Ab und Zu Wanderung
Zur Ideographie von Heimatflucht

„Nichts Menschliches ist mir fremd“: das Credo des Stoikers ist längst zum Fluch des Kulturalisten geworden. Wie soll ich, wenn mir nichts mehr fremd ist, noch auf Menschliches neugierig sein? Mich davon faszinieren lassen oder es wenigstens respektieren? Meine Identität und Würde behaupten und gegebenenfalls für die des Anderen kämpfen? Fremdheit eignet eine Würde, die der bloßen wohlfeilen Andersheit, die nicht einmal verabscheut werden darf, abgeht. Der Weltbürger, der sich überall zuhause wähnt, weil ihn an seinen Gattungsgenossen nichts mehr befremdet, hat jeden Grund verloren, Unterschiede überhaupt wahrzunehmen. Es gibt Ärzte ohne Grenzen, Popstars, Manager und Terroristen ohne Grenzen. Menschen ohne Grenzen gibt es nicht. Sehr wohl aber Stimmungen, Gefühle, Affekte, Erfahrungen. Man höre sich Bardenmusik aus Afghanistan und aus Sizilien an, aus Andalusien und Jemen, dem Kaukasus, Aquitanien und Schottland: dieselben Melodien, variierende Intonation, gleichbleibende rhythmische Muster: Gemeinsamkeiten, die älter sind als alle religiösen Zwangshomogenisierungen, als alle politischen Zwangsdifferenzierungen. Für Trauer und Ekstase, Freude, Staunen und Ehrfurcht haben die Künste, allen voran die Musik, seit jeher die gültigeren, genaueren, intimeren, bedeutsameren, intensiveren und vor allem: friedlicheren Ausdrucksformen gefunden. Man lasse sich von diesem Soundtrack (anstelle kitschiger Streicherteppiche oder der Vakuum-Atmos von Tekkno und Ambient) durch die Spacenight des BR 3 über Pangäa treiben, um eine Ahnung von kreatürlicher Transzendenz und Gattungszugehörigkeit zu bekommen, die jede kodifizierte Religion zum Priestertrug schrumpfen läßt.

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Wann immer der Zeitgeist den Heimatdiskurs forciert, hat die Entfremdung von den unmittelbaren Lebensbedingungen eine neue Stufe erreicht. Dazu muß man heute nicht mehr politisch verfolgt oder gewaltsam außer Landes getrieben werden. Es genügt eine Quartierssanierung, eine neue Autobahntrasse durchs einst verschlafene Tal oder eine verschärfte Offensive der Elektronikindustrie. Zivilisationsgeschichtlich löste Heimat die Landnahme ab: Als alles entdeckt, erobert und bebaut, die unheimliche, menschenfremde Welt bewohnbar geworden war, begann die emotionale Besetzung. Der geordnete Raum allein taugte nicht mehr zum Kosmos, er mußte zur Landschaft der Gefühle verinnerlicht werden und blieb als Erinnerung ein Leben lang erhalten. Heute zeugt der obsessive Wunsch nach dem Eigenheim von der Verkehrung dieser Logik: man baut sich ein Haus oder übernimmt ein fertiges und gestaltet es um in der Hoffnung, auf diese Weise am gleichgültigen Wohnort heimisch zu werden – und wenn die Heimat am Gartenzaun endet. Komplementär dazu hat sich der ungebremste Expansions- und Kolonisierungsdrang erst in den Weltraum verlagert, um von dort alsbald enttäuscht zurückzukehren und in den Cyberspace auszuschwärmen, wobei auch hier die Ernüchterung aufkommt, daß dieses Medium ebenfalls zu kalt ist für Wesen aus Fleisch und Blut, die ohne Bewegung und Sinnesreize sich nicht lebendig fühlen.

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Sie ist alt, die Fremdheit der Deutschen ihrem Land, und das heißt immer auch ihrer Seelenlandschaft gegenüber. Beides blieb bis heute, wenn auch mit historisch wechselnden Motiven, ungeliebt. War es früher die schon von Tacitus konstatierte Unwirtlichkeit, später die Enge der feudal parzellierten Verhältnisse, die noch heute in der föderalistischen Bürokratie überlebt, so ist es seit dem zweiten Weltkrieg die Zerstörung jeder urbanen und landschaftlichen Physiognomie durch Krieg und Wiederaufbau, die Deutsche zur Heimatflucht antreibt. Die Gier nach Sonne, Strand und Meer ist dabei nur eine Deckadresse für das Leiden nicht an Kälte und Nässe, sondern an der Abstraktion der nur noch bewohnbaren, geopsychisch nicht mehr erspürten Umgebung. Die Weltmeister im Verreisen und freiwilligem Auswandern können deshalb auch kaum ermessen, was Menschen aufgeben, wenn sie von weither kommend in Deutschland eine neue Bleibe suchen; Mißtrauen und Feindseligkeit Fremden gegenüber sind so gesehen auch Indiz einer Geringschätzung der eigenen Heimat, psychoanalytisch nennt man das Ich-Schwäche, anthropologisch Selbstfremdheit.
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Mag Heimatlosigkeit fürs neuzeitliche Subjekt auch ein „Weltschicksal“ (Heidegger) sein, die Reflexion darüber ist – sieht man von gnostischen Unterströmungen im Christentum ab – eine genuin deutsche Obsession. Nirgends scheinen Zerrissenheit und Selbstentfremdung, Anspruchsdenken und chronische Unzufriedenheit derart ausgeprägt wie in Deutschland, nirgendwo sonst kommt der Freistilmischung aus Neid, Mißgunst und Nörgelei, die man Ressentiment heißt, der Rang eines Volkssports zu – mit dem komplementären Effekt einer ebenfalls beispiellosen Konsens- und Harmoniebedürftigkeit mindestens in den öffentlichen Auseinandersetzungen. Der Gerechtigkeit halber muß aber auch die Kehrseite erwähnt werden: nirgends ist die Leidensschwelle so niedrig, die Empfindlichkeit für den Betrug an Schicksal und Lebenszeit durch die Vermarktung von Arbeitskraft so groß wie hier. Es ist darum gewiß kein Zufall, daß die Kritik der Entfremdung von Karl Marx, einem deutschen Juden, lanciert und maßgeblich von deutsch-jüdischen Denkern (Freud, Simmel, Weber, Bloch, Adorno, Marcuse, Anders) in immer subtileren Analysen des Unbehagens an der Kultur aktualisiert wurde.
Bereits ein Vierteljahrhundert vor den „ökonomisch- philosophischen Manuskripten“ hatte der Dessauer Bibliothekar Wilhelm Müller jene Winterreise der deutschen Seele kodifiziert, die in Schuberts Vertonung zum exemplarischen Klangbild einer Diskrepanz zwischen bewegter Unendlichkeit innen und versteinerten Verhältnissen „draußen“ werden sollte. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“: das Fremdsein in Heimat und Herkunft treibt das ziellose, immer wieder stockende Wandern auf der Suche nach einer Fremde an, in der es das romantische Subjekt halten könnte, und die doch allein in der kammermusikalisch gestimmten Innerlichkeit ihre tonikale Erlösung finden konnte. Das unglücklich schweifende Bewußtsein, dem die selbst gewählte Einsamkeit durchaus suspekt war – „Was vermeid ich denn die Wege, wo die andren Wandrer gehen, / Suche mir versteckte Stege durch verschneite Felsenhöhn?“ – erfreut sich seitdem einer erstaunlichen, über die unterschiedlichsten historisch- politischen Konstellationen hinweg konstanten Beliebtheit. Es scheint, als ob der mal desperate, mal depressive und dann wieder forciert fröhliche Grundton des introvertierten Kunstlieds der gebildeten deutschen Seele immer wieder eine angemessene, wenn auch ortlose Zuflucht auf Zeit zu bieten vermochte.
Dagegen das offizielle Getöse, die „Nationale Selbstfindung in der Musik“ (Untertitel des Sammelbandes Deutsche Meister – böse Geister?): 4x Nürnberg und Bayreuth (Meistersinger), 2x Wartburg (Tannhäuser), 2x Wald (Freischütz) , 1x Rhein – Inbrunst und Größenwahn, Gemüt und Gelehrsamkeit, Mythomanie und Pathosformeln: von Nietzsche der Lächerlichkeit preisgegeben, von den Nazis beim Wort genommen, von Kiefer exhumiert und in Ehren bestattet. Der Versuch, dem „Volk ohne Raum“ erst kulturelle, dann geopolitische Größe zu verschaffen, hinterließ taube Ohren und verbrannte Erde. Die Flucht in die Zeit, die seitdem einsetzte – erst in die Zukunft des neu aufzubauenden Landes, dann in die Gegenwart des erreichten Wohlstands – ist nunmehr bei der Vergangenheit der historischen Identität angekommen: Wer sich heute wieder durchaus romantisch mit dem Paradox konfrontiert sieht, Land und Leute nicht zu mögen und sich trotzdem mit ihnen verbunden zu wissen, weicht ins kollektive Gedächtnis aus.
Geschichte als Heimat: so könnte man das verborgene Motiv der obsessiven deutschen Vergangenheitsbewältigung formelhaft zusammenfassen; die Beziehungsenergien vom zerstörten, für affektive Besetzungen unattraktiven Raum der Gegenwart auf die Zeit einer Vergangenheit verschieben, die schon deshalb Identifikation bietet, weil sie rekonstruierend erschlossen werden kann und dieser Akt selbst angesichts von Luftkrieg und Vertreibung eine symbolische Aneignung darstellt. Bei Peter Reichel (Politik mit der Erinnerung) kann man studieren, wie diese temporalisierte Identität sich wiederum ihre eigene Topographie schafft: Denkmäler, Gedenkstätten, Museen, Fernseharchive – Gedächtnisorte mit zuerst negativer, nationalsozialistischer, mittlerweile auch zunehmend preußischer Referenz, die jedoch nur die moralisch privilegierte Vorhut der zahllosen, bereits reaktivierten oder ihrer Reaktivierung (mangels Restaurationskapital noch) harrenden Markierungen einer historischen Heimat bilden, die man sehen, begehen, zuweilen sogar bewohnen und vor allem unentwegt besprechen kann. Ein zweites, abgeleitetes, reflexives Zuhause, das offenkundig auch die primärprozeßhaften Heimatbedürfnisse (die am Gartenzaun enden) zu hospitieren vermag. Die untergegangene Volks- und Reichsnation, die unter- und in europäische Strukturen übergehende Staats- und Verfassungsnation wird als Geist- und Gefühlsnation mit den Einstellungen und Gewohnheiten ihrer Angehörigen, ihren Gesten und Idiomen noch lange fortleben. Um angesichts dieser späten Positivierung ihrer Entfremdungsgeschichte ihr Repertoire künftig weiterzuentwickeln, wäre es an der Zeit, von den unfreiwilligen Wanderungen der Winterreise zu den gelassen über nationale, konfessionelle und harmonikale Grenzen hinwegfließenden Années de Pélerinage des deutschen Europäers Franz Liszt fortzuschreiten.
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Daß selbst das individuelle Gedächtnis kein verläßliches Refugium für nostalgische Gefühle bietet, ist die Lektion aus Kunderas Die Unwissenheit: was ist schon der Prager Frühling gegen die erste Liebe in Paris oder Kopenhagen? Je intensiver das Leben in der Gegenwart, desto ohnmächtiger das Gedächtnis, das sich entsprechend der Relevanz des Durchlebten neu konfiguriert und die Bedeutung von Kindheitstraumata ebenso relativiert wie die Phantasmen der Adoleszenz. So hört der Exilant auf, sich über seine Herkunft zu definieren und wird zum Emigranten, den das entscheidende Agens der Vermischung affektiv an den neuen Ort, seine Sprache und Kultur bindet. „Was unterscheidet den Emigranten vom Flüchtling?“, fragt Vilém Flusser (Von der Freiheit des Migranten) und antwortet: „Der Flüchtling ist, positiv und negativ, der verlassenen Bedingung verhaftet. Er schleppt sie auf seiner Wanderung mit sich, und zwar in einer Mischung aus Ressentiment und Liebe. Der Emigrant hat sich über die verlassene Bedingung erhoben… Der Flüchtling, eingekapselt in die verlassene Bedingung wie er ist, ist der neuen verschlossen. Er hat ihr weder etwas zu geben, noch von ihr etwas zu nehmen.“ Demnach würden viele der nach Deutschland Eingewanderten sich wie Flüchtlinge gebärden, ohne welche zu sein; und wäre ihr fataler Hang, die unmenschlichen Bedingungen ihrer Herkunftsländer im Clan- oder Ghettoformat zu reproduzieren, insgeheim das Eingeständnis, daß sie vor diesen geflüchtet sind.
Schon im Wortstamm von Existenz (ek-sistere) ist der Aufbruch aus einem gegebenen Zustand, das Heraustreten aus Ordnungen, Ortungen, Zusammenhängen des Seins gesetzt und damit eo ipso Vereinzelung, Exodus und Exil, die Gleichursprünglichkeit von Identitätssuche und Selbstentfremdung. Es ist daher eine Frage der psychohistorischen Reife einer Kultur, ob sie ihre Angehörigen anzuleiten (oder wenigstens nicht daran zu hindern) vermag, die Kette der Bedingtheiten zu sprengen, um ins Offene, Unbestimmte der menschlichen Conditio aufzubrechen; und sei es, um eines Tages aus eigener Einsicht das Gewicht der Überlieferung für die Orientierung in der Gegenwart abwägen zu können. Worin Würde oder Wert einer bedingungslosen Unterwerfung unter die Gesetze der Tradition oder dem „Willen Allahs“ bestehen soll, dürfte bald allen Europäern ein vorgeschichtliches Rätsel sein: sie schicken sich nämlich an, als erste Vertreter der Spezies Homo sapiens erwachsen zu werden.
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Deutschland macht es Neuankömmlingen vergleichsweise leichter und schwerer, sich in die neue Umgebung einzufinden. Schwerer: jeder Ausländer spürt sofort, daß die Mitglieder dieser Sprachgemeinschaft sich am liebsten aus dem Weg gehen, einander Gesellschaft – wenn überhaupt – „leisten“ und sich ansonsten keines Blickes würdigen (wenn sie am anderen nicht gerade etwas auszusetzen haben); daß sie mit „herzlich“ meistens „wenig“ verbinden, das Gegenteil von Schönheit aus dem Haß ableiten und selbst das Nonplusultra mit einem „schlechthin“ zu dämpfen verstehen. Leichter: die neue Lebenswelt, die als sachlich-neutral, emotional unterbesetzt, rituell und organoleptisch verarmt erlebt wird, löst zwar zunächst einen Kulturschock aus; doch drängt sie sich – außer in ländlichen Gebieten – nicht so auf, daß man darauf mit Anpassung oder Ghettoisierung antworten muß. Denn ihre unsympathischen Züge bieten den Vorteil, ihre Organisationsprinzipien rational und transparent hervortreten zu lassen. Wer es schafft, sich diesem Gemeinwesen gegenüber mit der Kälte eines Funktionssubjekts zu verhalten, macht die paradoxe Erfahrung, daß gerade die Anonymität von Straßenfluchten, die Teilnahmslosigkeit von Gesichtern oder das Fehlen markanter sinnlicher Reize – allen voran der Gerüche in Straßen, Passagen und Häusern – den Neubeginn erleichtern, weil hier nichts mit den Erinnerungen an die ganz anders geartete südliche (oder östliche) Heimat in Konkurrenz tritt. Es ist, als wäre man nicht in einem anderen Land, sondern auf einem anderen Planeten oder in einer Wüste besonderer Art gelandet.
Das Besondere an dieser Wüste ist, daß sie Lebensformen, die aus politischen, ethnischen, konfessionellen und bald auch aus sexuellen Gründen anderswo bedroht werden, ein sicheres, wenn auch meist armseliges Refugium bietet, weil sie sich derselben protestantischen Abstraktion vom Körper verdankt, die in Mittel- und Nordeuropa seit Beginn der Aufklärung die politische Durchsetzung der antiken naturrechtlichen Idee von der Gleichheit und Freiheit aller Menschen ermöglicht hat. Diese universalistische Ethik wird im Zuge der Globalisierung jedoch von ihren eigenen mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen ausgehöhlt. Dieselben Einwanderer nämlich, die am lautesten über „soziale Kälte“ in den Aufnahmeländern klagen, scheren sich in der Hitze ihrer archaischen Moralvorstellungen am wenigsten um die Persönlichkeitsrechte insbesondere der Frauen und profitieren dabei just von der Kultur der Indifferenz und des Wegsehens, die ihnen unheimlich ist. Denn die Distanzvirtuosen der meinungsführenden Öffentlichkeit halten es nicht für nötig, die Unvereinbarkeit atavistischer Rechtsauffassungen (etwa im Geiste der Scharia) mit dem Wertekanon der modernen Zivilgesellschaft anzuprangern. Sie verweisen hinter vorgehaltener Hand auf die deutsche Vergangenheit und den Beifall von der falschen Seite – eine inzwischen mehr als dürftige Schutzbehauptung: Denn daß multikulturelle Toleranz zum Freibrief für Menschenrechtsverletzungen verkommen konnte, wäre nicht denkbar ohne einen eklatanten Mangel an Empathie, an Mut und Leidenschaft derer, die sie vertreten.
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„Jeder Mensch erfindet sich seine Geschichte“ (Max Frisch); „Ich hab mir das nicht ausgesucht“ (Hans Magnus Enzensberger). Beides richtig: kein Mensch hat sich die Geschichte ausgesucht, die er sich erfindet. Schon die Nachträglichkeit der „Erfindung“ ist das Zugeständnis, daß es Geschichte – ebenso wie Heimat – nicht als Projekt geben kann, nicht einmal „Biographie“ oder „Wahlheimat“. Die Lüge von der optionalen Existenz mag zwar für die kulturalistische Feier des Individuums unverzichtbar sein, ändert aber nichts am Hineingeborenwerden und Beheimatetsein; die Sprache läßt Reflexiva – etwa sich verheimaten oder sich aufwachsen – hier nicht zu. Die Pseudomorphose von Heimat und Kindheit prägt den Lebensweg selbst dort, wo sie scheiterte: wer nie in einer Familie geborgen war, dem bleibt die ganze Welt zeitlebens fremd. Heimat ist, wo man umsorgt wurde, wo man sich weder um Liebeszuwendungen noch um die materiellen Voraussetzungen der Existenz zu sorgen brauchte. Weil man Heimat diesseits des Tauschverkehrs ursprünglich erfährt – als Geschenk -, muß man sie später, wenn für alles Lebensnotwendige ständig bezahlt werden muß, kontrafaktisch behaupten und mit geeigneten Stimmungsdrogen (Patriotismus, Musik, Landschaft, Gerichte) beschwören.
Die neuerdings zu beobachtende endemische Vermehrung bekennender Heimatloser in der westlichen Nordhemisphäre des Planeten dürfte zum nicht geringen Teil daher rühren, daß Frauen immer weniger für den Erhalt des Familienkokons garantieren, immer seltener die Instanz verkörpern, zu der man zurückkommt, die den stets ausreißenden, kopflastig flatternden und dafür wieder sehnsüchtig schmachtenden Mann erdet, indem sie ihn bei und in sich aufnimmt; wenn sie nicht mehr hier bleibt, während er fortgeht, kann Heimat nicht länger schoßhaft oder intrauterin (für Frauen: dort, wo ich mein Kind zur Welt bringe und aufziehe) imaginiert werden, und jeder Versuch das psychosexuelle Vakuum der entschwundenen Weiblichkeit mit den Netzen der Cyberkultur auszuspinnen, endet über kurz oder lang in Sucht, Depression oder auf der Couch.
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Langzeitversuch Tagesschau: bekannte Gesichter, gewohnte Kulissen, wohldosiert die ewige Wiederkehr der gleichen Hochs und Tiefs. Weltgeschichte als Hintergrundrauschen, Leerformeln zur Affektsicherung, schwankungsbereinigt selbst die Geschmacksempfindungen beim Abendessen. Der flimmernde Gemütlichkeitsmagnet: das kleinste gemeinsame Heimatformat. Das größte folgt auf dem nächsten Programmplatz: im Tatort werden seit drei Jahrzehnten klassen-, milieu- und regionalspezifische Schauplätze und Sprechweisen, Denkformen und Lebensstile rekonstruiert, als gelte es, in einer prinzipiell unabschließbaren Beweisführung jeden Sonntagabend erneut darzulegen, daß es einen fahndungstauglichen deutschen Gesamtsteckbrief gibt, der mehr sein könnte als die massenmediale Synchronisation der vielen Sub- und Parallelkulturen.
Gegen die Logik des Mediums und der wohlfeilen Apologie seiner Wirkungen hatte Edgar Reitz‘ in seinen Heimat-Zyklen die ethnoskopisch verlässlicheren Erkenntnisse gewonnen. Erstens: die deutsche Seele und ihre Humanität ist unauflöslich an die wohltemperierte Landschaft gebunden, die die Menschen hierzulande maßstabgerecht widerspiegelt und ihnen Reflexion, altmodisch gesprochen Besinnung leichter macht als anderen Erdenbewohnern. Die Landschaft ist weder besonders schön, jedenfalls nicht in einem spektakulären Sinn, noch ist sie gewaltig, erhaben oder irgendwie bedrohlich – ähnlich wie das Klima. Das bindet die Menschen an sie, gibt ihnen Halt (wenn auch um den Preis einer Sehnsucht nach Weite, Sonne und Meer sowie eines Kontaktverlusts zu den Elementen) – im Gegensatz zu den viel zu großflächigen und extremen Landschaften Amerikas, Rußlands, Asiens oder Afrikas. Heimat abzüglich extremer Dimensionen und Naturgewalten: gemütliche Landschaft, Gemütslandschaft. Man kann sich darin einrichten, ist dann gleichsam in der Natur zu Hause. Das ist sogar am Mittelmeer – sieht man von der Provence und der Toskana (nicht zufällig die beliebtesten Refugien deutscher Heimatflüchtlinge) ab – keine Selbstverständlichkeit. Die Entlastung vom Überlebenskampf forciert wiederum die Individualisierung: wo die Aufgabe oder der äußere Feind, der zusammenschweißt, fehlen, muß das Gemeinsame per Dekret gesetzt werden und kann doch das Auseinanderdriften der sozialen Bindeglieder nicht verhindern. Solidarisch sind Deutsche – Spendenaktionen hin, Aufbau Ost her – nur im Ausnahmezustand untereinander, und mangels Naturkatastrophen hieß das fast immer: im Krieg.
Zweitens: Sprache ist Heimat, ja. Aber gerade nicht als die kontrollierte Hochsprache jener Intellektuellen, die sich notorisch darauf berufen; sondern als eine Mundart und Dichtung gemeinsame welterschließende, maieutische Grundstimmung, die jeden ergreift, der dem Sprachgeschehen als Medium ausgesetzt ist. Dialekt und Idiom, Geräusch und Geste, das wärmend-beruhigende Geschnatter der Muttersprache: Soundscape, die vom werdenden Bewußtsein durch alle Poren absorbiert wird, psychoakustisches Geleit in die Welt. Hingegen Hochsprache als Ersatzheimat: Ja. Das setzt voraus: Vertreibung, Auswanderung, Exil; intellektuelle oder künstlerische Weltfremdheit. Neuankömmlinge und Außenseiter, Zaungäste der gesellschaftlichen Betriebsamkeit bewahrt nur die Bildungssprache vor der Weltlosigkeit. Mit jener läßt sich drittens die Zweite Heimat gestalten: der Ort, an dem man seine Visionen verwirklicht, Resonanz und Anerkennung findet, Wahlverwandte, die zweite Liebe.
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„Es muß Hannover gewesen sein“, resümiert der Ich- Erzähler in Wolfgang Hildesheimers Tynset seine Kurzodyssee durch das anonyme Straßengewirr einer deutschen „Landeshauptstadt“ – ein zwölfseitiger Alptraum, den nur der heitere Sarkasmus dieses Autors davor bewahrt, ins Horrorgenre abzugleiten. Heimat braucht ein Gesicht, auch Hannover, sonst ist sie keine. Gesicht ist nicht nur etwas, das man wiedererkennt, weil es nicht austauschbar ist, Gesicht meint immer auch: Angeblicktwerden. Diese Landschaft blickt mich an, heißt: sie ist so eingerichtet, daß auch ich mich in ihr wiedererkennen kann; ich werde wahrgenommen von der Umgebung, weil sie mir etwas widerspiegelt, was jenseits aller biographischen Empfindlichkeiten ganz elementaren Bedürfnissen meines Inderweltseins entspricht. Bedürfnissen nach Halt und Richtung, nach Maß und Transparenz, nach Proportionen und Abwechslung, Form und Rhythmus, Wiederholung und Differenz.
Die Geltung solch anthropologischer Konstanten schien ein Jahrhundert lang außer Kraft gesetzt, im Prozeß der Moderne konnten sie nur als retardierende, als Störfaktoren registriert werden, frei nach der Devise: „die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte.“ Gleich zu Beginn seines abenteuerlichen Romanprojekts warnt Robert Musil mithin die Leser davor, in seinem Text jene vertrauten Orientierungen zu suchen, die sie im chaotischen Großstadtmilieu vermissen. Und nach absolviertem Parcours könnten wir ergänzen: Entscheidend ist nicht das Wo, sondern vielmehr das Wie des Befindens – also etwa ob (und wie) ich geliebt werde, welcher Arbeit ich nachgehe, mit wem ich befreundet bin, und vor allem: was mir durch den Kopf geht. An der Überschätzung der Standortfrage läßt sich daher umgekehrt auch der Grad an Atomisierung einer Gesellschaft bzw. an Orientierungslosigkeit der Individuen ablesen: „Wo ist das Problem?“, plappern seit zwei Jahrzehnten ganze Generationen von TV-Kids ihren importierten Helden nach. Sie suchen vergeblich, menschliche Probleme sind keine Defekte an Schaltkreisen. Der Mann jedoch, der die Eigenschaftlickeit seines Alter ego suspendierte, um ihn vor der Funktionalisierung seiner Begabungen zu bewahren, hatte nicht ohne Bitterkeit Ende der 30er Jahre in seinem Tagebuch notiert: „Exterritorialität des geistigen Menschen… in dieser Blut-, Boden-, Rasse-, Masse- Führer- und Heimatzeit.“ Auch er hatte aus der Not eine Tugend gemacht, noch bevor er Wien verlassen mußte.
Man kann im Kino zuhause sein oder im wissenschaftlichen Labor, an archäologischen Fundstätten oder in der Minimal Music. Man kann das alles sukzessive und mit zunehmenden Alter auch gleichzeitig sein. Und spätestens dann hat sich das Verhältnis von Territorium und Identität umgekehrt, sind die Futterplätze in die Weidegründe der Imagination eingewandert. Nur: wer ist „man“? Für wen ist diese transklassische Raum- und Zeitverortung persönlicher Selbstwahrnehmung repräsentativ? Auch Künstler, Wissenschaftler oder Diplomaten können den Kosmopolitismus, den etwa Paul Parin (Heimat, eine Plombe) als jederzeit möglich – und dessen Gegenteil, die Heimatfixierung als psychopolitische Deformation – unterstellt, ohne Verlustkompensation nur beanspruchen, wenn sie bereits im Kindesalter häufig umziehen mußten oder mit dem Finger auf der Landkarte und dem Ohr an fremde Klänge und Geschichten auf die Reise gingen; erst frühe Mobilität bzw. Realitätsflucht schafft den notwendigen seelischen Reizschutz für jenen beruflichen Eigensinn, der dem Affekthaushalt wiederum eine relative Unabhängigkeit vom jeweiligen Aufenthaltsort sichert.
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Weltbürger klingt also gut, besagt aber – jenseits eines utopischen Rechtstitels – gar nichts. Genauso könnte ich mich als Angehöriger der Spezies homo sapiens definieren, der Gattung der Hominiden, der Familie der Primaten, der Ordnung der Allesfresser, der Klasse der Säugetiere, des Stammes der Wirbeltiere. Womit wir endlich bei den Universalien wären. Würde die Sprache allein unser Weltverhältnis bedingen, dann wäre unsere Überlebensfähigkeit auf das Gebiet unserer Sprachkompetenz beschränkt. Universalien, die diesen Namen verdienen, gibt es nur transkulturell, auf der Ebene sinnlicher, physischer Daten und Gegebenheiten. Hätte die Sprache das erste und letzte Wort, wir würden nicht japanisch essen oder afrikanisch tanzen können, wüssten nicht, wann Araber sich freuen oder Thailänder vor Wut statt vor Schmerzen schreien.
Das Haus des Seins ist älter als alle Wörter, die es besetzt halten. Die primären Identitätszustände, Selbstbild und Selbstgefühl sind gebunden an Geschlecht, Alter und Temperatur, an Licht und Nahrung, Luft und Schlaf, in Jahrmillionen erprobten Biozyklen. Der wahre Kosmopolit wäre daher zunächst und vor allem ein Sensualist, der den Neigungen und Empfindlichkeiten seiner Physis vertraut, die sich bekanntlich nicht danach schert, ob der Wind aus Rußland, der Wein aus Chile oder die Küsse aus Äthiopien kommen. Könnten wir statt „ich habe einen Körper“ sagen: „Ich bin dieser Körper, den ich bewohne (als Person) und der mich sein läßt (als Gattungswesen)“ – Heimat müßte nicht länger jenen phantasmagorischen Ersatz für die Entfremdung vom leibhaftigen Substrat der Existenz liefern, der als Ausdehnung der je individuellen Heimlichkeit ins Soziale beginnt und zur Überschwemmung öffentlicher Diskurse mit privatmythologisch kodierten Affekten, eben zur „Tyrannei der Intimität“ (Sennet) ausufert.

Jan 2008 | Allgemein | Kommentieren