Seit Ende des 19. Jahr hunderts ist Favoriten ein migrantisch geprägter Bezirk in Wien. Für die Stadt geschichte entschei dende Betriebe wie die Wienberger Ziegelabrik, die Heller Schokola  en  fabrik, die Ankerbrot-Fabrik oder die Wiener-Automobilfabrik sorgten dafür, dass sich Arbeiterfamilien in der Gegend ansiedelten.

Katastrophaler Lebensbedingungen wegen kam es im späten 19. Jahrhundert zu zahlreichen Protesten und Unruhen. Nach dem Krieg lag Favoriten in der sowjetischen Besatzungszone Wien. Heute leben weit mehr als 200000 Menschen im Bezirk, 14% haben keine Arbeit. Geht man dort spazieren, entkommt man der üblichen wohlständischen Bequemlichkeit der österreichischen Hauptstadt. Zwischen Kebabbuden (den besten der Stadt), aus Lautsprechern dröhnender Musik und auf der Straße spielenden Kindern wirkt alles lebendiger, intensiver. Auch der Hauptbahnhof ist hier gelegen, das letzte, was man von Wien sieht, bevor man verschwindet.

Beckermann – mit einer längere Sequenz – in der die Kinder danach befragt werden, was ihre Eltern beruflich machen. Die Kamera hält auf die Gesichter und macht unmissverständlich klar, für wen dieser Film ist: Nicht für die, die darin vorkommen, sondern für die, die sich eine politische Meinung bilden oder gar die ihre bestätigt wissen wollen. Was damit gewonnen werden kann, ist klar: Populistische Diskurse lockern sich in der Kinderperspektive, man lernt mit ihnen, anders zu denken. Aber man schaut auch ein bisschen herab, erkennt einen fast metaphorischen Anteil im kindlichen Gebaren, womöglich ist das immer so, vielleicht ist es aber auch ein Problem des Films. Wenn ein Junge beispielsweise darauf beharrt, dass Gewalt eine mögliche Lösung für Konflikte ist, versteht man ihn anders, als wenn Erwachsene so handeln. In ihm gibt es noch das Potenzial für Veränderung, es gibt eine Naivität, der Bildung entgegentreten kann. Aber es gibt auch eine Naivität, die den Diskursen entwischt, die zeigt, dass es Wichtigeres gibt, etwa wenn ein anderer Junge lieber über einen Besuch im Fastfood-Restaurant spricht, als über das, was er im Stephansdom gelernt hat. Letztere Szene ist dem Film bekömmlicher, weil sich die Kinder in ihr nicht dem erwachsenen oder politischen Subplot beugen, sondern einfach sein können.

Womöglich hängt dieser Eindruck auch an der Geschwindigkeit des Films, dieser Tendenz einer dramaturgischen Arbeit, in der ein Lachen der allzu schwierigen Wirklichkeit etwas Erlösendes entgegenstellt. Vielleicht ist das auch das Leben, die Gleichzeitigkeit von Auf und Abs, nur ist das Leben nicht so verdichtet. Das mit der Kamera und Kindern ist ohnehin eine spezielle Sache. Selbst Reinhold Vorschneider, der vor einigen Jahren Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ mit großem Einfühlungsvermögen fotografierte, bewegte sich gelegentlich an der Grenze, wenn er Schülerinnen filmte, die sich schämten oder nicht im Bild sein wollten. Dieser geschützte Raum der Unmündigen wird von der Kamera infiltriert. Das ist bis zu einem gewissen Grad in Ordnung, verlangt aber nach höchster Sensibilität. Favoriten bewegt sich ständig an dieser Grenze, gerade dann, wenn es scheinbar am lustigsten ist.

Beckermann und ihr Stammkameramann seit einigen Jahren, Johannes Hammel, wählen verschiedene Perspektiven: Sie interessieren sich für die Lehrerin, dann wieder für die Schüler, denen sie irgendwann auch selbst Kameras geben. So entstehen Bilder aus dem Park, verspielte Selbstbefragungen, die manchmal angeleitet wirken. Gleichzeitig macht sich Beckermann bemerkbar, sie spricht mit den Schülern, spendet Trost bei schlechter Benotung. Das sind schöne Momente, in denen klar wird, dass sich die Filmemacherin nicht herausnimmt aus dieser Begegnung. Die Bildauswahl und der bisweilen abrupte Schnitt werfen jedoch Fragen auf. So schneidet der Film plötzlich weg, als zwischen Idiskut und einem Vater, der seine Tochter am liebsten zurück in die Türkei in die Schule schicken würde, ein Konflikt entbrennt. An anderer Stelle zeigt eine Nahaufnahme Idiskuts Erschöpfung, als sie erfährt, dass wieder neue Schüler ohne Deutschkenntnisse in ihre Klasse kommen, nimmt dieses Thema aber nur noch einmal am Rand bei einer Streiterei über das Tischfußballspiel im Klassenzimmer auf. Stattdessen dient die Szene als Vorlauf für eine andere, in der ein Mädchen eine Matheaufgabe nicht lösen kann und Idiskut ein wenig die Geduld verliert. Als müsste man mit dramaturgischen Schnitten erklären, dass diese Arbeit schwierig ist, dass sie einem alles abverlangt. Es überrascht nicht, dass diese Lehrerin der Star des Films wird. Das Mitfühlen wird unausweichlich, nicht immer wird der Intelligenz des Publikums vertraut. Die Kamera reagiert auf Tränen, ist manchmal nah, sehr nah. Alles ist pointiert und das eigentlich Unverdauliche wird allzu beiläufig ins Mundgerechte verpflanzt. Wenn es schmerzt, wechselt der Film die Fronten.

Aufgrund der extremen Verdichtung der Ereignisse bekommt man das Gefühl eines Durchrauschens, eines Highlightreels. Wenn die Kinder etwas Lustiges gesagt haben, ist es im Film gelandet, so der Eindruck. Das verleiht „Favoriten“ eine womöglich gegen die Aufgeblasenheit der Diskurse intendierte Leichtigkeit, nährt aber auch den Zweifel, ob ein genaueres, geduldigeres, weniger sprunghaftes Schauen vielleicht ein anderes Favoriten zeigen würde, eines, in dem Menschen leben und nicht in Menschen lebende Konflikte. So ist „Favoriten“ ein Film, der gegen die eigene analytische Tendenz versucht, Bilder zuzulassen. Der den Meinungen Bilder entgegenstellen will und dabei merkt, dass das nicht ganz möglich ist. Wir sind schließlich keine Kinder mehr.

Sep. 2024 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas | Kommentieren