Zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn: „Der“ Deutsche:
„Der deutsche Charakter zeichnet sich aus durch gemütsbetonte Veranlagung, durch Arbeitsamkeit und Zähigkeit, Sinn für Zucht und Ordnung, die Fähigkeit, Anregungen jeder Art selbständig umzugestalten und bs. durch eine auf alle Kulturzweige sich ertsreckende Begabung“
Aus: Der Neue Brockhaus 1938
Wozu es Nationen gibt, habe ich nie recht verstanden. Und nun aber genau diejenigen, die am liebsten von den Nationen, von der zumal, am liebsten sprechen, konnten es mir am allerwenigsten erklären. Nicht einmal versucht haben sie´s, all die engagierten Nationalisten und ihre Widersacher, die engagierten Anti-Nationalisten.
Alleweil höre ich um mich herum die einen wie die anderen sagen, dass ich ein Deutscher bin. Jedoch verstehe ich ihre Emphase nicht so ganz: Was sie mir nämlich versichern, das bezweifle ich doch gar nicht; will es gern glauben, es ist mir seit geraumer Zeit auch recht geläufig. Jedoch werden es die Leute nicht müde, mir diese bescheidene Tatsache – in welcher Absicht auch immer – häufig vorzubringen. Ich spüre es aus den von ihnen verwendeten Worten, dass sie das Gefühl haben, als würden sie damit etwas bewiesen haben, als hätten sie mich über meine eigene Natur aufgeklärt. Und nun hätte ich von Stund an entsprechend – als Deutscher nämlich – mich zu verhalten. Wie verhält man sich nun aber als rechter, als „richtiger“ Deutscher? So vielleicht?
Richtiges Rollenverhalten
Soll dafür ein rechter richtiger Deutscher stolz sein: dass es „Kameraden“ gibt, die die Fahnen hoch halten in mehr oder weniger fest geschlossenen Reihen? Soll ich stolz sein ? Soll ich mich genieren ? Soll ich die Verantwortung übernehmen? Und wenn ja, wofür? Soll ich mich verteidigen? Und wenn ja, wogegen? Ich weiß es nicht, wenn ich aber das Gesicht meines Gegenübers aufmerksam betrachte, kann ich erraten, welche Rolle er mir zugedacht hat, ich kann diese Rolle ausschlagen oder akzeptieren. Aber selbst, indem ich sie ausschlage, werde ich sie nicht los; vielmehr zeichnet sich in der Miene meines Gegenübers die Reaktion auf meine Reaktion ab: Empörung oder Genugtuung, Billigung oder Wut, darüber nämlich, dass ich mich als Deutscher so oder anders verhalte.
Meine Nationalität ist also keine Qualität, sondern eine Erwartung, die andere in mich setzen. Natürlich nicht nur eine unter vielen derartigen „Rollenerwartungen“. Auch hinsichtlich meines sozialen Status (als Journalist zwar: überall dabei zu sein, aber: nirgendwo dazugehören – schluchz), meines le(i)digen Familienstandes, aber auch meines Alters wegen, treten mir in dieser wie in anderen Gesellschaften auch, gewisse Ideen gegenüber, die mich zu dem formieren oder deformieren sollen, was ich in den Augen der Gesellschaft bin: also etwa der Bewohner einer Stadt, in der ausschließlich Geistesriesen leben, die alleweil recht haben, keiner mehr von jedenfalls jenen „Linken“, die ich „link“ zu nennen beliebe, ein (8und) Endsechziger, kein Familienvater und so weiter.
Jedoch sind alle diese Bestimmungen um so leichter abzuschütteln, desto handgreiflicher sie sind. Die Nationalität aber – die abstraktest-illusionärste unter ihnen – ist die mit Abstand hartnäckigste. Da aber kann ich damit punkten, nicht nur nicht kein Deutscher, sondern sogar ein in Heidelberg geborener, ein wirklicher Kurpfälzer zu sein.
Geschichtsbüchern trauen?
Traute ich ausnahmsweise den Geschichtsbüchern ganz – so hat es, vielleicht vor dem Ersten Weltkrieg, eine Zeit gegeben, in welcher Nationalität mehr bedeutete und war, denn psychologische Größe. und erkläre es mir so: Auf dem Weg von der steinzeitlichen Urhorde über andere mehr oder minder merkwürdige solche hin zur planetarischen Industriegesellschaft scheint die Entfaltung der Produktivkräfte irgendwann im neunzehnten Jahrhundert einen Punkt erreicht zu haben, wo die souveräne Nation ihnen ein optimales Organisationsprinzip bot – aus dieser fernen Zeit stammen vermutlich Beschwörungsformeln wie „Buy British“, „Deutschland, Deutschland über alles“, La Grande Nation“ oder „Deutsche Wertarbeit“.
Seither haben sich die produktiven – gleichermaßen wie die destruktiven – Kräfte, über welche die Menschheit verfügt, solcherweise weiterentwickelt, dass die Nation als Form ihrer Organisation nicht nur obsolet, sondern zu einem lebensgefährlichen Hindernis geworden ist. Nur am Biertisch und von tumben Glatzen auf der Straße (wie auch von rechten Rechtsanwälten) – wird sie noch buchstäblich oder sonstwie ernst genommen.
Nationale Identität ?
Wir haben es sehr spät zu einer nationalstaatlichen Identität gebracht, und wir haben uns nie sehr sicher in ihr gefühlt. Daher mag der hysterische Überschwang rühren, mit dem in diesem unserem Land seit 1870 der sogenannte „nationale Gedanke“ genährt wurde und wird. 1945 ist uns diese Identität abhanden gekommen, und zwar so gründlich, dass man sich muss fragen dürfen, ob von einer deutschen Nation überhaupt noch die Rede sein kann. Für einen Frankfurter – mittlerweile sogar für einen an der Oder – liegt doch, zum Beispiel, New York vor der Tür. Aber, natürlich, macht uns dies nicht gleichzeitig zu Kosmopoliten. Und das Scheinbild der Nation stellt dazu eine seelische Möblierung
„Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist“, ließ Goethe im „Faust“ den gelehrten Bakkalaureus noch sagen, wogegen Herder bereits vor 200 Jahren, als die Fürsten, deren Höflinge und Minister sowie die meisten „Gebildeten“ Deutschlands noch des Französischen als neuer Herrensprache bedienten, der studentischen Jugend riet: „Lernt Deutsch, ihr Jünglinge, denn ihr seid Deutsche!“
Gott mit uns !
Angefacht von aufkommendem Nationalismus des von der Französischen Revolution aufgeweckten, selbstbewußten Bürgertums, wurden dem Begriff „deutsch“ im 19. Jahrhundert immer positivere Bedeutungen angedichtet. Zunächst war es nur die „Gemütlichkeit und Herzlichkeit“ (Görres), dann, nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich, auch das Fehlen jeglicher Furcht, das schon die Dichter der Freiheitskriege behaupteten. Bismarck machte einige Jahrzehnte später daraus: „Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt!“ – eine scheinbare Abschwächung, aber der angeblich als einzige Ausnahme gefürchtete Gott war längst zu einem Landsmann, zu einem deutschen Gott und als solcher zu einem Helden geworden! Und nun, da wir alle Papst sind, ja sowieso. Ernst Moritz Arndt hatte ihn bereits dazu gemacht, sein „Deutscher Trost“ zählt zunächst zwei ausführlich beschriebene, angeblich deutsche Tugenden auf, die sich verkürzt als Treue und Freiheitsdrang bezeichnen lassen, und schließt dann knapp: „ …
deutscher Gott und deutscher Stahl, sind vier Helden allemal“. Folgerichtig war dieser Anspruch, auf die Kurzformel „Gott mit uns!“ gebracht, noch bis ins 20. Jahrhundert hinein den Koppelschlössern und Köpfen deutscher Soldaten eingeprägt, die dann aber letztlich keine guten Erfahrungen damit gemacht haben.
Zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn
Bekanntlich schwanken wir Deutschen zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Größenwahn. Uns von Nachbarn angediente Kollektivbeschimpfungen tun uns gut, wir dürfen kollektiv beleidigt sein, unser Selbstmitleid wird gestärkt, unsere zerüttete Identität richtet sich auf. Gott oder wem immer sei Dank, niemand kann uns leiden!
Beschimpfungen ? Aber richtig !
Unglücklicherweise zeigt dieses Schutzschild der Rundum-Beleidigungen neuerdings Risse. So musste eine um das Ansehen der Deutschen im Ausland stets besorgte Tageszeitung gerade melden, dass in Frankreich der gute alte „Boche“ nahezu außer Gebrauch geraten ist. Gut hundert Jahre tat das Schimpfwort, dessen Herkunft je nach wissenschaftlicher Laune entweder auf tête de boche = Holzkopf oder, noch älter, auf caboche/cabos = Dickschädel zurückgeführt wurde, gute Dienste. Jetzt ist kein Ersatz in Sicht. Denn das von Carrère im Auftrag der Pariser Polizei herausgegebene Wörterbuch des Argot verzeichnet nur matte Synonyme: haricot verde (=grüne Bohne), Fridolin, frisé (=gekräuselt) und das unvermeidliche, gemeineuropäische „Fritz“.
Schwächlich auch, was die Italiener anbieten. „Crauti“ ist angloamerikanischer Abklatsch, „crucchi“ beleidigt möglicherweise nur die Behinderten. Die Dänen haben rein gar nichts vorzuweisen, außer den „Polse-Tysker“ (=Wurst-Deutschen), eine schwache Replik auf – längst aus der Mode – die Bezeichnung „Speck-Dänen“.
Im Westen schwenken nur noch die Holländer das aufrechte antideutsche Fähnlein. „Moffen“, etymologisch mit Muffel verwandt bezeichnete es ursprünglich einen ungehobelten Klotz.
Gut im Kurs liegt auch das Schweizer „Schwab“, ein schlimmes Schimpfwort, das die jenem „Volksstamm“ angedichtet bekannt schlechten Eigenschaften (als wo da etwa sind Belehrungssucht, Geiz, Auftreten in Rudeln) umstandslos auf die Deutschen in toto überträgt. Hingegen verfügen die Österreicher nur über das matte „Piefke“, dessen preußischer Adressat sich längst aus der Geschichte abgemeldet hat.
Den Tschechen darf bescheinigt werden, dass sie treu an „skopçák“ festhalten, was wörtlich die „Leute von den Hügeln“ heißt, konkret aber lediglich (jedoch – wie wir neuerlich wissen nicht nur – auf die hinterwelterischen Sudeten und Böhmerwald-Deutschen gemünzt ist. Bleiben uns als zuverlässigste Beschimpfer die Polen, deren „Swab“ eine ähnliche Funktion erfüllt, wie sein Schweizer Pendant. „Hitlerowcy“, Synonym für Nazis ist auf die ältere Generation beschränkt. Sprachschöpferisch, wie es die Polen sind, haben sie ein neues, dem alten „Fryc“ (=Fritz) nachgebildetes Schimpfwort hervorgebracht. Es lautet „Helmut“ – in der weiblichen Form aparterweise „Helmutka“, und stammt aus dem Milieu des freien, hauptsächlich mit Autohandel beschäftigten Unternehmertums.
Sind aber wir schöpferischer?
Aus „Spaghetti“, „Polaken“, aus „Fidschis“, „Iwan“, „Tommy“, oder „Ami“ – läßt sich aus diesem Material wirklich eine zeitgemäße, euro-atlantische Beschimpfungsfront aufbauen? Wir befürcheten, dass nein! Und sind ernstlich besorgt …