Ein Fremdwort macht Karriere, unaufhaltsam vermehrt es seine Zuständigkeiten, greift von einzelnen Branchen und Sektoren der Wirtschaft auf neue Technologien und Kapitalmärkte über, steckt Buchhandel, Fitnesscenter und Ausstellungswesen an, um endlich, nach anderthalb Jahrzehnten emsiger Expansion, bis in die entlegenen Gefilde des Geistes, bis zu Literatur und Philosophie vorzudringen. Und so können wir seit einiger Zeit lesen und hören, daß auch die Lyrik „boomt“. Ziehen wir den Duden zu Rat, heißt dies, daß sie braust und summt. Brausen und Summen sind ihrerseits minimalpoetische Umschreibungen eines sehr profanen, ungeliebten und permanent verdrängten Sachverhalts: des Lärms. Daß die Lyrik boomt hieße also nichts weniger, als daß sie lärmt, also akustischen Müll erzeugt? Noch nie war ein Schlagwort so hintersinnig, so gemein – und so treffend. Verantwortlich für den gestiegenen Phonpegel sind zwei Entwicklungen, die genau besehen zwei Erscheinungsformen desselben Zeitgeists sind: das Audio-Book und das Unterhaltungsdiktat.
Seit jeher werden Gedichte von ihren Verfassern vorgetragen, lange vor ihrer schriftlichen Fixierung wurden sie mündlich überliefert, in außereuropäischen Kulturen ist dies bis heute die dominante Traditions- und Rezeptionslinie geblieben. Vor einem halben Jahrhundert begann man, solche Texte in Ausnahmefällen auch auf Tonträgern aufzunehmen, und erst seit einem Jahrzehnt können alle, die es mit der Veröffentlichung von Gedichten zu einer gewissen Anerkennung gebracht haben, damit rechnen, ihr Gedrucktes auch im Rundfunk zu sprechen oder sprechen zu lassen. Es ist demnach noch nicht lange her, daß man Lyrik-Aufnahmen zeitgenössischer Autoren noch an zwei Händen abzählen und an jeder einzelnen von ihnen aufs neue die Differenz von Laut und Buchstabe, Schriftbild und Klangfigur, Partitur und Interpretation lernen und die Musikalität der Poesie an Gestus und Diktion nachvollziehen konnte.
Hörte man etwa Celan-Gedichten, von ihm selbst gesprochen, zu, so war man überrascht von dem feierlichen, fast liturgischen Singsang, der an rabbinische Litaneien erinnerte: die monotone Diktion stand im krassen Widerspruch zum polyphonen Gewebe der Texte. Man hatte sich von der Evokationskraft des Vortrags einen Zugang erhofft, hatte ihn bekommen – und war irritiert und enttäuscht zur Lektüre zurückgekehrt, um später festzustellen, daß sich auch diese verändert hatte. Nicht viel anders erging es einem mit der verwundeten Stimme Ingeborg Bachmanns: soviel Gebrochenheit, soviel gedämpftes Leidenspathos, die prunkende Metaphernwelt schrumpfte im Nu zum stellvertretenden Opfer zusammen. Auch hier wurde man wieder auf die Bücher verwiesen, „die gestundete Zeit“ ließ sich auditiv nicht einholen. Man lauschte den Stimmen der Autoren, um der unauflöslichen Fremdheit ihrer Texte einen Resonanzraum und damit einen Körper zu geben, etwas Nahes und Berührbares. Das war eine Form des Verstehens als Teilhabe am Unverständlichen, ohne dieses den Entzauberungen analytischer Lektüren unterziehen zu müssen. Das ist, wie gesagt, nicht lange her, und doch längst vorbei.
Heute klagen Autoren, Verleger und Buchhändler in seltener Eintracht, daß der wachsenden Beliebtheit von Lyrik-Lesungen und Audio-Books mitnichten steigende Auflagen entsprechen. Lassen wir einmal den schnöden Event-Reiz beiseite, heißt dies im Klartext: man hört Gedichte, um sie gar nicht erst lesen bzw. sich ihrem Anspruch auf Muße und Konzentration nicht mehr aussetzen, den Regungen der inneren Stimme fernab aller Betriebsamkeit draußen nicht mehr folgen zu müssen. Literatur wird so zum Motor jener schleichenden Analphabetisierung, der sie am hartnäckigsten Widerstand zu leisten schien.
Doch wer sagt, daß diese Haltung dem, was Anno 2008 an Lyrik verfaßt und propagiert wird, nicht angemessen ist? Wer möchte den Beweis antreten, daß die allermeisten dieser Elaborate länger als den flüchtigen Augenblick einer Darbietung Bestand hätten? Wo sind die Verse der 90er Jahre, die wir Freunden vortragen möchten? Das Feuilleton schweigt beharrlich, Lyrik wird kaum noch rezensiert, jeder Kritiker hütet ein paar Favoriten, alle atmen auf, wenn ein Rühmkorf oder ein Enzensberger doch noch Gelegenheit bieten, ohne Kriterienspagat, also ohne Ambivalenzen, aber auch ohne konzeptionelle Überforderung des Amtes zu walten.
Mangelnde Resonanz von Lesern
Die Konjunktur der Talente und Zeitschriften, der Editionen, Stipendien und Preise, die nach der Wende einsetzte, drängte schon kraft der eigenen Expansionsdynamik danach, die Grenzen ihres traditionellen Mediums zu überschreiten, nicht zuletzt um den Kreis der Interessenten u.a. mit öffentlichen Auftritten entsprechend zu erweitern. Verlage und Rundfunkanstalten erkannten ihrerseits in den neuen Aufmerksamkeitsszenarien potentielle Absatzmärkte, mit denen sich die mangelnde Resonanz des Stammpublikums, der Leser und Hörer, ausgleichen ließ. Ein bislang vernachlässigtes Organ der Rezeption wurde entdeckt – das rezeptive Organ par excellence, das Gehör – und ein bislang vernachlässigtes Medium lanciert – das Audio- Book. Wer nicht lesen will, soll hören. Fürwahr ein Einfallstor: dem Gehör sind wir ausgeliefert, wer uns auf diesem Weg anspricht, hat einen unmittelbaren Zugriff auf Affekte und Emotionen, der intellektuelle Anspruch läßt nach, Widerstand ist zwecklos. Und weil sich reibungsloser nicht konsumieren läßt, geben wir der Versuchung auch gern nach: Lyrik ohne Lektüre, Unterhaltung mit geistigen Nebenwirkungen, Regression ohne Reue, was will man mehr? Niemand braucht sich noch der Literatur zuzuwenden, sie kommt von sich aus auf einen zu, dringt maximalinvasiv auf dem kürzesten Weg ins Gehirn ein – und wieder hinaus: auch dies ein Beitrag zur Beschleunigung der Denk- und Lebensverhältnisse.
Lesungen, Performances, Poetry-Slams, Audio-Books, Lyrikline: der Audio-Boom trifft auf ungeübte Ohren und tut alles, um ihre Inkompetenz zu steigern, denn man hört bekanntlich so differenziert und das heißt so kritisch, wie man selber spricht, singt oder akustisch gestaltet; stattdessen wird einem jetzt auch das laute Vorlesen abgenommen. Darum gehört zu den fatalen Wirkungen dieses Präferenzwechsels in der Lyrikrezeption die Verbreiterung ihrer Bemessungsgrundlage: auf dem Audio-Markt muß sich kaum noch jemand einem Qualitätsstandard stellen. Gefragt sind literaturferne Appeals wie unmittelbare Zugänglichkeit, „authentischer“ Ton, pathetische Gesten, am besten Komik. Wer öffentlich auftritt, kann zudem mit Moderatoren rechnen, die den dilettantischen Selbstentblößungen souveräne Rezitationskunst attestieren. Spätestens seit der ZDF-Nacht der „Explosivlaute“ – dem bisherigen Höhepunkt massenmedial veranstalteter Lyrik – wissen wir, daß die Kultur der Widerstandslosigkeit längst die Autoren in ihren Sog gerissen hat.
Unmerklich hat diese Entwicklung den Status von Literatur ausgehöhlt: sie genügt als solche nicht mehr. Was als „Lyrik-und-Jazz“-Mélange lange Zeit in großstädtischen Kneipen Kuriositätenwert genoß, ist mittlerweile Standard-Angebot einschlägiger Veranstalter: Literatur „plus“ – Musik, Kunst, Schlemmer-Buffets, etc.. Das Audio-Book wiederum lädt zur Nachahmung ein: Prosa zum Bügeln, Lyrik zur Gymnastik und für den Verkehrsstau am besten Biographien. „Hören statt lesen“, wirbt der CD-Versand JPC und unterstellt mit der Alternative einen nicht näher benannten Vorteil: wer bloß zuhört, hat Hände und Füße und damit auch den Kopf für anderes frei. Hinter diesen scheinbar harmlosen Trends verbirgt sich ein gesellschaftspolitisches Eingeständnis von epochaler Tragweite: daß zur Literatur neuerdings immer noch etwas anderes hinzu kommen muß, um die Beschäftigung mit ihr sei es zu rechtfertigen, sei es erträglich oder vergnüglich zu machen, heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß die Demokratisierung ihrer Rezeption gescheitert ist. Die inflationär beschworene Kulturbeflissenheit der postmodernen, nach sinnhaften Erlebnissen hungenden Seele täuscht darüber hinweg, daß die Sache der Literatur nach wie vor einzig einer kleinen Elite zugänglich bleibt.
Vorwurf mangelnder Welthaltigkeit an die Adresse von Autoren
Selig sind die Zeiten, als Joseph Brodsky, selbst ein begnadeter Rezitator, sich noch darüber mokieren konnte, daß die Attribute „schwierig, dunkel, hermetisch“ nichts über die Lyrik, viel jedoch über „die Sprosse der Evolutionsleiter, an der die Gesellschaft festsitzt“, aussagen. Mittlerweile schwindet selbst diese Kontrasterfahrung, stürmt das Unterhaltungsgeschäft durchs offene Organ die letzten Bastionen der ernsthaften Muse. Sein Funktionsbefehl heißt Verständlichkeit, sein Auftrag Erschließung aller hochkulturellen Restbestände und Popularisierung um jeden Preis. Beides konnte an der Lyrik, solange sie gelesen wurde, nur bedingt exekutiert werden. Nun, da die Textgestalt die Rezipienten bar jeder Objektivierung erreicht, kann auf den Luxus einer Kurzform, deren Reiz in der Verdichtung und mithin im langsamen, genauen, wiederholten Nachvollzug liegt, verzichtet werden. Für Lyrik ist der Anspruch auf Verständlichkeit fatal, denn dieser orientiert sich entweder am Informationsgehalt sachlicher oder an den Identifikationsangeboten epischer Prosa. Bei Lektoren wie Redakteuren verbirgt er sich nicht selten hinter dem Vorwurf mangelnder Welthaltigkeit an die Adresse von Autoren, die explizite und letztlich redundante Bild- Referenzen vermeiden oder diese selbst zum sprachlichen Problem machen.
Das Publikum wiederum pflegt Lyriker regelmäßig mit der Banausenfrage nach dem Thema eines Gedichts zu ärgern, um sich dann auffällig schnell mit den behelfsmäßigen Antworten (Liebe, Landschaft, Herkunft, Sprache, etc.) abzufinden und mit dem schalen Nachgeschmack, den sie hinterlassen: es ist also nichts als das. Irgendwie zuwenig, aber beruhigend. Einerseits die Enttäuschung, daß auch diese geistige Äußerung sich allenfalls graduell vom Zeitungsartikel oder der Fernsehreportage unterscheidet. Andererseits die trostlose Beruhigung: es gibt halt nur eine Welt, nämlich diese. Umgekehrt gilt aber auch hier die Dialektik der Darstellung: nach Stoff giert man, wenn die Magie ausbleibt – man könnte auch sagen die Musik, die Schönheit, die Poesie selbst… Gäbe es nicht eine, wenn auch uneingestandene Hoffnung auf Verzauberung, ja Verstörung – man würde die Zeit besser mit Krimi oder Kabarett verbringen.
Die Rätselfrage bleibt, warum in einer Medienwelt, die selbst Ausflüge in die onkologischen Abteilungen von Spezialkliniken als Fernseh-Unterhaltung feilbietet, jemand auf den Gedanken kommen sollte, sich ausgerechnet von Lyrik unterhalten zu lassen? Was bedeutet unterhalten letztlich anderes, als in den Pausen zwischen zwei Beschäftigungseinheiten über dem Abgrund, der sich in dieser Vakuum-Zeit auftut, „gehalten“ zu werden? Entertainment spricht es aus: es geht um „Zwischen-Halt“, um die Gnade der Überbrückung jener leeren Zeit, in die man voller Entsetzen stürzte, weil man sonst nichts mit ihr und also mit sich anzufangen wüßte, und weil man nichts so sehr fürchtet wie die Chance oder gar die Nötigung eines Innehaltens. Mehr als jede andere Kunstform vermag Literatur indes beides: den Abgrund zu zeigen und das Netz bereitzustellen; das Kontinuum des Besinnungslosigkeit zu unterbrechen und das gefährliche Intervall zu füllen. Doch es ist verlorene Lebenszeit, die ich mit etwas verbringe, was ich nicht erst zu verstehen brauche. Reine Entropie. Was uns aus Situationen und Ereignissen vertraut ist, gilt nicht minder für Texte. Es bedarf immer einer anfänglichen Überforderung, um Gärungssprozesse in den Seelen auszulösen, die dann günstigenfalls zur Infragestellung eines Status quo oder der Identität einer Person führen. Vom Schillernden, Vieldeutigen, Dunklen geht der Lebensansporn aus, der, einmal wachgerüttelt, den banalen Ehrgeiz abschaltet, das Unvermittelte häppchenweise umzuformatieren. Auf Verständlichkeit zu pochen ist demnach nichts als die Geste von resignierten Subjekten, die vor dem Totalitätsanspruch der Gegenwart und ihres allgegenwärtigen Geschwätzes kapituliert haben. In diesem präzisen Sinne ist Literatur, die sich gleichsam von selbst versteht, weil sie weder einen Nachklang noch ein Nachsinnen provoziert, folgenlose Literatur: aus ihr folgt buchstäblich nichts, keine neue Literatur, keine neuen Selbstwahrnehmung ihrer Adressaten, keine Bedeutsamkeit, eben keine Zukunft.
Eine Lyrik der Gegenwart also, der hic et nunc zur Kenntnis genommenen und im selben Akt wieder gelöschten Texte. Und warum nicht? Was wäre dagegen zu sagen? Harald Hartung schlägt vor (im Merkur-Sonderheft Lyrik), frei nach Benn Lyrik und Dichtung, also kunstgewerbliche Gebrauchsliteratur und schöpferische Verskunst, sozusagen eine Talk-Show-kompatible U- und eine meditative E-Poesie zu unterscheiden. Der pragmatisch anmutende Vorschlag hat jedoch seine Tücken: er riskiert, mit der Unterscheidung zugleich die Diskussion um ihre Berechtigung heraufbeschwören, und dies zu einem Zeitpunkt, da Kulturmanager und Programmchefs zur endgültigen Aufhebung der Differenz von E und U trommeln, was unter Bedingungen der Massenkultur auf die Liquidierung der letzten Darstellungsformen hinausläuft, die dem Unterhaltungsdiktat widerstreben. Die angeblich künstliche Teilung der Kulturressorts betrifft nämlich ästhetische Kompetenzen, die sich nicht beliebig übertragen lassen.
Denn zum einen gibt es spezifisch lyrische Zustände, deren Darstellung einen Unterhaltungswert weder abwirft noch braucht: Einsamkeit, Trauer und Schmerz ebenso wie Heiterkeit, Gelassenheit oder Selbstvergessenheit – das alles läßt sich weder kollektivieren noch popularisieren. Im Zeitalter massenhaft erzwungener Nähe bei gleichzeitig steigender Individualisierung bleiben Lektüren bewährte Einübungen in die Einsamkeit, Expeditionen in die jeder Vergesellschaftung widerstrebenden Abgründe individueller Existenz, die dieser allererst zu differenzierten Artikulationen verhelfen. Zwischen der Erschließung dieser Abgründe, der hohen Schule der Absonderung und den ästhetischen Zumutungen moderner Poesie aber gibt es einen Nexus, den der literarische Revisionismus unserer Tage partout nicht wahrhaben will.
Zum anderen ist jede lebendige Sprache auf den kontinuierlichen Zufluß innovativer Impulse angewiesen, und zwar solcher, die verallgemeinerungsfähig und nicht durch das Lebensgefühl einer Minderheit oder das Forschungsfeld einer Expertengemeinde exklusiv markiert sind. So wie das Theater den Spielraum kollektiver Moral und die epische Prosa das Gedächtnis einer Gesellschaft erproben und erneuern, hat diese in der Lyrik ihr produktivstes Sprachlabor. Von ihr die Wahrnehmung gattungsfremder Aufgaben – erzählen, inszenieren, aufklären, unterhalten – in akustischen Kurzversionen zu erwarten, heißt, sie als billiges Erlebnissubstrat zu mißbrauchen und die mythopoietischen Ressourcen einer Sprachkultur ohne Not auf dem Rummelplatz der Selbstdarsteller und therapeutischen Sekundärverwerter zu verhökern.
Die Reibungsverluste angeblich erfolgsträchtiger, weil audiogen forcierter Gattungstransfers kann man sich am besten an der Komik vergegenwärtigen: in Gedichten kann sie nur verlieren, nur seicht sein, weil sie auf einen schnellstmöglichen Vollzug der Pointe drängen muß. In dieser Ex-und-hopp-Geste liegt ihre künstlerische Irrelevanz, ihre Harmlosigkeit, die den Gebrauch des Reims selbst diskreditiert. Dessen poetologischer Sinn ist es nämlich, den Gedanken, wie Valéry einmal sagte, eine andere Richtung zu geben als jene, die sie von sich aus einschlagen möchten. Die juxig-geistreiche und dabei stets berechenbare Silbenstecherei à la Gernhardt hingegen zielt darauf ab, dissoziierte Erfahrungswelten konfliktbereinigt zusammenzureimen, ganz im Sinne einer Unterhaltungskultur, die in der Befriedigung infantiler Harmoniebedürfnisse ihr Perpetuum mobile erkannt hat. Das ist doppelt ärgerlich angesichts der strukturellen Unverbindlichkeit alles bloß Gehörten, das ohne Rückgriff aufs Gedruckte sogleich vom Vergessen bedroht ist, wenn es nicht gelingt, die ephemeren Effekte psychoakustisch zu vertiefen. Gerade das Musikalische der Dichtung jedoch bedarf einer Aufmerksamkeit, die nicht von der tautologischen Übersetzung von Aha-Erlebnissen in den alltagssprachlichen Kosmos aufgezehrt wird.
Mit all dem soll weder einer sprachspielerischen Beliebigkeit des Unverständlichen noch der bildungsprotzenden Erhöhung trivialer Sachverhalte oder Stimmungen in der heute modischen Pound-Nachfolge das Wort geredet werden. Dichtung, die ihre Zugänglichkeit mit Gelehrsamkeit oder virtuosem Nonsense vorsätzlich erschwert, mag ihr handwerkliches Können noch so suggestiv zur Schau stellen: sie verspielt allemal ihre divinatorische Potenz und damit ihre raison d’être. Es ist symptomatisch für den gegenwärtigen Zustand der deutschen Lyrik, daß am Ende jenes denkwürdigen Literatenkarussels im ZDF es den Altmeistern der Konkreten Poesie Gerhard Rühm und Eugen Gomringer vorbehalten blieb, die Erinnerung an die sprachmagische Herkunft der Dichtung anklingen zu lassen und den Horizont des noch nicht Kodifizierten, also ihre Zukunft, offenzuhalten.
Mit der Verlärmung der Literatur schließt sich die akustische Belagerung des Individuums. Der narzißtische Charakter, der ohnehin nie gelernt hat, für sich und mit sich alleine zu sein, genießt diesen Zustand und wehrt jedwede Konfrontation mit Gebilden ab, deren Andersheit, Schweigen oder „Unverständlichkeit“ seinen unersättlichen Anspruch auf psychodramatische Versorgung unterläuft. Optimisten werden dieser düsteren Diagnose entgegenhalten, daß der sich anbahnende Medienwechsel lediglich das Ventil für die Popularisierung literarischer Texte unter Bedingungen der Massenkultur sei; Dichtung, die sich dieser Instrumentalisierung widersetzt, werde es auch weiterhin geben ebenso wie Leser, die lieber nach innen hören und die Distanz zu ihrem Gegenstand, also den Spielraum ihrer Imagination selbst gestalten möchten. Doch wie alle seltenen und vom Zeitgeist ungeliebten Erscheinungen will auch solch minoritäre Literatur gehegt und gestützt sein, und es ist daher mindestens naiv zu glauben, sie würde von den Großtendenzen des Betriebs – von Spektakelsucht und Vermarktungsdruck, Audiovisualisierung und Verdrängungswettbewerb – unbehelligt bleiben. Längst hat das Unterhaltungsprimat die Maßstäbe der Kritik zersetzt, schon wird der Spaßmacher der Nation als Kandidat für den Büchnerpreis gehandelt.
„Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde“, warnte Friedrich Schlegel einst in seinem Versuch Über die Unverständlichkeit und ahnte bereits vor zweihundert Jahren, daß der Menschheit eines Tages nur die Kunst bleiben würde, für jenen Punkt zu zeugen, „der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.“ Inzwischen wird die moderne Entzauberung der Welt von Agenten und Lektoren, von Quotenwächtern, Redakteuren und Moderatoren verwaltet, die uns unverdrossen versichern, daß nur das Bekannte zu delektieren vermag. Wenn es jedoch einen ästhetischen Grundsatz gibt, der das Summen und Brausen der Unterhaltungsindustrie unangefochten überlebt hat, dann den, daß die Faszination stets vom Unbekannten ausgeht, und daß nur Phänomene, die sich einen Rest an Geheimnis bewahren, auch Vergnügen bereiten. „Nicht zu verstehen, erhöht den Genuß“ notiert Chris Marker in Sans Soleil. Verstehe diesen Satz, wer will.
Jürgen Gottschling