
Bei der Eröffnungsfeier 2014 in Sotschi flogen IOC- und Russland-Flagge noch nah beieinander – zehn Jahre später könnte die Entfremdung zwischen beiden kaum größer sein.
Kaum mehr als ein Dutzend Russen treten bei den Olympischen Spielen an. Ein Bericht legt jedoch offen, wie so mancher Aktive die Sanktionen infolge des Angriffskriegs umgeht, um dennoch in Paris dabei sein zu können. Gerade einmal 15 (fünfzehn!) russische Athleten dürfen an den Olympischen Sommerspielen in Paris teilnehmen. Sie konnten dem Internationalen Olympischen Komitee glaubhaft versichern, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht zu unterstützen und auch keine Verbindung zum russischen Militär zu haben.
Doch abseits dieser „Individuellen Neutralen Athleten“ (INA), zu denen auch die Sportler aus Belarus gehören, tritt eine Vielzahl von Russen in Frankreich an.
„Es werden tatsächlich mehrere Dutzend in Russland geborene Athleten in Paris sein“, schreibt das „Wall Street Journal“, diese „werden jedoch unter der Flagge anderer Länder an den Start gehen, nachdem viele von ihnen erst kürzlich neue Staatsangehörigkeiten angenommen haben, um die vielfältigen Sanktionen gegen den russischen Sport zu umgehen.“ Dies hielt so manche Olympia-Hoffnung offenbar für notwendig, weil die Restriktionen infolge des Angriffskriegs deutlich schärfer sind als jene, die es zuvor aufgrund des russischen Staatsdopings gegeben hatte.
Zum Vergleich:
2021 in Tokio waren Flagge und Hymne zwar auch verboten, die Mannschaft des „Russischen Olympischen Komitees“ umfasste aber dennoch 330 Aktive und gewann 71 Medaillen. Erfolgreicher waren nur die Entsandten der USA (113 Medaillen) und Chinas (89), die 425 Nominierten der deutschen Mannschaft standen 37-mal auf dem Podium.
„Betrug an meinem Land“
Laut „Wall Street Journal“ (WSJ) sind „mindestens 18“ gebürtige Russinnen und Russen für die Spiele in Paris nominiert worden. Das russische Sportministerium bestätigte dem Bericht zufolge im August 2023 den Nationenwechsel von 67 Athletinnen und Athleten seit Anfang 2022, während unabhängige Beobachter bis zu 200 solcher Fälle registriert haben wollen, die allerdings auch nicht-olympische Sportarten umfassen würden. Russische Sportfunktionäre sollen diese Wechsel verachten. Das WSJ zitiert etwa die Turntrainerin Valentina Rodionenko: „Ich würde das nicht mal eine Schande nennen, sondern einen Betrug an meinem Land.“
Beispielhaft wird die Leichtathletin Sardana Trofimova genannt, die in Paris für Kirgisistan im Marathon antreten wird. Für die 36-Jährige sind es die ersten Olympischen Spiele, obwohl sie schon zum dritten Mal die Norm erfüllt hat. 2016 in Rio de Janeiro durfte sie jedoch wegen des Komplettausschlusses Russlands durch den Leichtathletik-Weltverband nicht starten, 2021 in Tokio gehörte sie nicht zu den wenigen Russinnen, die eine Ausnahmegenehmigung erhielten. Weil in Paris wieder ein Komplettausschluss greift, suchte sie eine Alternative – und fand diese in einer ehemaligen Sowjetrepublik
Russland ignoriert Olympia weitgehend
Allerdings gibt es dem Bericht zufolge auch Athleten, die lieber auf Olympia verzichten, als unter fremder Flagge anzutreten. Schwimmer Jewgeni Rylow, in Tokio Olympiasieger über 100 und 200 Meter Rücken, sagte demnach im russischen Fernsehen, dass er sich „den Provokateuren aus dem Westen nicht beugen“ wolle, die Sanktionen seien „Unsinn“. Der 26-Jährige hatte im März 2022 an einer Propagandashow zum Jahrestag der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim teilgenommen und dabei auch das Z-Symbol getragen, ein Zeichen der Unterstützung für den Angriffskrieg.
Naja – Russland versucht zudem,
seinen Sporthelden Alternativen zu bieten.
An den „BRICS Games“ im Juni in der russischen Stadt Kasan etwa sollten neben den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika auch viele andere Länder teilnehmen – jedoch mussten laut „Wall Street Journal“ diverse Wettkämpfe wegen zu weniger Meldungen gestrichen werden. Teilweise gab es nur einen Starter pro Disziplin. Die ursprünglich für September geplanten „Weltfreundschaftsspiele“, die die Sowjetunion 1984 für alle Staaten, die Olympia in Los Angeles boykottierten, hatte ausrichten wollen, wurden laut WSJ indes verschoben. Das IOC hatte zum Boykott der Veranstaltung aufgerufen.
Russische Boykottaufrufe für die Sommerspiele in Paris sind bisher nicht bekannt. Im russischen Fernsehen allerdings wird das neutrale Mini-Team nicht stattfinden: Das größte Sportereignis der Welt wird in der zweiterfolgreichsten Nation der Olympia-Geschichte (nach den USA) nicht im TV übertragen.Das Riesenreich ist offenkundig nicht gewillt, Sport mit wenigen Russen zu zeigen. Und die wenigen, die in Frankreich dabei sind, dürfen zwar ihre Wettkämpfe bestreiten. Von der glamourösen Eröffnungsfeier am Freitagabend auf der Seine sind sie jedoch ausgeschlossen …