Meine Gegenwelt dauert zehn bis dreißig Minuten – und spielt sich im Bett ab. Dieser Satz ist im höchsten Maße Missverständnissen ausgesetzt, ich muss ihn sofort erläutern: Ich rede von den ersten Minuten nach dem Aufwachen. Immer wenn die böse Außenwelt es erlaubt, bleibe ich noch zehn Minuten liegen und lasse die Einfälle kommen, wie sie wollen. Heute denke ich über das Sein und das Nichtsein und über das Denkmal- und Baurechtsamt der Stadt Heidelberg nach und störe aber das Durcheinander solcher Einfälle nicht; ich genieße diese Zeit der Phantasie.

Camera Obscura

Ja, ich bin kein Frühaufsteher, die Arbeit wartet auf mich, ich weiß das auch und beginne bald meinen keineswegs methodisch angelegten Alltag. Aber diese Sekunden lasse ich – das montagliche Gespräch mit dem OB ist heute 120 geschenkte Minuten später – den Tag warten. Ich genieße die Bettwärme, ich dehne die Glieder, ich döse nicht dahin, sondern verweigere hellwach jede rationale Abfolge und überlasse mich den Bildern, die mir einfallen, und Eindrücken, die mir auffallen. Am liebsten sind mir Licht-Schatten- Spiele an der Zimmerwand, Lichtflecken und Helligkeitsstufen an der Decke. Unvergessen bleibt mir das Hotelzimmer, dessen Fensterladen durch glückliche, mir unbekannte Fügung – war es ein Loch im Laden, oder standen nur seine beiden Flügel besonders günstig? – einen Camera-obscura-Effekt erzeugte: In einer mäßig belebten Fussgängerzone gingen an einem frühen Sommermorgen Menschen und Hunde seitenverkehrt und auf dem Kopf als Schattenriß durch mein Zimmer.
Aha, dachte ich mir, dieses Schaustück meinen wohl die Leute, wenn sie den in Mode kommenden Ausdruck «Gegenwelt» gebrauchen, auf den ich bis dahin nicht verfallen war, weil ich glaubte, es gebe nur eine Welt. Zwar hatte ein süditalienischer Feuerkopf von unendlich vielen Welten gesprochen, aber er wird wohl nur an unendlich viele erdähnliche Himmelskörper in dem einen, dem unendlichen Universum gedacht haben. Seitdem habe ich meine Gegenwelt, auch wenn es alltäglich in ihr nicht so belehrend zugeht wie damals in Hamburg. Allerdings ist sie bunter: Farbeindrücke mischen sich mit Musikfetzen; ärgerliche Szenen des Vortags kreuzen sich mit Planskizzen für die Zeitfolge von heute. Briefentwürfe tauchen auf, daneben freche Antworten, die ich gestern hätte geben wollen, die ich aber unterdrückt habe. Ich bedaure nichts, ich wünsche nichts. Willensregungen und Frühstücksgelüste ruhen noch. Es ist das morgendliche Chaos von Bildern, dem ich mich überlasse. Ich meditiere nicht, ich reflektiere noch nicht, das wäre alles zu konzentriert, zu anstrengend und zu abwehrend. Nein, in meiner Gegenwelt ist alles zugelassen, sogar das, was nicht auf dem Kopf steht.
Natürlich kann es bei dem verrückten Gebräu nicht bleiben; ich beende die Viertelstundenabsenz; ich suche meine Socken und die Brille. Dann hat die «Welt» mich wieder. Ich nehme die vorgeschriebenen Handgriffe vor, und als ordentliches Weltmitglied beginne ich nachzudenken: Welt ist alles, was der Fall ist, weiß ich mit Lichtenberg. Dann ist «Gegenwelt» alles, was nicht der Fall ist. «Gegenwelt» kommt damit groß heraus; sie ist nicht nur das frühmorgendliche Gewaber meiner Seele. Sie dehnt sich unendlich aus. Sie ist größer, anständiger und schöner als alles, was der Fall ist. Das Wort bekommt neue Färbung, füllt sich mit Erträumtem, Utopischem, Poetischem.

„Das ist keine Pfeife“

Als René Magritte eine gewöhnliche Tabakpfeife malte und dazuschrieb „Ceci n’est pas une pipe“ – „dies ist keine Pfeife“), da öffnete er in der sichtbaren Welt ein Tor zur Gegenwelt. Denn was er gemalt hatte, war keine weltliche Pfeife, sondern eine Gegen-Pfeife und wurde dadurch eine Über-Pfeife. Diese gegenweltliche Pfeife hatte mit den gewöhnlichen Alltagspfeifen etwas zu tun, aber sie bildete sie nicht ab, sondern sie verneinte sie.

magritte_05.jpg Sie gab zu, daß man mit ihr nicht rauchen kann, und verdichtete sie dadurch. Sie bewies, daß Schein mehr sein kann als Sein. Wie das Wort schon sagt, hat «Gegenwelt» etwas mit Welt zu tun – so wie die Pfeife Magrittes mit «normalen» Pfeifen. Verlöre sie diesen Bezug völlig, wäre sie nur versponnen. Aber sie verstummt, fällt man ihrer Negationsbewegung in den Arm. Auch ein scheinbar leeres schwarzes Quadrat hat noch mit Welt zu tun; nicht nur Malewitsch hat es bewiesen. Im Vergleich dazu gab Magritte sich noch immer zu weltlich-pädagogisch.
Bilder sind eine Gegenwelt. Schon eine Fotografie gehört ihr zu. Könnte man diesen Gedanken nicht ausweiten? Ist nicht alle Kunst Gegenwelt? Selbst die Architektur, die an Bedürfnisse, Materialien und handwerklich-technische Bedingungen gebunden ist, schafft doch manchmal Gegenwelten: die Pyramiden in Gizeh und im Louvre. Der Hortus Palatinus ist eine begehbare Gegenwelt. Auch Gedichte sind Gegenwelten. Dante schilderte die Hölle, aus der noch niemand je auf die Erde zurückgekommen ist. Er konnte sie nicht gesehen haben. Aber er stieg hinab und schuf das genaueste Bild der Korruption (da drängt sich in den fröhlichen Morgen schon wieder das Baurechtsamt) aber nicht unseres schönen Dorfes HD, sondern der schönsten und reichsten Stadt der Welt. Dante ging ins Jenseits, um Dichter der irdischen Welt zu sein.

Das Wort «Hund» hat etwas mit dem Hund zu tun, aber sagt zugleich: «Ich bin nicht der Hund.» Wie nahe hätte es gelegen, das Bellen des Hundes oder das Miauen der Katze nachzuahmen, um das sprachliche Zeichen für Hund oder Katze zu erfinden. Aber durch direkte Imitation sind wohl die wenigsten Wörter entstanden; die Lautmalerei ist eher ein zweitrangiger Effekt. Das Wort «Hund» verzichtet auf den primitiven Effekt, das Bellen nachzuahmen. In der Kindersprache kommt «Wauwau» vor. Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet dieses Kinderwort, datiert es aber leider nicht; es scheint erst spät aufgekommen zu sein, während «Wauwau» in übertragener Bedeutung als «Schreckgespenst», als Teufel und Anstandswauwau, besonders für Mädchen auf Bällen, seit dem 17. Jahrhundert belegt ist. Das sieht nach sekundärer, nach kindlich tuender oder ironischer Entstehung aus.

Das Mystische „Alles was der Fall ist“?

Ich weiß nicht, ob fromme Gemüter in ihren Gefühlen verletzt sind, wenn ich frage, ob nicht auch Himmel und Hölle, Engel und Jüngstes Gericht so etwas wie Gegenwelten sind. Fragen wird man ja wohl dürfen; etwas Poetisches haben diese Vorstellungen jedenfalls allemal; so haben sie die Maler vielfach inspiriert. Ich hüte mich, diesbezüglich etwas zu behaupten. Hingegen behaupte ich mit aller Zuversicht: Meister Eckhart hat mitten in der Sorbonne folgende Überlegung vorgetragen: Sofern ein Ding in der Seele ist, ist es kein Ding mehr, sondern bewegt sich auf das Gegenteil des Seins zu, vadit ad oppositum ipsius esse. Eckhart illustriert diesen Gedanken am Bild: Nimmst du das Bild als Ding, dann führt es ab vom Bildcharakter. Dann nimmst du es als Leinwand oder Holz. Eckhart folgert: Alles, was zu Seele und Geist gehört, hat den Charakter des Nicht-Seienden. Vor allem ist das Wort ein Gegen-Ding, und deswegen, erklärt Eckhart, sage der Evangelist nicht, am Anfang war das Sein, sondern er sagt: «Im Anfang war das Wort.» Andere dachten Gott als den Felsen des Seins. Davon kehrt Eckhart sich ab. Er dachte Gott als das, was nicht der Fall ist. Er dachte Gott als Wort und Bild und Geist.

Die Welt ist alles, was der Fall ist. Dann ist die Gegenwelt alles, was nicht der Fall ist. Manche nennen es «das Mystische». Dazu raffe ich mich nicht auf; ich sinniere nur über Magrittes Pfeife, die keine ist. Aber morgen früh, wenn ich die heimlichen Minuten beende, denke ich nicht mehr verächtlich von meiner kleinen, verhuschten Gegenwelt. Ich werde gegenweltlich konsolidiert nach meinen Socken suchen und mich dem (das habe ich mir jedenfalls fest vorgenommen) mit Baudenkmälern, dem Baurecht und dem Weltkulturerbe Heidelberg beschäftigen.

Und nämlich überlegen, ob ich das mir zur Verfügung gestellte Schreiben der Damen und Herren vom Baurechtsamt der Stadt Heidelberg an einen Delinquenten bewerte – und ob ich dem gewachsen sein werde. Mir scheint während besagter mir von mir geschenkten zehn bis dreißig Minuten, daß ich diesem Denkmal- und Baurechtsamt seit ich denken kann, Unrecht getan habe, daß dies Amt zu tun hat mit umzusetzender Philosophie gefallener Gartenzwerge, mit dem Sein sowohl also, wie mit dem Nichtsein und überhaupt. Und daß, was ich freilich erstmals und anhand vorgenannten Schreibens erstmals demütig mir zur Kenntnis habe kommen lassen, Großes – wie der nichtdurchkommenden Feuerwehr in der Unteren Srasse wegen verbotenen Markisen – aus diesem Amt hinaus in die Welt getan wird. Davon jedoch morgen. Oder spätestens übermorgen.


Okt. 2007 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton | Kommentieren