Jedenfalls noch junge Menschen sind überrascht über die steigende Zahl von Pflegebedürftigen in unserer alternden Gesellschaft – manche Pflegeforscher glauben eher, es sei ein politisches Manöver, um steigende Pflegebeiträge zu rechtfertigen.

Auf einen Schlag Hunderttausende Pflegebedürftige mehr – es klingt so, als sei Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wirklich überrascht, dass es in einer alternden Gesellschaft immer mehr Menschen gibt, die als pflegebedürftig gelten. „In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflege­bedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen“, sagte der Minister im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Demografisch bedingt sei 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich betrage das Plus über 360.000. „Eine so starke Zunahme in so kurzer Zeit muss uns zu denken geben“, sagt Lauterbach. Woran das liege, verstünde man noch nicht genau.

Gibt es tatsächlich schlagartig so viele Pflegebedürftige mehr in Deutschland? Ein Blick in die Pflegestatistik und in die Zahlen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zeigt: So stark weicht die Prognose von den tatsächlichen Zahlen gar nicht ab. 2021 waren rund fünf Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, nun sind es fast 5,6 Millionen. Tatsächlich kamen laut Spitzenverband der Krankenkassen im vergangenen Jahr aber nur rund 35.000 mehr Pflegebedürftige als in den Vorjahren üblich dazu. Laut MDK haben die Gutachter der Pflegekassen im vergangenen Jahr 160.000 Erstanträge mehr bearbeiten müssen als im Vorjahr. Insgesamt sei die Zahl der Erstanträge auf 1,35 Millionen gestiegen.

Generell steigt das Risiko, pflege­bedürftig zu sein, mit zunehmendem Alter an. Das Statistische Bundesamt hat berechnet, wie sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2055 entwickeln könnte. Dabei wurde mit zwei Szenarien gerechnet. Im ersten Szenario wurde mit dem reinen Alterungseffekt auf Grundlage der bisherigen Pflegequoten gerechnet. Das dürfte aber nicht ganz realistisch sein. Denn mit der Pflegereform 2017 ist die Pflegebedürftigkeit neu definiert worden. Seither ist es viel leichter, einen Pflegegrad anerkannt zu bekommen, die Pflegequoten sind daher gestiegen. Das zweite Szenario rechnet daher mit steigenden Pflegequoten, die nun offenbar eintreten.

Dennoch spekuliert der Gesundheitsminister über allerlei Erklärungsansätze. Liegt es an einem möglichen Nachholeffekt seit der Coronapandemie? Haben vielleicht Hunderttausende Hochbetagte aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus darauf verzichtet, einen Pflegegrad zu beantragen und die dafür erforderliche Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen aufgeschoben, bis es nicht mehr ging? Das werde man prüfen, verspricht der Minister, der es auch für denkbar hält, dass bereits erste Babyboomer pflegebedürftig würden. Der Gesundheitsminister spricht von einem „Sandwich-Effekt“. Erstmals gebe es zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen seien: „Die Babyboomer und deren Eltern.“ Das klingt dramatisch, so, als sei der Kollaps nicht mehr weit.

Experten erstaunt die Zunahme nicht

Viele Fachleute halten Lauterbachs Erklärungen aber für wenig plausibel, nicht nur weil die Babyboomer noch zu jung seien, um im nennenswerten Ausmaß pflegebedürftig zu werden. Auch ein Nachholeffekt wegen verschobener Begutachtungen durch den Medizinischen Dienst ist eher unwahrscheinlich. Denn die fanden während der Pandemie überwiegend am Telefon statt. „Die Zahlen waren vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung der Pflegebedürftigkeit zu erwarten und sind nicht allein durch die Demografie beeinflusst“, sagt etwa der Pflegewissenschaftler Daniel Tucman vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung in Köln.
Er verweist auf die Pflegestatistik, die alle zwei Jahre von Lauterbachs Ministerium veröffentlicht wird und nach der 2023 mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland einen Pflegegrad hatten. Dass der Gesundheitsminister einen Zuwachs von nur rund 50.000 Menschen pro Jahr annimmt, kann Tucman nicht nachvollziehen. Denn die Statistik wies auch in den vergangenen Jahren oft eine Zunahme von über 200.000 Betroffenen aus. „Einen explosionsartigen Zuwachs an Pflegebedürftigen gab es zuletzt nur durch die Anpassung des Pflegebedürftigkeitbegriffs mit der Reform 2017. Damals hat aber niemand auf politischer Ebene Alarm gemacht“, sagt Tucman.

Der Bremer Pflegeforscher Heinz Rothgang
ist über die steigende Zahl der Pflegebedürftigen nicht überrascht

Realistischerweise müsse derzeit pro Jahr mit einem Anstieg in der Größenordnung von 300.000 Betroffenen gerechnet werden. Dass es nun über 360.000 sind, könnte nach seiner Ansicht doch etwas mit der Coronapandemie zu tun haben. Einerseits hätten viele Menschen die Beantragung eines Pflegegrads aufgeschoben, denkbar könne aber auch sein, dass viele Menschen unter Long Covid und anderen Folgen der Pandemie litten. Beweise dafür fehlen bislang.
Allerdings geben Long-Covid-Initiativen wie der Betroffenenverband Long Covid Deutschland an, dass schon Ende 2021 gut eine halbe Million Menschen an Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankt waren. Es ist für die Fachleute durchaus denkbar, dass einige von ihnen mittlerweile einen Pflegegrad erhalten haben. Vor allem aber sieht Rothgang in dem Anstieg der Zahlen noch immer eine Auswirkung der Pflegereform aus dem Jahr 2017. Die vom Gesundheitsminister angenommene Zahl von 50.000 Fällen nehme lediglich die Demografie als Grundlage, ignoriere aber, dass heute viel mehr Menschen als pflegebedürftig eingestuft werden können, in der Regel mit Pflegegrad 1, der aber nicht stark bei den Pflegekosten ins Gewicht falle.

Der Kölner Pflegeexperte Tucman erklärt sich die Zunahme so: „Ein großer Teil der Pflegebedürftigen hat Pflegegrad 1 oder 2, die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit ist also noch vergleichsweise gering. Aber weil seit 2017 mehr Arten an Einschränkungen der Selbstständigkeit berücksichtigt werden, erhalten auch viel mehr Menschen einen Pflegegrad als früher.“ Tucman beobachtet, dass ein gesellschaftliches Umdenken stattfinde. „Viele alte Menschen und deren Angehörige sind heute besser informiert und nutzen selbstverständlich das Internet. Viele wissen, was ihnen zusteht und sie machen von ihren Ansprüchen Gebrauch“, vermutet der Pflegewissenschaftler.

Die Pflegekosten steigen rasant

Manche Menschen wollen ja gar nicht alt werden. So geht´s

Pflegeforscher Rothgang hält den von Lauterbach angeführten Sandwich-Effekt mit Pflegebedürftigen in zwei Generationen für unplausibel. Zwar könne es einige Babyboomer geben, die bereits pflegebedürftig seien. Eine relevante Größenordnung gebe es in dieser Generation aber noch nicht. Sowohl er als auch Tucman gehen daher von einem politisch motivierten Alarm des Gesundheitsministers aus.
Denn die Pflegeversicherungen sind am Limit, eine weitere Anhebung der Beiträge dringend nötig, um die steigenden Kosten in der Pflege – durch die demografische Alterung, aber auch den Fachkräftemangel und die Versuche, den Pflegeberuf durch Lohnsteigerungen attraktiver zu machen – zu refinanzieren. Schon heute ist der Eigenanteil für viele Menschen kaum noch zu bezahlen. Laut dem Verband der Ersatzkassen (Vdek) beträgt der privat zu zahlenden Anteil für einen Platz in einem Pflegeheim im Schnitt 2.576 Euro monatlich. Wegen dieser Kostensteigerung hat sich Lauterbach für eine Begrenzung des Eigenanteils eingesetzt; seit Anfang des Jahres werden Pflegebedürftige stärker entlastet und die Pflegekassen übernehmen einen Zuschuss in Höhe von 15 Prozent des Eigenanteils im ersten Jahr im Heim, im zweiten Jahr sind es sogar 30 Prozent, im dritten Jahr 50 Prozent und bei einer Verweildauer von vier und mehr Jahren 75 Prozent des monatlich zu zahlenden Eigenanteils. Auch die Leistungen bei der häuslichen Pflege wurden verbessert.

Es dürften also weniger die Zahl der Pflegebedürftigen stark ansteigen,
sondern die Kosten der Pflegeversicherung

Rothgang vermutet, Lauterbach habe die Folge dieser Reform unterschätzt. „Es könnte sein, dass jetzt so überrascht getan wird, um von dieser Fehleinschätzung abzulenken“, sagt er. Eine umfassende Finanzreform in der Pflege ist daher überfällig. Doch dass diese noch vor der nächsten Bundestagswahl kommt, ist unwahrscheinlich. Zwar ist im Bundesgesundheitsministerium eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet worden, die Expertinnen und Experten liegen in ihren Einschätzungen allerdings weit auseinander. Die Arbeit der Gruppe sei daher eine gute Grundlage für eine große Pflegereform in der nächsten Wahlperiode, sagte Lauterbach. Spätestens dann ist eine Reform der Pflegeversicherung mit Blick auf die Demografie überfällig.

 

Juni 2024 | Allgemein, Gesundheit, In vino veritas, Kirche & Bodenpersonal, Politik | Kommentieren