Hermann Josef Schmidt über Nietzsches Religionskritik. Über Nietzsches Religionskritik ist viel geschrieben worden, und vieles davon waren eher oberflächliche Analysen. Hermann Josef Schmidt hat nun einen Aufsatzband vorgelegt, der Nietzsches zunehmend radikale Ablehnung des Christentums aus ihren Ursprüngen heraus plausibel erklärt …
Friedrich Wihelm Nietzsche, ein kaum rubrizierbarer, in manchem äußerst problematischer philosophischer Querkopf, der „Generationen zu denken gab“ (Reiner Bohley), zeichnet sich in ungewöhnlicher Weise durch eine charakteristische Verbindung diverser Fähigkeiten sowie Intentionen aus: so ist er zwischen Georg Christoph Lichtenberg und Karl Kraus sowie Karlheinz Deschner der wohl brillanteste Aphoristiker und Stilist der deutschen Sprache, ein luzider Kritiker, sensibler wie eigenwilliger Interpret, mit Arthur Schopenhauer wohl bekanntester Vorläufer der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds, einsubtiler Psychologe ohnedies, ein Seismograph mit bis in die europäische Frühgeschichte zurückgreifenden meist genealogischen Perspektiven sei es des Zeitgeists sei es von dessen Defiziten, ein angesichts tradierter Denk- und Gefühlsblockaden nicht selten wütend revoltierender Aufklärer hoher rhetorischer Qualität mit zuweilen religionsstifter nahen Attitüden bei nicht geringem destruktiven Potential und beeindruckenden therapeutischen Einsichten, alles in allem wohl noch immer „die nach Leben und Werk am stärksten verfälschte Erscheinung der neueren Literatur- und Geistesgeschichte“.
Nietzsche ist ein Autor, bei dessen Lektüre sich wohl fast jede(r) in einem geistigen Kraftfeld seltener Intensität bewegt. Mit dem kaum vermeidbaren Effekt freilich, dass fast jeder Leser den eigenen Nietzsche’ zu haben scheint; und dass die akademische Nietzscheinterpretation seit mittlerweile mehr als 100 Jahren zwar keineswegs auf der Stelle trat oder sich lediglich nur im Kreise bewegte, in ihrem Mainstream sich jedoch selten einem Jargon mancher Eigentlichkeit verweigerte, weshalb sie trotz aller zum Teil immensen Verdienste von einem auch nur bedingt nietzscheangemessenen oder tiefenschärferen interpretativen Konsens leider noch immer so weit entfernt ist, daß Fragen nach Ursachen und Folgen dieser bemerkenswerten Kon stellation nicht weiterhin ausgeblendet werden sollten.
Nun hat sich der Verfasser zwar auch dazu seit langem mehrfach punktgenau – interpretationskritisch zu Wort gemeldet, doch einige der Ursachen besonders geringer Übereinstimmung vieler Interpreten sind schon deshalb bei Friedrich Nietzsche selbst zu lokalisieren, weil er häufig sei es quer zum Zeitgeist sei es quer zu dominanten interpretativen Traditionen bzw. ‘Zugriffen’ steht. Dazu gehört nicht nur, dass er von Kindesbeinen an und bis in seinen geistigen Zusammenbruch primär aus höchst eigenwillig konstruierten ‘griechisch’-tragischen Perspektiven fühlt, denkt, argumentiert sowie wertet und dass er zwischen seinem Denken, Werk und Leben einen sehr engen Zusammenhang ‘setzt’, sondern auch, daß er in eher ungewöhnlicher Offenheit zumal in einigen seiner späteren Schriften betont, sein Denken und Fühlen sei in hohem Maße durch frühe Erfahrungen – genauer: durch den sehr frühen Verlust seiner Kindheit – nachhaltig beeinflusst. Da Aufzeichnungen schon des Schülers diese Sichtweise bestätigen, kann mit besten Gründen von einer sich über die gesamte wache Lebenszeit Nietzsches erstreckenden Kontinuität dieser Selbstsicht gesprochen werden.
Umso erstaunlicher freilich ein dreifacher Sachverhalt. Einerseits, dass Nietzsches früh entwickelte dominante ‘griechisch’-tragische Perspektiven bei kaum einem Interpreten eine zentrale Rolle spielen; und viele davon nicht einmal etwas zu ahnen scheinen. Andererseits, dass die akademische Nietzscheinterpretation in ihrem ehrwürdigen Mainstream bei allen Unterschieden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sich der Einsicht größtenteils noch immer zu entziehen sucht, dass das Forschungsthema der Genese dieses die Bedeutsamkeit seiner eigenen Genese unterschiedlichen Orts nachdrücklichst betonenden Genealogen Nietzsche – „sein Denken hat sich entwickelt, und wir müssen es in seiner Entwicklung nachvollziehen“ – nicht weiterhin als wenig interpretationsrelevant, da Interpretenfreiheit vielleicht allzusehr einschränkend sowie zu arbeits- und zeitaufwendig, zu marginalisieren ist. Jedenfalls blieb die akademische Nietzscheinterpretation seit ihrem Beginn in den 1890er Jahren bis in die Gegenwart trotz langjähriger Bemühungen bestimmt durch genetische Abstinenz – als ob Nietzsche erst als Professor der Altphilologie in Basel oder bestenfalls als Leipziger Doktorand zu denken und zu lesen begonnen hätte! – und durch solcherart bedingte basale Defizite.