Am 10. Juni 1977 verkündet der Niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht von der CDU den Standort des neuen nationalen Endlagers für hochradioaktiven Atommüll: die Gemeinde Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Eine Protestwelle bricht los. In den darauffolgenden Jahren folgen immer wieder Tausende Atomkraftgegner:innen und kilometerlange Trecker-Konvois der Route nach Ost-Niedersachsen, in den am dünnsten besiedelten Landkreis der alten deutschen Bundesländer. Das Endlager Gorleben lockt aber nicht nur Atomkraftgegner an, sondern auch Tausende Polizeikräfte, die diese in Schach halten sollen. Wenn nicht demonstriert wird, starren diese vielen Polizisten aber nicht Löcher in die Luft – sie kontrollieren, ahnden und zeigen an. Kurzum: Sie gehen ihrer Arbeit nach …

Das hatte eine Folge: In der eigentlich provinziellen Gegend stieg die Kriminalitätsrate stark an. Mit erhöhter Polizeipräsenz erhöhten sich auch die statistisch erfassten Vergehen und Verbrechen – nicht, weil die Menschen krimineller waren, sondern weil sie häufiger erwischt wurden.

Der Lüchow-Dannenberg-Effekt war geboren.

Wer heute, Jahrzehnte später, auf die damaligen Kriminalitätsraten zurückblickt, mag schnell denken: Was für eine verrückt kriminelle Gegend war das damals? Erst, wenn man die Zahlen in den richtigen Kontext setzt, sie also richtig interpretiert, versteht man: So verrückt ging es dort gar nicht zu.

Der Lüchow-Dannenberg-Effekt ist nur einer von vielen Gründen, warum offizielle Zahlen der Polizei über Kriminalitätsbelastungen nicht so aussagekräftig sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Wenn aber jedes Frühjahr die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) vorgestellt wird, ist die Aufregung trotzdem groß. Die Fallzahlen der PKS schlüsseln auf, wie viele Tatverdächtige und Opfer zu welchen Straftaten in Bund und Ländern bei der Polizei erfasst werden. Dafür unterscheidet sie die Angezeigten nur in drei Kategorien: Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit („deutsch“ und „nicht-deutsch“).

Die letzte PKS hatte es wieder in sich: 17.600 Straftaten pro Tag, 736 Straftaten pro Stunde und 12 Straftaten pro Minute. Im vergangenen Jahr lag die Anzahl begangener Straftaten laut Statistik bei 5,94 Millionen – so viele wie seit 2016 nicht mehr! Und das Schlimmste: Von den Tätern besaßen rund 41 Prozent der Straftäter keinen deutschen Pass! Ganz schön viel, oder?

Wenn man konservativen und rechten Politiker:innen und Medien glaubt, ist all das Grund und Skandal genug, in der Migrationspolitik mit härterer Hand durchzugreifen. Härter bedeutet: Migrant:innen steuern, abschieben, bestrafen. Der Sicherheit wegen.

Schlussfolgerungen wie diese nähren die Erzählung von der sogenannten „Ausländerkriminalität“. Mit dem Begriff behaupten Rechtspopulisten und einige Konservative, dass Personen aus dem Ausland oder Personen mit Migrationsgeschichte, um ein Vielfaches krimineller seien als Menschen, die und deren Familien schon immer in Deutschland gelebt haben. Gemeint sind damit vor allem Menschen aus nicht-weiß gelesenen, nicht-europäischen und muslimisch geprägten Ländern:

Der syrische Asylbewerber, der sich in der Flüchtlingsunterkunft mit afghanischen Zimmergenossen prügelt. Die arabischen Clanmitglieder, die im Hinterzimmer einer Shisha-Bar an dem nächsten großen Ding tüfteln. Der Drogen vertickende Schwarzafrikaner vor dem Bahnhofsgebäude. Seht her, sagen diese Krimi-Bilder, Anstandslosigkeit und Kriminalität werden von außen und von anderen in unser Land importiert und stören unseren nationalen Frieden.

Leidtragende solcher Angst-Narrative sind dann nicht nur diejenigen, die aus dem Ausland einreisen. Es sind auch diejenigen, die in späteren Migrantengenerationen in Deutschland leben, weil sie den Einheitslook „Ausländers“ unwiderruflich tragen: Aufgrund von Haarfarbe, Hautton oder Namen werden sie als „ausländisch“ wahrgenommen und so mit Bedrohlichkeit verknüpft.

Wir brauchen aber eine Diskussionsgrundlage über Kriminalität und Migration, die ohne Ressentiments und Stigmatisierungen ganzer Bevölkerungsgruppen auskommt. Deshalb hab

Über wen wird eigentlich geredet?

Die Begriffe, mit denen hantiert wird, sind schwammig. Wenn über Migranten und Kriminalität gesprochen wird, genügt es nicht, über „Nicht-Deutsche“, oder „Ausländer“ zu sprechen. Ausländische Tatverdächtige sind nicht unbedingt Migranten, sondern können in Deutschland geboren und aufgewachsen sein. Genauso sind Migranten(-nachkommen) nicht automatisch Ausländer und können die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Auch die Gruppe der Migranten ist in sich höchst divers:

Ein Arbeitsmigrant ist zumindest genauso gesetzestreu wie die Deutschen. Er will Fuß fassen.

Ein Asylsuchender sitzt im schlimmsten Fall mehr als drei Monate in einer überfüllten Sammelunterkunft rum und sucht nach illegalen Wegen der Geldbeschaffung. Er darf offiziell nicht arbeiten und hat wenig Hoffnung auf Bleibe.

Ein Kriegsgeflüchteter kann selbst Gewalt erlebt haben. Das macht die eigene Gewaltausübung wahrscheinlicher.

Die einzige Gemeinsamkeit dieser drei Gruppen ist, dass sie nicht im Besitz eines deutschen Passes sind. Viel relevanter als das Stück Papier sind aber zwei Dinge: Was verbrochen wird und die Frage, warum Menschen kriminell werden. Denn jemand, der ohne gültigen Fahrschein die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt oder Taschendiebstähle begeht, ist nicht annähernd so bedrohlich wie ein schwerer Gewalttäter.

Die Lehre vom Verbrechen:
Jung plus männlich ergibt Kriminalität

Aus der Kriminologie weiß man zwei Dinge: Kriminalität ist auf der ganzen Welt jung und männlich. Dabei sind junge Männer besonders anfällig, gewalttätig zu werden. In dieser Untersuchung ist die Zahl der Gewaltdelikte bei männlichen Jugendlichen (Durchschnittsalter 15,3 Jahre) zum Beispiel um den Faktor 3,2 höher als bei weiblichen, bei Eigentumsdelikten um das 2,3-Fache. Gleichzeitig stellen junge Männer (in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen) aus dem Ausland von allen Zuwanderern am häufigsten einen Asylantrag in Deutschland. Damit ist die vulnerable und kriminalitätsanfälligere Gruppe junger Männer aus dem Ausland schlicht überproportional vertreten.

Also ja, Zuwanderung führt zu mehr Kriminalität. Rein mathematisch steigt die Kriminalitätsrate, wenn es mehr Menschen gibt. Herausforderungen durch mehr Zuwanderung sind daher auch nicht einfach wegzuwischen. Für Kriminalität ist aber etwas anderes als eine geografische Herkunft viel entscheidender.

Niemand wird – was Wunder – als Verbrecher geboren

„Die Kriminalität ist keine Frage des Passes, sondern der individuellen Lebenserfahrungen und Lebensumstände, unter denen Menschen aufwachsen und mit denen sie aktuell konfrontiert sind“, sagt mir der Kriminologe und Jurist Christian Walburg von der Universität Münster. Walburg hat zum Beispiel an der Duisburger Dunkelfeldstudie „Kriminalität in der modernen Stadt“ mitgearbeitet und sagt: Geringe soziale Bindungen, wenig Zuwendung oder Gewalt im Elternhaus, eine geringe Schulbildung und ein niedriger sozialer Status, manchmal auch ein benachteiligter Wohnort, ein ungünstiger Freundeskreis und Diskriminierungserfahrungen seien Sozialisationsbedingungen, die das Risiko erhöhen, dass jemand straffällig wird. Zusammengefasst sind das alles sogenannte kriminogene Faktoren.

Für Gewaltkriminalität gibt es eine gesonderte Messart: die Gewalt legitimierenden Männlichkeitsnormen (GLMN). „Ein richtiger Mann ist stark und beschützt seine Familie“ – wer Aussagen wie solchen zustimmt, hat eine höhere Toleranz gegenüber Gewalt. Je höher die Befürwortung, desto stärker die Ausübung von Gewalt. Die GLMN beruhen auf den Ansatz der sogenannten Culture Of Honor (auf Deutsch: Kultur der Ehre) aus dem US-amerikanischen Kontext. Dov Cohen und Richard Eugen Nisbett zeigten dazu in Studien, dass Gewalt kein kultureller oder ethnisch begründeter Faktor ist, sondern in Gesellschaften mit schwacher Infrastruktur und unsicheren Lebensverhältnissen notgedrungen von klein auf und zu einem Zweck erlernt werde: zur Selbstverteidigung von Familie und Eigentum. Mit den GLMN wird damit ein ganz bestimmtes Bild von Männlichkeit untersucht: ein patriarchales, das Aggression und Gewalt zur Verteidigung gegen bedrohten Stolz und bedrohte Ehre einsetzt.

Man kann nun auf sogenannte Dunkelfeldstudien schauen, in denen meist Jugendliche, denn die sind am auskunftsfreudigsten, gefragt werden, ob sie schon einmal Straftaten begangen haben oder selbst Opfer einer Straftat waren. Christian Walburg zufolge, offenbart sich darin eines: „Unter Migranten lässt sich eine etwas höhere Zustimmung zu Vorstellungen von männlicher Dominanz und Gewaltausübung beobachten.“ Das hat vor allem mit dem Elternhaus und dem Freundeskreis zu tun. „Solche Einstellungen können durch das Herkunftsmilieu mit vorgeprägt sein. Aber sie entstehen und entwickeln sich natürlich immer auch in Auseinandersetzung mit der aktuellen Lebenssituation und etwas häufiger in Peergroups von stärker marginalisierten Jugendlichen.“ Daher lohnt ein Blick auf die Lebenswelten von ausländischen und migrantischen Personen. Und da häufen sich Treffer:

Laut dem Rassismusmonitor sind rassistisch markierte Menschen eher armutsgefährdet.


Menschen mit einem Migrationshintergrund sind laut dem offiziellen Demographie:

  • im Durchschnitt jünger
  • haben öfter keinen schulischen oder beruflichen Bildungsabschluss
  • leben vor allem in größeren Städten und nicht auf dem Land

Einheimische und Personen mit Migrationshintergrund unterscheiden sich dabei nicht darin, warum sie kriminell und gewalttätig werden. Das zeigt folgende Grafik aus einer Schülerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), die alle zwei Jahre wiederholt wird: Der Einfluss des Migrationshintergrunds verschwindet nahezu komplett, wenn die kriminogenen Faktoren im Feld ganz rechts berücksichtigt werden.

Einheimische und eingewanderte Personen unterscheiden sich eher deshalb darin, wie häufig sie kriminell und gewalttätig werden, weil sie unterschiedlich stark sozialen Risikofaktoren ausgesetzt sind. „Insgesamt sind Migrantinnen und Migranten von solchen Umständen etwas häufiger betroffen als Einheimische“, erklärt Christian Walburg. So richtig schwer straffällig werde aber auch dann nur ein kleiner Teil.

Die Grafik stammt zwar aus einer Befragung von 2009, aber sie gilt unverändert. Denn 2019 kommt die Studie zu gleichen Ergebnissen: Erste Migrationsgenerationen, also selbst Eingewanderte, unterscheiden sich in ihrem kriminellen Verhalten nicht mehr von Jugendlichen ohne Migrationsgeschichte, sobald auf ihre Lebensumstände geschaut wird.

Man kann sich den Weg zu Gewalt und Kriminalität wie den Sturz in ein Wespennest vorstellen. Der einzelne Stich lässt sich aushalten, jeder dazukommende Stich macht die Sache schlimmer: Ein geringes Einkommen der migrantischen Eltern zieht das Bildungsniveau ihrer Kinder herunter. Aus migrantischen Familien stammende Schüler:innen besuchen so eher Schulformen wie die Hauptschule, die als bildungsschwächer gelten. Dort sind Schüler häufiger Täter als Schüler anderer Schultypen. Jugendliche, die so in straffälligen Freundeskreisen abhängen und in ärmeren Wohngegenden leben, sind auch eher geneigt, dieses Verhalten ihres Umfeldes zu übernehmen.

Angst vor dem muslimischen Mann

Kann Gewaltkriminalität, wenn nicht mit nationaler Herkunft, mit Kultur und Religion erklärt werden? Eine Diskussionsfrage, die sich immer wieder um den muslimischen Glauben dreht. Denn insbesondere das muslimische Kind, so die Annahme, erlerne im Elternhaus die Art von Mannsein, die wir alltagssprachlich vielleicht als „Macho-Gehabe“ oder „toxische Männlichkeit“ bezeichnen. Die gemäß der gewaltaffinen Männlichkeitsnormen (GLMN) bereit ist, Gewalt anzuwenden, um patriarchale Mannesstärke und Ehre durchzusetzen.

Diese Untersuchung der Kriminologen Dirk Baier und Dominic Kudlacek zum Beispiel, stützt sich auf Befragungen von Jugendlichen der 9. Jahrgangsstufe und vergleicht das Gewaltverhalten von türkisch- und deutschstämmigen Jugendlichen: Die befragten türkischen Jugendlichen, die dem Islam angehören, haben hier ein 1,6-fach erhöhtes Risiko, Gewalttäter zu sein.

Aber ein viel relevanteres Ergebnis war: Weder die türkische Herkunft noch die Zugehörigkeit zum Islam entpuppt sich in den Befragungen als entscheidende Erklärung der höheren Gewaltbelastung durch türkische Jugendliche, sondern die Befürwortung aggressiver Männlichkeit. In einer früheren Befragungsstudie von Schülern aus Duisburg kommt der Kriminologe Christian Walburg sogar zu dem Ergebnis, dass die Zugehörigkeit zum muslimischen Glauben die Wahrscheinlichkeit teilweise senkt, straffällig zu werden, weil religiös orientierte Jugendliche ihre Freizeit oftmals risikoärmer, sprich alkohol- und drogenfrei, verbringen.

Religionszugehörigkeit ist nur einer von mehreren Faktoren im Hintergrund. Es gilt: Wenn junge Menschen, egal welcher Herkunft oder Glaubenszugehörigkeit, schlecht sozial eingebunden sind, keine Erfolge in Schule und Ausbildung feiern können und wenig Perspektive haben, bleibt manchen oft nur ein gewaltbezogenes Bild von Männlichkeit und Ehre, um so ihre männliche Dominanz zu beweisen.

Statistiken werden in ihrer Aussagekraft über-
oder gar falsch bewertet

Kriminalität ist also keine einfache Formel und kann nicht auf den einfachen Vorwurf der „Ausländerkriminalität“ verkürzt werden, so der Stand der Wissenschaft. Trotzdem geht es nach der Veröffentlichung der PKS jedes Frühjahr trotzdem immer wieder um „die Ausländer“. Wie kann das sein?

Ein Grund sind die Medien. Denn die Lautstärke, in der über einheimische Täter und Täter mit Migrationshintergrund gesprochen wird, unterscheidet sich und stimmt oft nicht mit offiziellen Kriminalstatistiken überein. Ist ein Täter „nicht-deutscher“ Herkunft, schafft er es doppelt so häufig wie ein Deutscher in Pressemitteilungen der Polizei und sehr viel eher in die Schlagzeilen der Medien. Das verzerrt die öffentliche Wahrnehmung von Kriminalität.

Und dann ist da noch die Politik. Eine KR-Leserin machte mich auf dieses Video aufmerksam, in dem der bayerische CSU-Landtagsabgeordnete Steffen Vogel auf die Zahlen aus der PKS reagiert. Er ist einer von den Politikern, die Ausländer als Feindbild etablieren. Er findet: „Wir leben im unsichersten Deutschland aller Zeiten!“ Alarmstufe Rot. Die Verantwortung? Liege bei Migranten. Die Lösung? Lautet: Migration begrenzen, Migranten abschieben. Das dann erreichte Ziel? Sicherheit.

Forderungen nach Migrationsobergrenzen werden in der Politik wie ein Echo auf die PKS verlautbart. Die Argumentation ist simpel: Wenn die Zahl der nicht-deutschen Tatverdächtigen deutlich angestiegen ist, um 17,8 Prozent, der Gesamtanstieg der Straftaten aber nur 5,5 Prozent beträgt, dann ist Migration der Kriminalitätstreiber! Das ist doch besorgniserregend!

Der Polizeiforscher, Kriminologe und ehemalige Polizist Martin Thüne lehrt an der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung in Schleswig-Holstein und sagt: „Der Anstieg von in der PKS registrierten Straftaten ist insofern erst einmal überhaupt nicht besorgniserregend, weil er für sich genommen kaum etwas aussagt.“ Zum Vergleich: Vor 30 Jahren, 1993, wurden 7,7 Millionen Straftaten erfasst, es gibt also einen langfristigen Abwärtstrend. Martin Thüne findet die Statistik als alleinige Diskussionsgrundlage für Sicherheitsdiagnosen komplett ungeeignet. Er sagt mir auch, dass Studierende der Kriminologie ihre Prüfungen nicht bestehen würden, würden sie dort unterkomplexe und in Teilen schlicht falsche Schlussfolgerungen wie CSU-Mitglied Steffen Vogel vornehmen.

Das sind wiederkehrende Urteile, die die PKS von ihrem politischen Podest herunterholen: Der Kriminologe Tobias Singelstein spricht der PKS ihren „Goldstandard“ ab und ernennt sie zum „Blechstandard“. Für den Polizeiwissenschaftler Rafael Behr verrichten Politiker wie Vogel einen Informationsschaden. Die für Deutschland gestellte Problemdiagnose der „Ausländerkriminalität“ bezeichnet er als „blanken Unsinn“. Wer sich also professionell mit dem Gebiet der Kriminologie auseinandersetzt, von dem hagelt es Kritik. Warum? Vier Schwachpunkte der Statistik sind besonders relevant:

1. Die PKS macht Angaben über Tatverdächtige, nicht über Straftäter

Ob die zur Anzeige gebrachten Fälle überhaupt strafrechtlich belangt werden, sagt die Statistik nicht. Die PKS ist deshalb auch keine wirkliche Kriminalstatistik, sondern vielmehr eine „Arbeitsstatistik“ der Polizei, wie Thüne erklärt. Der Kriminologe plädiert daher auch für eine Namensänderung der PKS. Das österreichische PKS-Äquivalent trägt zum Beispiel seit dem Berichtsjahr 2023 den weniger irreführenden Namen „Polizeiliche Anzeigenstatistik“.

2. Die PKS zeigt nur Ausschnitte

Die PKS zeigt zu wenig Kriminalität. In der Kriminologie wird nämlich zwischen dem Hellfeld und Dunkelfeld der Kriminalität unterschieden. „Dunkel“ sind alle begangenen Straftaten, die nicht bei der Polizei zur Anzeige gebracht und damit nicht Teil der offiziellen Statistik sind. Deshalb gibt es andererseits noch Befragungsstudien, die das kriminelle Dunkelfeld „aufhellen“ wollen. Dort berichten Befragte selbst und anonymisiert über die Häufigkeit und Schwere ihrer Vergehen und ob sie schon einmal Opfer einer Straftat wurden. Außerdem: In der PKS-Statistik werden nur ausgewählte Straftaten erfasst. Ihrem Raster entfallen Staatsschutzdelikte, Verkehrsdelikte, von Deutschen verübte, aber nicht in Deutschland begangene Straftaten, Ordnungswidrigkeiten, Verstöße gegen Landesgesetze, oder Finanz- und Steuerdelikte.

3. Die PKS verzerrt Proportionen

Die PKS misst in absoluten Zahlen. In der PKS sind ausländische Tatverdächtige nicht Teil der sogenannten Verurteiltenziffer, also der Pro-Kopf-Verurteilung pro 100.000 der strafmündigen Bevölkerung. Das wäre ohnehin gar nicht möglich, weil die PKS unter „nicht-deutschen“ Personen etwas anderes versteht als das Statistische Bundesamt. Zur Wohnbevölkerung zählen nur amtlich Gemeldete. Der Meldepflicht entziehen sich aber Personen, die sich weniger als drei Monate in Deutschland aufhalten, Touristen, Reisende, Stationierungsstreitkräfte, Pendler – die alle finden aber Eingang in die Statistik. Es gibt also eigentlich mehr Ausländer in Deutschland, deren genaue Anzahl aber nicht bekannt ist. Die Kriminalitätsbelastung durch ausländische Menschen ist deshalb immer statistisch überhöht.

Die PKS erhebt auch Straftaten, die von Deutschen gar nicht begangen werden können, wie zum Beispiel die illegale Einreise. Rechnet man die heraus und setzt die Zahlen dann noch in das Verhältnis zum offiziellen Bevölkerungsanstieg durch Zuwanderungen, sind die von Ausländern begangenen Straftaten gegenüber dem Jahr 2019, also dem letzten Vor-Corona-Jahr, um 0,5 Prozentpunkte gesunken. Personen ohne die deutsche Staatsbürgerschaft sind insgesamt im Jahr 2023 noch nicht mal krimineller geworden.

4. Die Zahlen der PKS sind manipulierbar

Ein Grund ist der bereits erwähnte Lüchow-Dannenberg-Effekt. Die Grenzen zwischen dem Hell- und Dunkelfeld verschieben sich unter anderem, je nachdem, wo die Polizei ihre Schwerpunkte setzt und was sie wie intensiv verfolgt. „Es kann sein, dass es in der Kriminalitätsrealität überhaupt keinen Anstieg gibt, sondern dass es einfach eine Verlagerung aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld gibt. Es kann im Extremfall sogar sein, dass trotz eines Anstiegs im Hellfeld die tatsächliche Kriminalitätsbelastung in einem Deliktsfeld zurückgegangen ist. Das kann also völlig gegenläufig sein. Rein mit Blick auf die Zahlen in der PKS wissen wir das schlicht nicht.“ So erklärt es mir Martin Thüne. Warum jemand einer Straftat verdächtigt wird, ist von Vorurteilen verzerrt. Personen, die allein aufgrund ihres physischen Erscheinungsbildes als „ausländisch“ wahrgenommen werden, werden tendenziell häufiger von der Polizei kontrolliert.

Circa 90 Prozent der Straftaten werden von Privatpersonen bei der Polizei angezeigt, meistens von Opfern von Straftaten. Aus der Viktimologie, das ist der wissenschaftliche Bereich, der sich mit der Täter-Opfer-Beziehung beschäftigt, weiß man, dass Menschen, die „fremd“ aussehen, eher als kriminell wahrgenommen und angezeigt werden. Asylbewerber aber zum Beispiel, die selbst Opfer einer Straftat werden, bringen das seltener zur Anzeige.

Was wir aus der PKS wissen, ist also nur, dass mehr Täter angezeigt werden. Dass mehr Ausländer kriminell geworden sind, heißt das nicht automatisch.

Kriminologie-Einmaleins: Zahlen sind nicht gleich Zeugen

Warum aber genießt die Statistik solch politische Popularität, obwohl auf diese Schwachstellen seit Jahren aufmerksam gemacht wird? Selbst das Bundeskriminalamt weist auf seiner Webseite und in seinen Berichten auf einige Mängel hin.

Vielen gehe es bei der Vorstellung der jährlichen PKS gar nicht um eine wissenschaftlich-seriöse Darstellung der Kriminalität, sagt Martin Thüne. Das merke man schon daran, dass ausgewählte Zahlen vor der eigentlichen Veröffentlichung der PKS durchsickern, obwohl es eine Sperrfrist gibt. In diesen Tagen ist es Experten und Expertinnen unmöglich die Daten zu interpretieren, während Medien und Politik ungestört eine eigene Agenda verfolgen können.

Worum es einigen Akteuren nämlich wirklich geht: „politische Angstarbeit“. Martin Thüne hat folgenden Eindruck: „Man kann mit diesem Thema unheimlich gut Ängste triggern und man kann gleichzeitig dann den Leuten sagen: ‚Aber ich kümmere mich drum.“

Mit der „Ausländerkriminalität“ verhält es sich wie mit einem Staubsaugervertreter: Der Staubsaugerverkäufer klingelt ungefragt an deiner Haustür und dreht dir das Reinigungsprodukt an, von dem du bis dato gar nicht wusstest, dass du es brauchst. In der Politik ist sein Staubsauger die Angst vor Migration; Politiker und Politikerinnen sind die Staubsaugerverkäufer, die dir eine Lösung für deine Angst-Bredouille anbieten, von der du gar nicht wusstest, dass du sie hast: ihre eigene Politik.

Mit dem Unterschied, dass dem Staubsaugervertreter in der Regel die Tür vor der Nase zugeknallt wird, der Politik aber nicht. Denn Angst ist ein effektives Mittel, um Menschen zu überzeugen. Eine Studie des Zentrums für kriminologische Forschung Sachsen, in der 5.000 Personen zur Wahrnehmung von Kriminalität und Straftäter:innen befragt wurden, zeigt, dass die tatsächliche Kriminalität von der Bevölkerung völlig überschätzt wird aus Angst davor, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Während die Kriminalitätsrate in der PKS kontinuierlich absinkt, geben die Befragten an, das Gefühl zu haben, Kriminalität würde eher zunehmen. Am interessantesten: Je weiter sich eine Person politisch rechts bzw. konservativ orientiert, desto höher ist ihre Kriminalitätsfurcht. Die Leute, die angaben, bei der nächsten Bundestagswahl die AfD zu wählen, fürchten sich auch am meisten vor Kriminalität.

Tabula rasa: Brauchen wir eine neue PKS?

Ich frage den Experten. Der sagt Ja: „Ich spreche mich dafür aus, die PKS jedenfalls in ihrer bisherigen Form überhaupt nicht mehr so zu veröffentlichen, erst recht nicht mit einem solchen Bohei. Und vor allem keine politischen Debatten nur auf dieser Grundlage daran anzuknüpfen.“

Denn was manche Politiker und Medien ungern zugeben würden, ist, dass sie ihren Ausländerkrimi nicht aus Gründen der Sicherheit erzählen, sondern auch aus einem anderen, sehr viel perfideren Grund: Rassismus. Werden allein aus Daten zur Kriminalität von Nichtdeutschen Verhaltensweisen einzelner Menschen oder gar übergeordnete Werte einer ganzen Menschengruppe abgeleitet, dann wird eine Wohnbevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte ohne empirische Evidenz kriminalisiert. Und noch viel wichtiger: Das spielt Rechtsaußenstehenden „unnötigerweise, weil auf einer fehlerhaften Diskussionsgrundlage beruhend, volles Rohr in die Karten“, sagt Thüne.

Wenn das in Zukunft vermieden werden solle, müssten Erkenntnisse aus der Forschung und viel mehr Daten über das Kriminalitätsgeschehen, die über die PKS hinausgehen, mit einbezogen werden, um ein reales und ganzheitliches Bild der Kriminalität zeichnen zu können. Vorschläge, für die sich Thüne jedes Jahr aufs Neue stark macht und eine Kritik, für die er von rechter Seite Beleidungssmails kassiert.

Hellfeld-Statistiken wie die PKS sind nicht per se ein Problem, im Gegenteil. Sie tragen ihren Teil zu einem Gesamtbild von der stattfindenden Kriminalität bei. Die Unterscheidung nach Pass zwischen „deutsch“ und „nicht-deutsch“ ist nur „grober Unsinn“, wie Martin Thüne sagt. So ist die PKS zum verschlimmbesserten Zahlensalat verkommen, in dem sich das selbstgestrickte Bild der „Ausländerkriminalität“ verheddert.

Wenn sich Politiker, wie Steffen Vogel, also dafür einsetzen möchten, dass es weniger Kriminalität gibt und die Bevölkerung in Sicherheit lebt, dann müssten sie mehr gegen soziale Ungleichheiten wettern, anstatt die Schuld der nationalen Herkunft zu geben. Das wäre allerdings auch etwas aufwändiger, als das Angstnarrativ der „Ausländerkriminalität“ zu füttern. Und verkauft sich auch nicht so erfolgreich.

Juni 2024 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude | Kommentieren