominierten Gesellschaft. Unternehmensberater und Theologen konkurrieren auf einem zum Verwechseln ähnlichen Feld: Sie sind mit Blick auf das so genannte Letzte Erzkonkurrenten. Das Wesen dieser Konkurrenz scheint mir theologisch nicht wirklich begriffen zu sein.

Mit der Übernahme der Kirchenführung durch Berater – man spricht heute von Visionsmanagement – wird ein verräterisches Signal gesetzt. Die Denkhoheit in Sachen Weg und Ziel gehört damit weithin sichtbar nicht mehr den Theologen, sondern den Technokraten. Sie definieren Ziele und kontrollieren die Wege. Controlling, die McKinsey-Königsstrategie, wird zum Maß allen Handelns der Kirche, also der Gemeinschaft der Gläubigen. Indem McKinsey den Kirchen entscheidende Ratschläge gibt, haben die Unternehmensberater ihr Ziel, Marktführer auch des Sinngeschäftes zu werden, erreicht. Ihre implizit religiöse Rede, der theologische Unterton ihrer Beratung wird durch die Kirche selbst, die ihren mental-strategischen Bankrott eingesteht, symbolisch abgesegnet.

Damit gerät die Besinnung auf eine dem eigenen Anspruch nach unüberbietbare Botschaft in arge Bedrängnis. Was soll Erfolg bedeuten, wenn doch der Glaube etwas ist, mit dem ein Leben lang gerungen werden muss, weil es um Verlässlichkeit auch angesichts des Todes geht? Wie sehen Produktverbesserung, Erfolgsüberprüfung und Qualitätssicherung aus, wenn es um Unbedingtes geht?

Sicher hilft Beratung, die strategische Blauäugigkeit der Kirchenmanager in den Griff zu bekommen und etwa eine verantwortungsvollere Personalführung zu entwickeln. Doch scheint die Grenze überschritten, wenn eine Unternehmensberatung zentrale Ziele der Kirche außer acht lässt oder umdefiniert. Denn das Ziel einer Unternehmensberatung kann nur Vorletztes sein, nicht aber jener Weg, der laut kirchlichem Credo der Weg Gottes in der Geschichte ist.

McKinsey ist auf verräterische Weise geschickt. Im Statement des Managers Peter Barrenstein erscheint Religion lediglich als „Textur unseres Kultursystems“. Mit dieser Strategie, Religion in Kultur aufgehen zu lassen, wird Religion gänzlich ausgehebelt. Nicht nur das: McKinsey kann sich aufgrund des „Tertium Datur“, des scheinbar gemeinsamen Feldes der Kultur, als den Theologen ebenbürtig und damit am Ende als technisch überlegen erweisen. Außerdem suggeriert Barrenstein mit seiner Behauptung, „komplexe Strukturen gehören im kirchlichen Bereich noch zur Alltagsrealität“, daß jetzt eine Phase der Reduktion von Komplexität angemessen wäre. Aber war das nicht, Luhmann zufolge, das Kerngeschäft von Metaphysik und Religion, nicht aber jenes der Unternehmensberatung?

Kirche muß wieder mutig werden

Vermutlich greifen in der Diskussion um den seelsorgerischen Weg der evangelischen wie auch der katholischen Kirche alle Gesprächspartner, die „Traditionalisten“ wie die „Rationalisierer“, erheblich zu kurz. Man spielt auf einem engen Pingpong-Tisch, während Diagnose wie Therapie auf einem weiten historischen Schlachtfeld gesucht werden müssen.

Es gibt ein Fragment von Walter Benjamin aus dem Jahr 1921 mit dem Titel „Kapitalismus als Religion“. Diese zweieinhalb Seiten sind das Profundeste, was bisher über das Thema aufzufinden ist. Der Text ist schwierig, aber seine Folgerungen sind ein Dreivierteljahrhundert später evident. Man nennt den vollreifen Kapitalismus von heute den Totalen Markt, und sobald man diese Perspektive einnimmt, entdeckt man an diesem Totalen Markt fast alle Kriterien des Kaiserkults im späten Rom. Er war, ebenso wie der Totale Markt, transzendenzarm bis transzendenzlos; er bestand lediglich auf seiner Allmacht, seiner Alternativlosigkeit: TINA – There is no alternative.

TINA ist die Formel, die heute von Francis Fukuyama und allen Wirtschaftsjournalisten in die Welt posaunt wird. Hinter der scheinbaren Toleranz dieses Marktes, der Sekten und Event-Kirchen jeder Art begrüßt, entwickelte sich allerdings eine totalitäre Seelsorge, die man gemeinhin als Konsumismus bezeichnet. Hier liegt der zentrale Sorgenpunkt der Kirchen. Die Wirkungen dieser Seelsorge sind so fundamental, daß man von einer Seelenentsorgung der Massen, einschließlich der statistischen Normalchristen sprechen kann. Wer nach Belegen hierfür sucht, der lese das Büchlein „ Generation Golf“ des jungen Herrn Illies und bestaune die selbst gewählte Amputation aller politischen, sozialen, moralischen Gliedmaßen.

Die Reichsreligion des Geldes

Das also ist der Tatbestand: Die traditionellen Kirchen stehen einer Zentralmacht gegenüber, für die der alte konstantinische Pakt zwischen Thron und Altar nichtssagend geworden ist. Solange die TINA-Formel anerkannt wird und solange der Markt seine Seelsorge unbekümmert betreiben kann, sollen die Kirchen ruhig als Teil des Kulturbetriebs weiterwursteln. Und der Markt kann davon ausgehen, daß weniger schwierige, mit stärkeren Drogen angereicherte Kulte die alten Traditionen überflügeln und überflüssig machen werden. Die Prognose glaubt an ein spektakuläres Wachstum von Freikirchen und sektiererischen Angeboten, an ihre Verdopplung in den nächsten 40 Jahren von 500 Millionen auf eine Milliarde, während die alten verfassten Kirchen ihre statistischen Bestände höchstens halten können. Besonders schlecht sind die Aussichten für den Protestantismus.

Was ist also zu tun? Die schlichte Wahrheit lautet, daß die Verkündigung kraftlos bleiben wird, wenn sie nicht den einen Schwerpunkt, die entscheidende Blindheit des fundamentalistischen Marktes, aufdeckt und bekämpft: seine Unfähigkeit zur Zukunft.

Der Totale Markt ist schlichtweg der Weg in die Abschaffung der Zukunft. Alle Parameter deuten darauf hin, daß es ihm unmöglich sein wird, eine Methode zur Rettung der Lebenswelt zu finden – schon weil seine Theologie, die zünftig eingespielte Wirtschaftswissenschaft, außer Stande ist, ein plausibles Schrumpfungsmodell zu entwerfen. Artensterben, Klimawechsel, Erschöpfung der Bodenfruchtbarkeit, demographische Entwicklung: Die blutige Ironie ist, daß der Totale Markt auch für diese äußersten Wahrscheinlichkeiten keine Alternative anzubieten hat. Seine finale Logik ist die resignative Akzeptanz, wenn nicht der Heroismus des kollektiven Selbstmords.

Hier wird’s für die Kirchen als die ältesten Hüter der judäisch- christlichen Perspektive, die Verkünderinnen verbürgter Hoffnung, äußerst interessant: Wenn der Menschheit der Untergang aus dem Verfall ihrer demütigsten materiellen Lebensbedingungen droht – aus Bodenbeschaffenheit, Wassermangel, der Zusammensetzung und der Temperatur der Atemluft –, sind die Kirchen dann nicht aufgerufen, hier nicht nur zu warnen, sondern aktiv zu widerstehen? Oder verharren sie dabei, „Heils“-Geschichte abgehoben von Lebens- und Naturgeschichte zu verkünden? Zumal dann, wenn die Reichsreligion, also der Totale Markt und seine Seelsorge, so offensichtlich auch zur Verwüstung der Seelenlandschaften, zum klaffenden, zynischen Unrecht zwischen Arm und Reich führt?

Aufstehen, nicht mitmachen!

Im Früh- und Hochmittelalter stellten die Kirchen sich einer gewaltigen zivilisatorischen Aufgabe, die durchaus heilsgeschichtlich gemeint war. Sie haben die Bewohnbarkeit Europas für eine große Menge von Christenmenschen als Pionierleistung vorangetrieben. Und sie sollten sich klar werden, daß heute mehr auf dem Spiel steht als damals. Tausende, ja Hunderttausende christlicher Aktivisten haben das ja auch längst begriffen. „Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ – in diesem Leitwort des sogenannten konziliaren Prozesses haben sie sich zu ökumenischer und zivilgesellschaftlicher Aktion zusammengefunden: ATTAC wird vom Ökumenischen Rat der Kirchen unterstützt und wurde von der katholischen Pax Christi mitbegründet; und der Kardinal Tettamanzi zog schon eine Woche vor dem berüchtigten Gipfel mit seinen jungen Freunden durch Genua, mit genau den Forderungen, die dann von der Internationale der Globalisierungskritiker erhoben wurden.

Was würde geschehen, wenn sich die Kirchen vernehmbar und in erkennbarer Praxis dem Weg in den kollektiven Selbstmord, der Alternativlosigkeit des Totalen Marktes widersetzen würden? Es gibt recht klare Indizien dafür, etwa das Schicksal der Befreiungskirchen in Lateinamerika. Und es wäre naiv, anzunehmen, daß das zurückschlagende Imperium hierzulande, in den Fleischtopfkulturen, zimperlich vorginge, wenn die Kirchen zu deutlich würden. Aber genau das darf für christliche Kirchen überhaupt kein Entscheidungskriterium sein.

Natürlich würde ein solcher Kurs den Sturz der Kirchenaktien an den Meinungsbörsen zunächst beschleunigen. Aber es hat keinen Zweck, aus Angst vor den Minen ringsum den Exodus aufzuschieben; stehen zu bleiben, wo man steht, und so todsicher zu verhungern. Klüger, auch in einem weltlichen Sinn, ist es, aufzustehen, wieder das Zeichen unter den Völkern zu werden und dem zynisch akzeptierten, als alternativlos verkündeten Untergang die Stirn zu bieten.

Die Theologie ist längst dahin unterwegs, das wissen die Verantwortlichen auch; sie wird vorläufig, solange sie die verbliebenen Sonntagskirchgänger verschrecken könnte, auf Eis gelegt. Sonst könnten die Kirchen womöglich als Verbündete des Umsturzes begriffen werden – wie die Befreiungstheologie im so genannten Rockefeller-Bericht der sechziger Jahre und im Santa-Fe-Papier von 1979, angefertigt für Ronald Reagan. daß die christliche Botschaft der Evangelien und der authentischen Paulus-Briefe nichts anderes war, ist kaum zu leugnen – auch wenn der riesige Block der Jahrtausende seit Konstantin uns lange genug getrennt hat. Das Christentum wird dann auch für das naive Auge klar erkennbar sein, weil es seine „Kernkompetenz“ wieder gefunden hat.

Und die Bergpredigt?

Wäre die Bergpredigt die Bergpredigt, wenn Jesus eine Unternehmensberatung damit beauftragt hätte, für sie ein Marketing-Konzept zu entwickeln? Wäre ihr „Selig sind, die Frieden stiften“ oder ihr „Selig sind die Barmherzigen“ dann seit zweitausend Jahren in aller Munde und womöglich in noch mehr Herzen? Wäre die Goldene Regel, jenes „Was du willst, das man dir tu, das tu du anderen“, dann in der Geschichte sichtbarer erfüllt worden? Die Frage ist genauso kitzlig wie jene, ob die Bergpredigt die Bergpredigt geworden wäre, wenn Jesus für sie einen Landesbischof oder Kardinal als Ghostwriter zu Rate gezogen hätte.

Aber um was geht es dann? Es geht um die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zur Wirtschaft. Und zwar in dem Sinne, wie sich die Kirche zu dem modrig-kalten Mehltau des auch sie selber erfassenden Ökonomismus verhalten soll. Da ist die Frage, wie weit Mutter Kirche, die von sich selber sagt, sie sei der größte Arbeitgeber nach Vater Staat, als Unternehmen unter die Lupe genommen werden darf, schnell abschlägig beantwortet. Doch es wäre zu einfach, nach dem Motto zu verfahren: Wer für alles und jedes offen ist, kann nicht ganz dicht sein.

Stets hat sich nämlich die Kirche der Erkenntnisse und Errungenschaften der jeweiligen Zeit bedient. Man denke etwa an die Verbindung von Reformation und Buchdruck. Die Reformatoren nutzten entschieden die neue Technik, um ihre Botschaft zu verbreiten. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Verhältnis der Theologie zur Psychologie zu klären war, verweigerte man sich ebenfalls nicht. Psychologische Erkenntnisse wurden und werden in der Kirche bis heute zu Hilfe genommen, um anderen zu helfen – etwa in den kirchlichen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen; aber alle Psychologie kann die christliche Botschaft nicht ersetzen.

Analog dazu gilt: Die Kirche handelte wider besseres Wissen, prüfte sie die Erfahrungen der Wirtschaftswissenschaften nicht auch im eigenen Laden. Das hat sie schon immer getan. Notwendig ist eine solche Prüfung, weil sich auch in der Kirche manche gewachsenen Strukturen verwachsen haben. Mich jedenfalls interessiert die gesicherte Antwort einer Unternehmensberatung durchaus, welchen Sinn es haben soll, daß eine Landeskirchengrenze das Ruhrgebiet zerteilt.

Religionslehrer begegnen heute in der Regel mehr Kindern und Jugendlichen als die Pfarrer in den Kirchengemeinden. Da kann die qualifizierte Beantwortung der Frage, wie sie in ihrer Arbeit noch besser unterstützt werden können, schnell spielentscheidend werden. Auch wer den Terminkalender eines Bischofs kennt, der sich oft strenger zeigt als die Knute des Pharao, sehnt sich nach sachkundigen Vorschlägen für die Abschaffung von Doppelstrukturen.

Die Philosophie unterscheidet „notwendig“ von „hinreichend“. Alle noch so sachverständige Beratung über Unternehmensziele, Wirtschaftlichkeit und Marketing reicht nicht aus, wenn es ans Eingemachte geht. Genau an dieser Stelle hat die Kirche keine Möglichkeit, sich „von Außen“ Rat zu holen. Hier beginnt für sie die Arbeit: Was bedeutet der Glaube in einer Zeit, in der viele der Volksaktie hinterherlaufen und nicht mehr der Volkskirche? Wo vielfach der erste Blick den Wertpapieren gilt, hat sie zu fragen, welche Werte sie vor dem Hintergrund ihrer Jahrhunderte währenden Erfahrung und in Verantwortung vor ihren heiligen Schriften diesem Trend entgegensetzt. Diese Fragen darf sie auf keinen Fall deligieren.

Was ist eigentlich der Auftrag der Kirche in der Welt? Das beantwortet ihr kein Unternehmensberater Barrenstein, wenn er der Kirche den Zölibat in politischen Dingen verordnet. Das beantwortet ihr auch kein Schriftsteller Amery, wenn er den zentralen Verkündigungsauftrag der Kirche im Kampf gegen die Ökonomie sieht (SZ vom 3. April). Das beantwortet ihr auch kein Landesbischof Friedrich, wenn er sich über die Soziologie des Pfarrhauses ausläßt .

Dröhnendes Erz, lärmende Pauke

Der Auftrag der Kirche sei es nicht, die Welt zu verändern, wenn sie aber ihren Auftrag erfülle, verändere sich die Welt, hat Carl Friedrich von Weizsäcker einmal gesagt. Das hört sich geheimnisvoll an, wird aber klarer, wenn man die Bibel zur Hand nimmt: Sie ist in gleicher Weise ein Buch voller Lebensweisheit und Erlösungsnachricht. Dort werden Fragen besprochen, die im Callcenter ebenso unbeantwortet bleiben wie in den Talkshows. Wer einmal gehört oder gelesen hat, was Paulus im 1. Korintherbrief, Kapitel 13, über die Liebe sagt, der nimmt anderes mit als die „Wa(h)re Liebe“ im Fernsehen je zeigen kann. Viele haben das billige Toastbrot gründlich satt, das für alle Lebensfragen und in allen Lebenslagen feilgeboten wird. Die schnelle Antwort sättigt nicht, wenn es ans Wesentliche geht: Warum ich? Woher kommt das Schwere in meinem Leben? Woher das Leid in der Welt? Was bleibt? Worauf ist Verlass? Das sind einige der Fragen, auf die die Kirche antworten soll und gute Antworten hat.

Dabei geht es ihr nicht um die eigene Zukunft – die Flurbereinigung im eigenen Haus steht hinten an. Da nützt alle Unternehmensphilosophie nichts mehr und letztlich auch alle Sozialarbeit nichts, was einzusehen den Verantwortlichen der Kirchen besonders schwer fällt. Da geht es lange nicht mehr um römisch oder protestantisch, um anglikanisch oder orthodox. Da ist das Ziel nicht mehr die volle Kirche, sondern befreite Menschen, die ihr Glück nicht dem Zufall und ihre Freiheit keiner Aktie, keiner Partei, sondern Gott selber verdanken. Darauf hinzuwirken ist der Auftrag der Kirche in einer Zeit, in der Freiheit das wohl am häufigsten verwendete, missverstandene und missbrauchte Fremdwort ist. Thomas von Aquin hat es mit dem Lebenswort umschrieben: Wer über den Augenblick herrscht, der herrscht über das Leben. Mit einem solchen Wort im Rücken, hat die Kirche jede nur denkliche Freiheit, auch die, der Ökonomisierung aller Lebensbereiche gelassen und wirksam zugleich zu begegnen.

Ihm ginge es lediglich um die Einsicht, notiert er, daß die Kirche „nicht mehr der privilegierte Sinnvermittler“ sei, und er zitiert das Schlüsselwort der Ökonomie: Sie befinde sich neuerdings „im Wettbewerb“, sei „heute nicht mehr selbstverständlich“ und müsse sich daher den veränderten Bedingungen anpassen, zeitgemäße Servicestrukturen einrichten oder jährliche Personalförderungsgespräche ansetzen (SZ vom 19. Februar). Als ob die Kirche je anders agiert hätte als in dem Bewusstsein, gerade nicht selbstverständlich zu sein und sich stets auseinandersetzen zu müssen mit mächtigen sinnstiftenden Institutionen, sei es die spätantike Gnosis, die Astrologie der Renaissance, die Geheimbünde des Absolutismus, das vornazistische Geraune der Jugendbewegung.

Um einen Platz in dieser Welt, um Gehör bei den Menschen musste die Kirche schon immer kämpfen, und sie täte gut daran, das als ein unveränderliches Los anzunehmen. Wer sich auf jemanden beruft, von dem es im Testament seit seiner Geburt heißt, daß er keinen Raum in der Herberge fand, daß Vögel ihre Nester, Füchse ihre Bauten haben, er aber keinen Ort besitzt, wo er sein Haupt hinlegen könne, wer seine Existenz auf einen Menschen gründet, dessen besondere Heimatlosigkeit besiegelt wurde damit, daß er aus dieser Welt vertrieben wurde und ans Kreuz genagelt, der muss sich nicht wundern, daß seine Bemühungen, von dieser Welt als brauchbar akzeptiert zu werden, nicht reibungslos verlaufen.

Killeraplikation Mensch

Der Hinweis auf eine angeblich neue Konkurrenzsituation für die Kirche ist als Rechtfertigungsgrund willkürlich herbeigezogen und taugt kaum als Argument für betriebswirtschaftliche Veränderungsanstrengungen. Die entscheidende Frage lautet nicht, wie man „Vorgehensweisen erfolgreicher Unternehmen für die Kirche nützlich macht“ (Peter F. Barrenstein in der SZ vom 8. März). Nicht die Kirche hätte von der Wirtschaft zu lernen nach irgendeinem Best-Practice-Modell, sondern die Ökonomie von der Kirche. Wer hier Anpassung fordert, und sei es auch nur eine Adaption der Strukturen an moderne Management-Instrumente, der verkennt, daß diese einer Ideologie gehorchen, zu der schon die Existenz der Kirche einen Widerspruch darstellt. Nicht das ist der Leitgedanke, „mit möglichst wenig Mitteleinsatz das bestmögliche Ergebnis“ zu erzielen, wie es in schönster Berater-Manier klingt. Vielmehr kommt alles darauf an zu verstehen, daß eine bestimmte Ineffizienz, Umständlichkeit und Umwegigkeit zur praktischen Konsequenz einer lebensweltlichen Botschaft gehören, die das Misslingen gerade nicht als „Killerapplikation“ betrachtet, sondern als den Ort, an dem sich Menschen als menschlich erweisen sollen, weil der Gott, von dem die Rede ist, sich als ein Liebender vorstellt, der es im Äußersten ausgehalten hat. Die Kirche ist eine Spezialistin des Scheiterns und identifiziert dieses – wider alle ökonomische Vernunft – als Inbegriff eines geglückten Anfangs. Wie sollte man sonst erklären, daß der Tod eines Menschen am Kreuz als Grund bezeichnet wird für die Lebendigkeit des Menschlichen?

Nun wird darauf verwiesen, daß ein Umbau von Organisations-Strukturen noch keinen Angriff auf die Sache selbst darstelle. Der Hinweis freilich ist so trivial wie falsch. Nicht erst der Berliner Philosoph Hegel, der von den theologischen Geheimnissen offenkundig mehr verstand als die meisten Pfarrer, hat darauf aufmerksam gemacht, daß Formen nichts Äußerliches sind, die man verändern könnte, ohne den Inhalt zu berühren. An den Symbolen sollt ihr sie erkennen. Es ist ein Unterschied im Ganzen, ob man von Effizienz spricht statt von Erleichterung, von Systemen redet statt von Personen, ein Logo in den Vordergrund stellt statt das Kreuz, den Erfolg zum Kriterium erhebt statt das Scheitern als ein Gottesprädikat zu verstehen. Wo es um den Geist einer Sache oder Institution geht, versagen die Methoden.

Bei Zeus in die Schule gehen

„So viele Worte in einer großen Stadt in jedem Augenblick gesprochen werden, um die persönlichen Wünsche ihrer Bewohner auszudrücken, eines ist niemals darunter: das Wort ,erlösen‘.“ Erlösung klassifiziert Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ als das unmoderne Wort schlechthin. Denn es beschreibt keine Fähigkeit, die Menschen einander zukommen lassen können, kein Talent, über das sie verfügen. Aber es ist ein Hauptwort der Kirche, in dem sie nicht nur ihre prinzipielle Unmodernität signalisiert, sondern mit dem sie auch vertritt, daß es Situationen gibt, in denen das letzte Wort nicht von Menschen gesprochen wird – auch wenn es höchst menschlich genannt zu werden verdient.

Die Kirche hatte sich mit den Consultants von McKinsey Problemlöser ins Haus geholt. Problemlöser sind Menschen, die es nicht darauf ankommen lassen wollen, daß man auf Erlösung angewiesen ist. Das ist nichts Problematisches; fatal wird es nur, wenn man sich deren Horizont zu Eigen macht, aus dem sie ihre Vorschläge rekrutieren. Lange ist es her, daß „der Berater“ als ein göttliches Attribut angesehen war wie noch in den mythischen Reden eines Hesiod. Das waren Zeiten, in denen er zuständigkeitshalber die Rätsel dieser Welt deutete. Die Moderne zeichnet sich dadurch aus, daß sie den Schritt vom Rätseldeuter zum Problemlöser vollzogen hat um den Preis, alles, was geheimnisvoll ist, nur noch unter dem Aspekt des Unaufgeklärten zu sehen. Carl Améry hat Recht, wenn er darin einen totalitären Zug des Marktes sieht (SZ vom 3. April). Die Kirche, die sich diesem Sog nicht entzieht, begeht Götzendienst. Denn in dem Maße, wie sie den Problemlösern das eigene Haus überlässt, verliert sie den Respekt vor dem, was sich nicht fassen lässt. Früher hieß das Fassungslose „Geist“, heute ist es ein Skandal für jede Controller-Mentalität. Als Expertin des Fassungslosen aber hat die Kirche mehr verdient als Ratschläge dieser Art. So wie sie auch selbst mehr bietet als Rat: Sie hat Trost – aber, genügt das?

Jan 2008 | Allgemein | Kommentieren