Im Gespräch: Der Schriftsteller und Essayist Pascal Bruckner hofft, dass sich (auch) Frankreich im Angesicht des Terrors wieder auf seine freiheitlichen Werte besinnt. Europa sieht sich einer Doppel-Bedrohung ausgesetzt.

 brucknerPascal Bruckner gehörte zu den aus der 68er-Bewegung stammenden „Neuen Philosophen“, die in den 1970er Jahren mit Linksradikalismus und Marxismus brachen. In seinem Essay „Das Schluchzen des weißen Mannes“ (1984) kritisierte der Schriftsteller und Essayist die Dritte-Welt-Ideologie als Spielart antiaufklärerischen Denkens. Seither polemisierte er in vielen Publikationen gegen die Relativierung westlicher Freiheitswerte im Namen von „Multikulturalismus“ und falsch verstandener religiöser Toleranz und warnt vor einer Unterschätzung der Gefahr, die vom Islamismus ausgeht. Nun begründet er seine Hoffnung, dass sich die westlichen Gesellschaften wieder selbstbewusster um ihre freiheitlichen Werte scharen. Bruckner ist auch ein erfolgreicher literarischer Autor; 1992 verfilmte Polanski seinen Roman „Bitter Moon“.

? Wie fühlt es sich an, in Paris zu leben, wenige Wochen nach dem Terror-Schock?

! Wie im Herzen der Geschichte. Für einige Wochen war Frankreich das Zentrum der freien Welt. Aber die Menschen haben Angst. Jeden Tag erwarten wir, dass etwas Schreckliches passiert. Und wenn es dann Nacht wird, sagen wir: Na, immerhin war heute ein sicherer Tag. Kürzlich gab es eine Schießerei in Marseille, die mehr mit Bandenkrieg und Drogenhandel zu tun hatte. Aber wir wissen, dass es Verbindungen zwischen kriminellen Gangs und islamischen Extremisten gibt. Viele von ihnen beginnen ihre Karrieren als Gangster, landen im Knast und werden zu Dschihadisten. Diese Übergänge sind sehr beunruhigend. Äußerlich lebt man in Paris scheinbar unbeschwert weiter, als wäre nichts gewesen. Tatsächlich aber sind alle verängstigt, besonders ist das der Fall, wenn man Kinder hat.

? Und noch mehr, wenn man Jude ist …

! Ja, jüdische Schulen, Synagogen und Gemeindezentren müssen jetzt von schwer bewaffneten Polizisten und Soldaten bewacht werden. Das ist wirklich furchterregend. Muslimische Jugendliche sind heute die Hauptverbreiter des Antisemitismus in Frankreich. Und das ist nicht dieselbe Art von Antisemitismus wie der frühere eines Jean-Marie Le Pen. Dieser rechte Antisemitismus war verbal, doch die muslimischen Antisemiten wollen schlagen, töten, sie wollen Verhältnisse wie in Teilen des Nahen Ostens hierher importieren. Deshalb denken viele französische Juden daran, das Land zu verlassen und nach Israel zu gehen. Das aber wäre eine entsetzliche Lösung. Die Juden sind ein Teil Frankreichs.

Es hat frühe Warnzeichen gegeben. So stellte eine Untersuchung 2004 gravierende Störungen des Lehrbetriebs durch muslimische Schüler und Studenten fest. Man konnte die Geschichte der Shoah nicht mehr unterrichten, man konnte Voltaire nicht mehr unterrichten, da er antimuslimisch sei, man konnte Madame Bovary nicht unterrichten, weil der Islam Ehebruch verbietet. Doch all das wurde unter den Teppich gekehrt.

Der Aufschrei in Frankreich nach den Terrorangriffen signalisierte eine Wiederbesinnung auf die westlichen Werte. War das ein Strohfeuer oder hat es anhaltende Wirkung?

Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Ja, es gab diesen Moment der Wut und des Zusammenschlusses aller um die republikanischen Werte. Doch was wird die Oberhand gewinnen – der Stolz oder die Furcht? Wenn es zu neuen schweren Terrorattacken kommt, werden die Leute so verängstigt sein, dass sie den Forderungen der Dschihadisten nachgeben.

Glauben Sie wirklich?

Oh ja. Hinter den Dschihadisten stehen nämlich die Fundamentalisten, und es gibt eine Art verkappte Zusammenarbeit zwischen beiden. Die Fundamentalisten sagen: Wenn ihr unsere Sorgen und Beschwerden nicht akzeptiert, habt ihr die Killer am Hals.

Wie würde ein solches Nachgeben denn genau aussehen?

Es würde bedeuten, das Verbot der islamischen Verschleierung aufzuheben und eine ganze Reihe von muslimischen Geboten und Verboten zu akzeptieren, wie etwa: keinen Sportunterricht mehr für Mädchen in den Schulen, keine von beiden Geschlechtern benutzte Schwimmbäder, spezielle Strände für Frauen im Sommer, weibliche Doktoren für weibliche Patienten in den Krankenhäusern. Alles Mögliche also, das darauf hinausläuft, der muslimischen Bevölkerung ein gesondertes Recht zuzugestehen.

Besteht wirklich die Gefahr, die französische Gesellschaft könnte Derartiges akzeptieren?

Jetzt gewiss noch nicht. Wenn die Terroristen auch, wie ich fürchte, in einem schon gesiegt haben: Es wird kaum noch religiöse Karikaturen geben. Der Preis dafür ist einfach zu hoch geworden. Dazu kommt, dass sich die extreme Linke alle den oben genannten Forderungen bereits unterworfen hat. Sie ist heute die stärkste Unterstützerin des Islamismus in Frankreich – alles im Namen des Respekts vor fremden Religionen.

?  Die westlichen Werte hält sie für imperialistisch und kolonialistisch, und deshalb müssten wir gegenüber den Muslimen Abbitte leisten, indem wir sie tun lassen, was immer sie wollen. Es gibt eine große, beunruhigende Neuaufstellung der Linken und extremen Linken entlang dieses Themas. Ein Teil der extremen Linken ist es auch, die in Frankreich am stärksten den Antisemitismus schürt – umbenannt in Antizionismus. Marxistische Intellektuelle wie Alain Badiou und Etienne Balibar feuern den Verdacht gegen die Juden an.

!  Die extreme Linke hat sich den Forderungen bereits unterworfen. Sie ist heute die stärkste Unterstützerin des Islamismus in Frankreich – alles im Namen des Respekts vor fremden Religionen
?   Finden sich denn aber unter den französischen Muslimen nicht auch gemäßigte Stimmen? Welche Rolle spielen sie in der Debatte?

!   Eine sehr wichtige. Es gibt einen Teil der muslimischen Gemeinden, der die Dinge ändern und so leben will wie jeder andere in Frankreich. Darunter sind viele Frauen, die nicht verschleiert gehen und im Haus gehalten werden wollen. Diese Muslima und Muslime fordern den säkularen Staat auf, nicht zu kapitulieren.

!  Viele muslimische Familien sind zudem damit konfrontiert, dass ihre Kinder nach Syrien und in den Irak gehen, um zu kämpfen, und auch sie wenden sich an die Regierung, an den Staat, um sie unterstützen. Es sind übrigens nicht nur muslimische Familien, sondern auch christliche, deren Kinder buchstäblich über Nacht konvertieren und in den Dschihad ziehen.

Wie geht das vor sich? Sie sagten einmal, die Indoktrination erfolge nicht in Moscheen, sondern im Internet.

!   Ja, denn dort erhält man sozusagen eine Sofort-Erlösung. Es wird den jungen Leuten gesagt: Ihr seid von Gott auserwählt, die Ungläubigen, die Zionisten zu bekämpfen. In den Vorstädten ziehen Anwerber umher, die den Gläubigen erklären, die Moschee sei zu liberal und sie verkündeten den wahren Islam. Dabei sind viele Jugendliche praktisch analphabetisch, können kaum Arabisch, haben den Koran nicht gelesen. Sie kennen nur den Katechismus, den ihnen die Rekrutierer für den Dschihad vorgeben. Sie werden mit grotesken Versprechungen wie der nach 72 Jungfrauen im Paradies gelockt – als seien Jungfrauen angemessene Sexualpartner für erwachsene Männer!

Dies ist ein sehr rückständiges Konzept, das aus der Rezeption des Koran gestrichen werden sollte. Doch eine kritische Neulektüre der heiligen Texte, wie sie im Christentum im 16. und 17. Jahrhundert begann, findet im Islam nicht statt. Es gibt zwar einige liberale muslimische Intellektuelle in Frankreich, die sich darum verdient machen, doch sie sind sehr isoliert und werden bedroht.

Sie werden mit grotesken Versprechungen wie der nach 72 Jungfrauen im Paradies gelockt – als seien Jungfrauen angemessene Sexualpartner für erwachsene Männer!

?   Gibt es also gar keine Aussicht auf eine Reform des Islam?

!   Doch, Tunesien ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine muslimische Gesellschaft unter liberalen Vorzeichen aussehen könnte. Man ist dort dem Fluch des Islamismus entkommen und versucht, eine Balance zwischen Religion und Säkularismus zu halten. Aber es gibt in Tunesien eine Menge kleiner dschihadistischer Gruppen an der Grenze zu Algerien. Viele tunesische Jugendliche, es dürften bis zu 4000 sein, gehen zum IS nach Syrien, und wenn sie zurückkommen, könnten sie den Krieg gegen die säkulare Regierung daheim aufnehmen.

Insgesamt muss uns klar sein: Der Kampf gegen den Islamismus wird hart und lang sein. Barack Obama war im Irrtum, als er den Krieg gegen den Terror für beendet erklärte. Dieser Krieg, bei dem es sich um einen Weltkrieg handelt, beginnt erst. Vielleicht werden erst unsere Enkel sein Ende sehen. Der Westen kann ihn jedoch nicht ohne die Unterstützung der Muslime gewinnen.

?   In westlichen Gesellschaften scheint die Bereitschaft erodiert zu sein, sich mit den eigenen liberalen Werten zu identifizieren und für sie einzustehen. Warum?

Das ist Resultat eines langen Prozesses, der eine Kombination von Ursachen hat. In Frankreich spielten die Entkolonisierung und die Erkenntnis des Ausmaßes der Kollaboration mit den Nazis im Zweiten Weltkrieg eine Rolle, zudem die Tatsache, dass Frankreich nicht mehr die führende Macht in Europa ist. Dazu kam die wirtschaftliche Krise – all das hat zu dem Eindruck geführt, das französische Zivilisationsmodell sei auf dem absteigenden Ast.

Diesem geringen Selbstwertgefühl ist man mit einem gewissen Zynismus begegnet, mit der sarkastischen Haltung, wir seien nun einmal ein zerfallendes Land und wüssten das nur zu gut. Der Terrorangriff war in diesem Sinne vielleicht ein Weckruf. Wir müssen uns jetzt fragen, ob wir eine Gesellschaft voller Selbstzweifel sein wollen oder ein starkes Europa, das um seine Werte herum geeint ist.

Feb 2015 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren