Stadt und Kultur gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Die Kultur ist immer so gut wie das städtische Leben. Wo kein städtisches Leben pulsiert, kann auch keine interessante Kultur entstehen. Umgekehrt gilt das freilich auch. Da sind wir einer Meinung mit Immanuel Kant, der einmal gesagt hat: „Städtisches Leben ohne Kultur ist blind, Kultur ohne städtisches Leben ist leer“.

Genau. Kultur vermittelt Sinn, der allerdings inhaltsleer bliebe,
würde er nicht auf den Boden des wirklichen Lebens heruntergeholt.

Sollte dies das wackere Häuflein um die Ouo-vadis-Aktion versucht haben? In gewisser Weise wäre das sogar gelungen. Das aber so zu wollen, mögen wir nicht müssen.
Die in einem  – auch von uns veröffentlichten –  Papierhabe keine Tatsachen hervorgebracht, um Meinungen zu beeinflussen. Manche politische Themen, die man einstmals als gesellschaftliche Probleme zu betrachten geneigt war, etwa Frauen als Hexen oder japanischstämmige Amerikaner als Verräter im Zweiten Weltkrieg, hält man später für Halluzinationen. Einige Lebensumstände, die man – wie etwa Armut – heute als Probleme ansieht, verstand man lange Zeit als Teil der natürlich-gottgewollten Ordnung, nicht als zu lösendes Problem.

Probleme freilich werden in einem fort konstruiert, dekonstruiert und interpretiert – dies alles diente und dient politischen Zwecken. Nicht anders verhält es sich mit dieser Quo -vadis-Initiative. Und wer eine bestimmte politische Entscheidung anstrebt, versucht – beispielsweise – diese mit einem anderen Problem in Verbindung zu bringen: Mit gegensätzlichen Bedeutungen und unterschiedlichen Arten, die jeweils die entsprechenden Ideologien und moralischen Haltungen reflektieren und fördern. Oder dies zu tun vorgeben. Diese „quo-vadis-Aktion“ – von der sich einige Unterzeichner mittlerweile distanziert haben – gebraucht formulierte „Tatsachen“, um Wirklichkeiten zu konstruieren, die mit anderen, auf anderen Tatsachen oder anderen Interpretationen basierenden Wirklichkeiten zusammenprallen. Jede dieser miteinander konkurrierenden Wirklichkeiten aber wurde als objektiv dargestellt.

Heidelberger „Gemeinsinn“

Abgesehen davon gefällt uns an dieser vorliegenden Version nicht, daß hier Praktiken und Konflikte ganz bestimmter Gemeinschaften aufgegriffen werden: der reichlich abgehobene moral point of view nimmt sich aus wie ein Hotelzimmer, dessen minimale Erfordernisse von fließendem Wasser bis zur sauberen Wäsche zwar angegeben sind, in dem sich jedoch (mit Ausnahme von Franz Kafka) niemand zu Hause fühlen mag. Habermasianer würden umgekehrt den communitarians das Fehlen kontextübergreifender Kriterien, um zwischen moralisch vertretbaren und moralisch kritisierbaren Konzeptionen des gemeinschaftlich Guten begründet zu unterscheiden, vorwerfen. Der vom Zaun gebrochene Streitigkeiten scheinen – als philosophische Variante – zwischen weltbürgerlichem Universalismus und kommunitärem „Heidelberger Gemeinsinn“ angesiedelt.

Kultur? Politik?

„Im Prinzip ist Kultur von der Politik nicht zu trennen. Kultur, Politik, das ist unser Leben. Tatsächlich bilden die Künste, die Philosophie, die Metaphysik, die Religion oder andere Formen des Geisteslebens wie die Naturwissenschaften die Kultur. Doch hat die Politik, die im Grunde das Wissen um unsere Beziehungen und die Kunst, sie zu organisieren sein sollte, um das Leben in der Gesellschaft, das eigentlich kulturelle Leben, zu ermöglichen, heutzutage die anderen Manisfestationen des Geistes überrundet. Die Politik, die die Organisation jeder Gesellschaft sein sollte, ist auf chaotische Weise zu einer Organisation um der Organisation willen geworden; das führte zur Desorganisation des kulturellen Bereichs auf Kosten der Metaphysik, der Kunst, der Spiritualität und auch der Wissenschaft.“

Dies herbe Urteil Ionescos über die zeitgenössische Situation von Kultur und Politik hätte (auch) zu einer Diskussion dazu in Heidelberg führen können – wäre es denn um eine solche überhaupt gegangen. Auch Ionescos Aussagen und Fragen beruhen auf der immer wieder ignorierten Selbstverständlichkeit, daß Kultur und Politik in einem unauflöslichen Zusammenhang der gegenseitigen Beeinflussung stehen. Heidelberg steht, wie andere Kommunen auch, mit dem Rücken an der Wand: Steigenden Soziallasten bei anhaltend hoher Arbeitslosigkeit zwingen die Städte, regional unterschiedlich freilich, in die Knie.

Geld regiert die Welt

Dieser Satz wurde schon in der Vergangenheit vielfältig variiert. Aus „Money makes the World go round“ (Zeitgeist) oder „Wo Geld voran geht, sind alle Wege offen“ (Shakespeare) folgt im Umkehrschluß: „Ohne Moos nix los“. Wenn die Finanzen knapp werden, drohen Initiativen zu ersticken, wird Politik zum bloßen Reagieren auf gesellschaftliche Entwicklungen. Gemeinden können nur sehr eingeschränkt über ihre Ausgaben entscheiden. Das gleiche gilt für ihre Einnahmen.

Auch in Heidelberg wurden und werden finanzielle Ressourcen entzogen, um Politik zu gestalten, da sind drastische Sparmaßnahmen angesagt, die künftig natürlich auch in Heidelberg nicht vor traditionellen Kulturinstitutionen halt machen können. Mehr noch allerdings werden es diejenigen Bereiche sein, die arbeitsvertraglich nicht abgesichert sind. „Ouo vadis“ hätte zur Kenntnis zu bringen versuchen können, daß aktive Kulturförderung durch die öffentliche Hand in der Tat so und anderswo nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch gefährdet ist. Standen die Reformideen der 70er Jahre noch ganz im Zeichen einer „Politik der Lebensqualität“, welche qualitative Gestaltung der Lebensverhältnisse als öffentliche Aufgabe auswies, wird der Ökonomie als Zentralbereich der Gesellschaft heute mehr Regulierungskraft zugetraut. Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es auch den Menschen gut, heißt die konservative Formel.

Nicht nur draufdreschen

Kultur, dieser zuweilen geringgeschätzte „vorpolitische“ Raum hat längst die Bedeutung eines Kristallisationspunktes gewonnen. Denn „Lebensstile“ – das haben die Quovadisler offenbar erkannt – als kulturelle Ausdrucksformen werden künftig noch stärker als bisher den Ausschlag dafür geben, ob und wo das Kreuzchen gemacht wird. Sollte es also denn gar nicht so sehr um in Heidelberg brachliegende Kultur gegangen sein? Klassen- und Sozialstruktur, selbst Bildungsgrad (und schon gar nicht Konfessionszugehörigkeit) erlauben keine zuverlässigen Prognosen mehr, „Normalbiographien“ werden rar. Die Bedeutung von Lebensstilen, ihren ästhetischen und „irrationalen“ Manifestationen macht natürlich auch der Heidelberger Kulturbürokratie zu schaffen. In zahlreichen Diskussionen über Stadtgesellschaft, Wertewandel und Kultur arbeitet sie sich nichtsdestotrotz wacker, zäh und tapfer an die Problematik heran. Also bitte: Nicht nur draufdreschen, ein wenig mehr als gar nicht hinschauen zwingt ja nachgerade zum Lob dieser Arbeit.

Ja. Aber:

 

 

 

 

 

Es gilt, für die Freiheit des Denkens, der Rede und der Kritik, für die Freiheit, diese Welt nicht nur zu diskutieren, sondern sie tätig zu erkennen und zum Besseren zu verändern, einzutreten. Das, ohne Frage, hätte sich auch in der öffentlichen Anfrage „Qouo-vadis“ versuchen lassen können. Aber halt eben nicht so! Einige Passagen lassen zwar den Schluß zu, es handele sich um ehrliches Bemühen, aber… Die Beliebtheit anderer, nämlich geistiger Auseinandersetzungen in Heidelberg, wird nur von ihrer Seltenheit übertroffen. Hier hatten wir beispielsweise die Auseinandersetzung um die Schreiterschen Entwürfe für die Heiliggeistfenster – die freilich von der Öffentlichkeit als solche wegen der Berichterstattung darüber als auch geistige nicht zur Kenntnis genommen werden konnte. Andernorts gibt es viele berühmte Beispiele: Jesus und die Schriftgelehrten, von den Kirchenvätern bis zum Streit zwischen Dr. Luther und Dr. Eck, Goethe und die Newtonianer, auf den Konzilen der sozialistischen Bewegungen auch – und findet eben heute noch immer statt; aber eben nicht unter jenen Leuten, die das Stichwort berühmt gemacht haben und nicht müde werden, nach geistiger Auseinandersetzung zu rufen. Aber dies „Quo vadis…“? Hätte – wäre das eine solche gewesen – nicht geistige Auseinandersetzung das auszumachen, was der ursprüngliche Wortsinn sagt? Unterschiedliche Behauptungen würden aufgestellt werden und begründet in Argument und Gegenargument und am Ende wäre die eigene Position des Kontrahenten klarer gewesen, als sie es vordem war; sie haben sich auseinandergesetzt. Die Unterzeichner – wahrscheinlicher aber nur die Schreiber jenes unter die Leute gebrachten Papiers – hatten wohl Angst davor, eine geistige Auseinandersetzung bringe in der Regel Übereinstimmung hervor. Es mag das als Ausnahme vorkommen, doch ist viel häufiger der Sieg der einen Auffassung über die andere, etwa der einen verifizierbaren Wahrheit kulturpolitischer Gegebenheiten – so es die denn überhaupt gibt oder geben kann – oder die Proklamation der einen Meinung zur Verbindlichen durch den Machtanspruch rotarianischer Minderheit oder einer anderen zur Entscheidung legitimierten Instanz, welcher der Disput der Geister als Vorbereitung (hätte dienen können) diente. Der Geist weht, von wannen er will und wohin. Jene hundert Heidelberger Köpfe, auf deren einige wir (ach Hildchen; oder was, wir werden ihn fragen, haben Sie sich bei der Unterschrift unter dies Papier gedacht, Hans Georg Gadamer?) bislang stolz zu sein meinten Grund haben zu dürfen, scheint er – unterstellt Jürgen Gottschling – zu diesem Streich jedenfalls nicht besucht zu haben. Quo vadis? Heidelberg,Mekka des Geschwätzes! Und? Aber:

Stadt und Kultur gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.

Die Kultur ist immer so gut wie das städtische Leben. Wo kein städtisches Leben pulsiert, kann auch keine interessante Kultur entstehen. Umgekehrt gilt das freilich auch. Da sind wir einer Meinung mit Immanuel Kant, der einmal gesagt hat: „Städtisches Leben ohne Kultur ist blind, Kultur ohne städtisches Leben ist leer“. Genau. Kultur vermittelt Sinn, der allerdings inhaltsleer bliebe, würde er nicht auf den Boden des wirklichen Lebens heruntergeholt. Sollte dies das wackere Häuflein um die Ouo-vadis-Aktion versucht haben? In gewisser Weise wäre das sogar gelungen. Das aber so zu wollen, mögen wir nicht müssen.
Die in diesem (in der RNZ veröffentlichten) Papier angesprochenen Probleme sind Konstruktionen, keine Tatsachen, hervorgebracht, um Meinungen zu beeinflussen. Manche politische Themen, die man einstmals als gesellschaftliche Probleme zu betrachten geneigt war, etwa Frauen als Hexen oder japanischstämmige Amerikaner als Verräter im Zweiten Weltkrieg, hält man später für Halluzinationen. Einige Lebensumstände, die man – wie etwa Armut – heute als Probleme ansieht, verstand man lange Zeit als Teil der natürlich-gottgewollten Ordnung, nicht als zu lösende Probleme.
Probleme werden in einem fort konstruiert, dekonstruiert und interpretiert – dies alles diente und dient politischen Zwecken. Nicht anders verhält es sich mit dieser Quo -vadis-Initiative. Und wer eine bestimmte politische Entscheidung anstrebt, versucht – beispielsweise – diese mit einem anderen Problem in Verbindung zu bringen: Mit gegensätzlichen Bedeutungen und unterschiedlichen Arten, die jeweils die entsprechenden Ideologien und moralischen Haltungen reflektieren und fördern. Oder dies zu tun vorgeben. Diese „quo-vadis-Aktion“ – von der sich einige Unterzeichner mittlerweile distanziert haben – gebraucht formulierte „Tatsachen“, um Wirklichkeiten zu konstruieren, die mit anderen, auf anderen Tatsachen oder anderen Interpretationen basierenden Wirklichkeiten zusammenprallen. Jede dieser miteinander konkurrierenden Wirklichkeiten aber wurde als objektiv dargestellt.

 

Sep 2024 | Heidelberg, Allgemein, Essay | Kommentieren