jurgen-gottschling.jpgDie Räder laufen schnell, in der durchrationalisierten Arbeitswelt unserer Gegenwart. Die Welt ist komplex geworden. Jeder von uns nimmt in ihr vielerlei Funktionen wahr und ist vielen Zwängen ausgesetzt. Zugleich wollen unsere Gefühle beachtet sein. Wie gestalten wir unter diesen Bedingungen unser Leben? Welche Werte sollen uns leiten?

Wie Menschen sich beschimpfen und beleidigen, so entwerfen sie ihr Leben, nur andersherum. Als sich Männer noch bei der Ehre packen liessen und Frauen bei der Tugend, gab es viele Witwen, die nicht besonders lustig waren. Seither hat sich die Semantik der Verächtlichkeit geändert; vertrocknet sind ihre früheren Quellen – Ehre, Moral und Gott. Der Autofahrer, dem die Vorfahrt genommen wurde, brüllt nicht «ehrloser Lump», «Dirne» oder «Gottloser», sondern «Vollidiot» oder tippt sich mit dem Finger an die Stirn, um auf denjenigen anatomischen Ort hinzuweisen, wo er das grösste Defizit seines Gegners zu finden glaubt.

Wenn es stimmt, dass sich kulturtypische Invektiven immer auf die Stelle der grössten anzunehmenden Verletzlichkeit des anderen richten, dann offenbart sich die Kultur der Moderne in ihrem gegenwärtigen Stadium als Gemeinschaft der beflissenen Streber. Alle sehen sich als ewige Prüflinge, die sich durch nichts mehr beleidigen lassen als durch die Behauptung, sie seien durchgefallen: Dummkopf, Blödmann, Schwachkopf.

Tumblinge und Spießer

Aber es gibt Beleidigungen, die noch stärker schmerzen: Langweiler, Spießer, graue Maus. Solche Nackenschläge stigmatisieren den anderen als Gefühlsversager, der seiner Bringschuld nicht nachkommt. Noch nie war so viel vom Sinn des Lebens die Rede, von grossen Gefühlen, von der Flucht aus dem Alltag des Kalküls, den Max Weber als stahlhartes Gehäuse beschrieb. Je intimer Menschen miteinander sind, desto mehr erwarten sie voneinander Glück, Faszination und umfassendes Verstehen. So steht also unsere Kultur der Beschimpfung auf zwei Hauptsäulen, Kalkül und Gefühl.

Nimmt man beides zusammen, Vollidiot und Langweiler, dann entsteht ex negativo die Gestalt des perfekten Menschen nach heutiger Vorstellung. Er soll intelligent und empfindsam sein. Das Internet ist voll von Selbstbeschreibungen dieser Art. Ob sie passen oder nicht – sie drücken Lebensentwürfe aus: was Menschen von sich und anderen wollen.

Diese Zweidimensionalität ist bemerkenswert. In der Vergangenheit herrschte meist offene Eindimensionalität. Erinnern wir uns an Zeiten der Gefühlsverachtung, ja der Pathologisierung des Gefühls als «hysterisch» oder «pervers». Selbstbeherrschung und Disziplin waren die obersten Erziehungsziele noch der fünfziger Jahre, aber sie tauchen schon viel früher auf. Andererseits kam es immer wieder zur Apotheose des Gefühls, verbunden mit der Beschimpfung, ja der Verachtung des Verstands. Die letzte kulturelle Aufwallung des Gefühls gegen das Kalkül begann mit Blumenkindern, Joints und den Rolling Stones; sie wurde weiter getragen von Bhagwan-Jüngern, Spontis und Alternativen; und sie erreichte mit der Anerkennung der Homo-Ehe das Steuer- und Sozialversicherungsrecht.

Keine Lust zu garnichts

Inzwischen hat sich die unverblümte Anfeindung der Rationalität im Ornat der Nadelstreifenanzüge, ausgestattet mit Aktenkoffern, Computern, Geld und Coolness, wieder aus dem Alltag zurückgezogen, doch diesmal blieb der Gegenangriff auf das unbeherrschte Gefühl aus. Trotz der Wiederkehr der Hochschätzung des Verstands hat sich die Hochschätzung des Gefühls gehalten. So wurde etwa die alltägliche Begründung eines Nein mit den Worten «Weil ich einfach keine Lust dazu habe» zur puren Selbstverständlichkeit, und kein westlich geprägter Mensch stösst sich noch an der Anti-Mode der formlosen Kleidung oder der visuellen Sexualisierung des Alltags. Hier blitzt Gefühl als Ultima Ratio auf, gegen die es keine Argumente mehr gibt.

Viele sehen keinen Gegensatz mehr zwischen Kalkül und Gefühl. Sie wollen beides. Nur im deutschen Regietheater, das zum Museum der emotionsvibrierenden siebziger Jahre wurde, sind die Manager, Techniker, Ökonomen und Politiker immer noch die Bösen. Regelmässig kamen in der Geschichte der Moderne neue Propheten des Gefühls auf die Bühne, Pietisten, Romantiker, Wandervögel und Mystiker von Heimat, Blut und Boden. Doch sie waren Wiedergänger ohne Chance auf dauerhafte Oberherrschaft. Das Ideal des Verstandesmenschen hielt sich hartnäckig oben, einem Korken ähnlich, der sich nicht lange unter die Oberfläche drücken liess.

Zwischen Gefühl und Kalkül geht ein Pendelschlag hin und her. Das Voranschreiten der Moderne gleicht einem hinkenden Gang, mit einem kräftigen, die Hauptlast tragenden Verstandesbein und einem nachgezogenen, schwächlichen, gleichwohl zum Treten, Ausschlagen und Aufstampfen neigendem Gefühlsbein. Doch nur auf dem starken Bein hüpfend wäre die Moderne nicht weit gekommen. Sie hätte nicht gewusst, was sie will, sie wäre handlungsunfähig gewesen. Die reine instrumentelle Vernunft kann alles, nur eines nicht: Sie kann sich keine letzten Ziele geben, sondern immer nur Zwischenziele. Die Triumphe der instrumentellen Vernunft wären ohne ein Bezugssystem ausserhalb der instrumentellen Vernunft buchstäblich nicht denkbar gewesen. Kein iPod ohne Musik; keine Automobilbranche ohne Romantik; kein Internet ohne Neugier; kein Supermarkt ohne Sinnlichkeit.

Oft und oft hat sich die Konstruktion eines Gegensatzes von Kalkül und Gefühl erneuert: Romantik gegen Aufklärung, linke gegen rechte Gehirnhälfte, Naturwissenschaft gegen Geisteswissenschaft, System gegen Lebenswelt, der Westen gegen den edlen Wilden, Technik gegen Natur, Arbeit gegen Freizeit, und sogar Mann gegen Frau. Wohlgemerkt: Es war gerade von der Konstruktion eines Gegensatzes die Rede, also von einem Wirklichkeitsmodell. Niemand kann beanspruchen, diese Konstruktion durch die Wirklichkeit selbst zu ersetzen. Man kann nur fragen, ob es nicht bessere Modelle gibt, lebenstauglichere, mehr Glück verheissende.

Die Frage nach dem Glück hat viele Menschen des Westens in den letzten Jahrzehnten immer mehr bewegt. Die materiellen und historischen Umstände waren günstig genug, um sich endlich demjenigen Thema zuzuwenden, das sich die Moderne von Anfang an auf die Fahnen geschrieben hat: die Freiheit des Einzelnen und in dieser Freiheit das ganz persönliche Glück. Das Modell eines Gegensatzes zwischen Kalkül und Gefühl hat lange Zeit den Rahmen abgegeben, um das Thema in immer wieder neuen Varianten zu bearbeiten. Bald siegten die Techniker, bald die Euphoriker. Manche Lebensläufe waren eine Folge von radikalen Konversionen: Anfang als Gefühlsmensch in der frühen Kindheit; dann zögerndes, jahrelanges Erlernen von Gefühlskontrolle und kalkulierender Vernunft, im Erfolgsfall Karriere; dann Ausstieg und Bewegung in die Gegenrichtung, Suche nach Sinn, Selbst, Selbstvergessenheit, Spiritualität und reiner Subjektivität; dann Ausstieg aus dem Ausstieg und Versuch, wieder im normalen westlichen Leben Fuss zu fassen.

Im Denken befangen …

Mit der Brille des Gegensatzmodells betrachtet, sind solche Biographien Wechselbäder. Geht man jedoch auf Distanz und wählt eine abstraktere Betrachtungsweise, so tritt eine Gleichförmigkeit zutage, die darin besteht, dass sich der Mensch immer nur an einem der beiden Pole sieht. «Was denn sonst?», könnte man fragen. Eine Antwort darauf scheint in einem Buchtitel von Herbert Marcuse auf: «Der eindimensionale Mensch». Der Begriff ist kritisch gemeint, er fordert dazu auf, nicht eindimensional zu sein.

Logischerweise müsste Marcuse in seinem einflussreichen Buch mindestens den zweidimensionalen Menschen propagieren. Doch davon ist im Text nichts zu finden. Marcuse kommt nicht auf die Höhe seines eigenen Begriffs. Was er propagierte und was in der Folge ungeheuren Anklang fand, war doch wieder nur das alte Lied, die alte Eindimensionalität, nur eben wieder einmal andersherum. Die Menschen sollten den Ornat der Verstandesmenschen ausziehen, um den nackten Menschen zum Vorschein kommen zu lassen. Sie sollten der Herrschaft des Kalküls abschwören und ihren Gefühlen vertrauen. Marcuse forderte nichts anderes als das, was er angriff: den eindimensionalen Menschen.

Marcuse kam aus dem polarisierenden Denken nicht heraus und mit ihm seine Jünger. Eben das ist es, was einen im Rückblick auf diese Zeit den Kopf schütteln lässt: das Entweder-oder, konkretisiert in Theorien, in Lebensentwürfen mit dramatischen Konversionen und in Subkulturen, die aus ihrer Borniertheit eine Tugend machten. Etwa gleichzeitig trat Erich Fromm auf, dessen millionenfach gelesenes Buch das dichotome Denken in klassischer Prägnanz zum Ausdruck brachte: Haben oder Sein. Die Worte wechseln, der Inhalt bleibt. «Haben» ist die Welt des Kalküls, der Technik, der Ökonomie, der instrumentellen Vernunft; «Sein» ist die Welt des Erlebens, des Fühlens, der Kunst. «Haben» ist das Objektive, «Sein» das Subjektive. Lebensentwürfe des Habens entfremden uns von uns selbst; Lebensentwürfe des Seins führen uns zu uns selbst hin. Fromm hinterliess tiefe Spuren; er versorgte die Menschen mit einer klaren Unterscheidung zwischen dem richtigen und dem falschen Leben.

Inzwischen ist die damalige Pauschalkritik des Kalküls Schnee von gestern. Die Mehrheit der jungen Leute will nicht aussteigen, sondern Karriere machen. Was damals «Leistungsterror» hiess, wird heute «Eliteförderung» genannt. Die Politiker beten die Mantras des Kalküls so häufig herunter, dass ihre Worte wirken wie das Rascheln der Blätter im Wind: Innovation, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit. Wenn von Bildung die Rede ist, dann fast nur noch mit ökonomischem Beiklang: Bildung als Rohstoffsubstitut, als Produktionsfaktor, als Standortvorteil.

Der Psychoboom ist abgeklungen; der Scheinwerfer alltäglicher Selbstreflexion ist weitergewandert: weg vom Innenleben hin zur täglichen Lebensbewältigung. Selbstmanagement zählt wieder mehr als Selbsterkenntnis. Ratgeber haben Konjunktur und mit ihnen der kalkulierende, strategische Umgang mit dem Gegenüber. Diplomatie und Höflichkeit werden honoriert, mit Authentizität muss man dagegen aufpassen, sie könnte dumm aussehen. Die Moderne, so scheint es auf den ersten Blick, humpelt weiter wie gewohnt. Aber jetzt macht das wohltrainierte starke Bein des Kalküls wieder einen grossen Schritt. Doch auf den zweiten Blick sieht man: Das Gefühl marschiert kräftig mit.

Erweiterung des Habens durch Können

Kehrt jetzt die Moderne zu ihrem Ursprung zurück? In Renaissance, Reformation und Humanismus ging es um den ganzen Menschen, um die Erweiterung des Habens und Könnens ebenso wie um das Sein, um Kalkül und Gefühl, nicht Kalkül oder Gefühl. Dass dann ein hinkender Gang daraus wurde, hatte vor allem einen wissenssoziologischen Grund: In der Denkwelt des Kalküls gab es klare objektive Bezugspunkte. Über richtig und falsch, besser und schlechter, Fortschritt und Rückschritt können sich alle Mitspieler halbwegs eindeutig verständigen. Inzwischen haben sich Wissenschaft, Technik und Ökonomie, die grossen Systeme des Kalküls, zu weltumspannenden Deutungsgemeinschaften ausgewachsen. Die Moderne machte ihre Fortschritte dort, wo Fortschritt besonders trennscharf definierbar war; sie ging den Weg des geringsten Orientierungswiderstands und der besten Verständigungsmöglichkeit. Sie wurde eindimensional, sie wurde zur kalkulierenden Moderne.

Aber die Ursprungsidee des freien Menschen blieb lebendig. Der Grundgedanke der Zweidimensionalität ist entwaffnend einfach: Was soll alles Können ohne Sein? Es ist absurd, immer weiter an einem Haus zu bauen, ohne richtig darin zu wohnen. Aber in der Artikulation dieses anthropologisch unabweisbaren Gedankens blieb dann oft das ganze Haus auf der Strecke: Brauchen wir überhaupt ein Haus? Genügt nicht eine kleine Hütte? Genügt nicht die Natur?

Wann immer im Lauf der Moderne sich die Stimme des Gefühls gegen die Moderne erhob, prangerte sie Verluste an und forderte ein Zurück. Damit bestätigte sie freilich immer nur das Muster des hinkenden Gangs. Das Kalkül agierte, das Gefühl reagierte. Das Gefühl regte sich auf, und es regte sich auch wieder ab. Immer besser gelang es dem Kalkül, eine in regem Austausch voranschreitende öffentliche Sphäre zu errichten. In der Sphäre des Gefühls gilt dies bis heute als undenkbar. Gefühl blieb Privatsache, eine öffentlich geschützte und über den Markt versorgte Angelegenheit von Einzelnen und ihren Subkulturen. Die öffentlichen Bewegungen des Gefühls waren Protestbewegungen, die sich klar und allgemeinverständlich nur in der Destruktion äusserten, im Konstruktiven aber leer blieben. Der Protest des Gefühls war deshalb regelmässig so beeindruckend und kurzlebig wie ein Strohfeuer. – So scheint es nahezuliegen, den gegenwärtigen Moment in der Kulturgeschichte der Moderne im Sinn des alten Musters zu deuten: Das Kalkül macht wieder einmal einen seiner Riesenschritte nach vorn, damit aber wird bereits das Zucken des Gefühls provoziert – die nächste Romantik steht vor der Tür. Doch diese Projektion ist allzu schlicht gestrickt, weil sie die Mentalität der Menschen als konstant voraussetzt. Fast alle kulturellen Muster haben ein Verfallsdatum, vielleicht auch der hinkende Gang der Moderne. Vielleicht fängt die Moderne demnächst an, genau andersherum zu hinken – dann wäre es freilich vorbei mit ihr. Vielleicht aber lernt sie auch, richtig zu gehen. Vielleicht gelingt ihr der Ausbruch aus der bornierten Dialektik von Kalkül und Gefühl; vielleicht ist sie unterwegs zu ihrem Ursprung; ist sie dabei, die Schwelle vom eindimensionalen zum zweidimensionalen Denken zu überschreiten.

Diese Unterscheidung wirkt einfacher, als sie ist. Sie scheint dazu geeignet, Menschen zu typisieren, aber so ist sie nicht gemeint. Was sie verständlich machen soll, sind Lebensentwürfe, Projekte, Vorstellungen, Weltbilder. Typisierungen von Menschen führen in die Irre. Menschen passen nicht in Schubladen; dafür sind sie zu veränderlich und vielschichtig. Sie sperren sich gegen die analytische Sehnsucht ihrer Beobachter nach einfachen Ordnungen. Typologien von Lebensentwürfen können dagegen ein Instrument des Verstehens sein. Sie rüsten einen aus für die Untersuchung der Frage, was gegebene Menschen gerade im Sinn haben. Bei langfristiger Betrachtung erscheint jeder als Mischungsverhältnis von Projekten, und bei kollektiver Betrachtung sehen wir ein Mischungsverhältnis von vielen einzelnen Mischungsverhältnissen. Dies ist der quasistatistische Rahmen für meine These: Mehrdimensionale Lebensentwürfe sind auf dem Vormarsch, eindimensionale dünnen aus.

Alle Beispiele für eindimensionales Denken lassen sich als Gegensatzpaare darstellen: Arbeit und Freizeit, Öffentlichkeit und Privatsphäre, Erwerbstätigkeit und Familie, Qualifikation und Improvisation, Technik und Kunst, Information und Unterhaltung, Wissenschaft und Kunst, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, System und Lebenswelt.

Grenzgänger

Wie sind die Menschen der Moderne bisher mit alledem umgegangen? – Keineswegs waren sie bestrebt, das Gefühl durch Kalkül zu ersticken. Sie haben vielmehr auf strikte Trennung geachtet. Sie haben diese Trennung vielfältig sozial organisiert: Sie erfanden spezifische Rollenzuweisungen für Mann und Frau; sie professionalisierten Tätigkeiten – hier die Berufe der Kategorie homo faber, dort die Berufe der Kategorie homo ludens; sie unterschieden zwischen der Sphäre der wertneutral zu führenden Diskurse und der Sphäre der Geschmacksachen, die jeder mit sich selbst abmachen müsse; sie teilten den Raum der Wissenschaft in Provinzen auf, zwischen denen es aller Interdisziplinaritätsrhetorik zum Trotz kaum Kommunikation gibt; sie etablierten zwei kulturtypische Vermeidungsimperative, um das jeweils Passende zu markieren: «Bleibe sachlich!» und «Sei nicht so verkrampft!».

Im Lauf der Moderne nahm das Grenzgängertum zwischen den beiden Sphären zu; die Lebensentwürfe der Menschen wurden gemischter. Ein Manager geht zur Meditation ins Kloster, eine mehrfache Mutter macht politische Karriere, ein Steuerberater versucht sich als Künstler. Sind das bereits Beispiele für die Überwindung des eindimensionalen Menschen? In der Regel nicht – es handelt sich meist um sequenzielle Eindimensionalität. Das Hin-und-her-Springen zwischen den Denk-Welten bedeutet nicht die Aufhebung ihrer Trennung. Mit der Kenntnis beider Welten wächst aber auch die Fähigkeit, sie zu integrieren, und die Einsicht, dass zweidimensionales Denken oft sinnvoll sein könnte. Mit Integration meine ich: rational mit Gefühlen umgehen einerseits und Gefühle ins Kalkül ziehen andererseits.

Rational mit Gefühlen umgehen – was bedeutet das? Lange Zeit herrschte die Meinung vor, es sei rational, sie zu unterdrücken. Dann setzte sich die Meinung durch, es sei rational, sie herauszulassen. Beide Meinungen bringen klassisches dichotomes Denken zum Ausdruck. Rationalität als Kernelement der Moderne meint aber etwas ganz anderes als Totschlagen oder Ausleben um jeden Preis. Die neue Formel könnte lauten: Das Kalkül kommt dem Gefühl zur Hilfe, statt es zu unterdrücken oder vor ihm zu kapitulieren.

Oft bleibt es freilich bei der Formel. Wer sie propagiert, macht eine eigenartige Erfahrung: Man rennt offene Türen ein, und gleichzeitig stösst man schmerzhaft mit dem Kopf gegen die Mauer. Die offenen Türen rennt man auf der Metaebene ein, gegen die Mauer stösst man im wirklichen Leben. Alle nicken beifällig, wenn von Yin und Yang die Rede ist, wenn der Mensch als Einheit beschrieben und Synergie von Natur- und Geisteswissenschaften propagieren wird. Aber wenn es konkret wird, dreschen Yin und Yang dann doch kräftig aufeinander ein.

Selbstbeobachtung

Im Umgang mit Gefühlen lässt sich von der Geschichte von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie lernen. Rationalität hiess in der Geschichte des Kalküls nie etwas anderes als gute Beschreibung, Selbstbeobachtung, Selbstkritik, zielorientierte Veränderung und methodisches Denken. Nun scheint die Zeit gekommen, diese Kernidee der Moderne auch auf die Sphäre der Gefühle anzuwenden. Wir sehen Einzelne auf der Suche nach dem sinnvollen Leben; Paare auf der Suche nach der schönen Beziehung; Manager auf der Suche nach der guten Unternehmenskultur; Stadtplaner und Stadtbewohner auf der Suche nach dem lebenswerten öffentlichen Raum; Naturwissenschafter und Techniker auf der Suche nach Antworten auf die ethischen Fragen, zu denen ihre Innovationen führen; Produzenten auf der Suche nach einem Verstehen der Konsumenten. Dem geistigen Magnetismus der Eindimensionalität ist schwer zu entkommen; sie jedoch als eine Art Kulturgesetz anzuerkennen, als unüberwindbare Schranke des Denkens, wäre unmodern. Es handelt sich um eine kollektive geistige Herausforderung, die gerade erst ahnbar wird.

Vielleicht lässt sich die längst abgeflaute Modernitätsbegeisterung der Menschen des Westens durch diese Herausforderung neu wecken. Vielleicht aber sind die Menschen des Westens modernitätsmüde geworden, voller Sehnsucht nach einer Rückkehr des Gefühls, nach einfachen Bildern, Mythen und charismatischen Führern. Vielleicht erleben wir im 21. Jahrhundert ein weiteres Mal, was vor mehr als zweitausend Jahren viele Griechen nach der klassischen Zeit erfasste, nach jenem einzigartigen ersten Aufflackern von Skepsis, freiem Denken, suchender Lebenshaltung und Lust auf neue Horizonte, ohne die es die Moderne Jahrtausende später nicht gegeben hätte. Schon mit Alexander setzte eine Rückkehr zur Magie ein, genährt aus der Sehnsucht nach Simplizität und ungebremstem Gefühl.

Nix kapiert

Vor die Wahl zwischen einer Welt des totalen Kalküls und einer Welt des totalen Gefühls gestellt, hängt die Entscheidung im eindimensionalen Denken davon ab, was man gerade hinter sich gebracht hat. Aus der Tyrannei des Gefühls kommend, haben die Menschen das Aufkommen der Moderne als wunderbare, rettende Ernüchterung begrüsst; doch dann, im stahlharten Gehäuse sitzend, träumten sie oft davon, sich wieder im dunklen Wald des Gefühls zu verlieren.

Dass es einen Pfad zwischen diesen beiden Wegen gibt, ist philosophisch noch kaum auf den Begriff gebracht. Im Alltagsleben aber erwacht dieser Gedanke gegenwärtig zum Leben; viele suchen und tasten, spüren und probieren. Die Schwierigkeit liegt darin, dass zweidimensionales Denken nur über erkenntnistheoretisches Lernen zu erreichen ist. Doch dieses ist nicht entfernt so sinnlich wie die Rückeroberung des Gefühls im Psychoboom der siebziger Jahre, und sein Nutzen ist nicht entfernt so greifbar wie die Rendite von Investitionen in Forschung und Entwicklung.

Beim erkenntnistheoretischen Lernen ginge es beispielsweise darum, sich vom personenbezogenen typologischen Denken zu lösen. Es ginge darum, das Verstehen zu begreifen. Es ginge darum, sich klar zu machen, dass Prozessmuster gemeint sind, wenn von Selbst oder von Kultur die Rede ist. Es ginge darum, die Suche nach Wahrheit auch dort durchzuhalten, wo alles unscharf, erratisch, verworren und flüssig wird. Es ginge dagegen nicht darum, sich von den Wonnen der Eindimensionalität zu verabschieden, sei es von Fussball, Popkonzert oder Sex; sei es von Genforschung, Börse oder Umwelttechnik; sei es vom Schimpfen auf Vollidioten und Langweiler. Zweidimensionalität tritt nicht – des ist sich Jürgen Gottschling sicher – an die Stelle von Eindimensionalität, sondern ergänzt sie.

Jul 2008 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, Zeitgeschehen | Kommentieren