Oft steht der forschende Blick des Ethnologen unter dem Verdacht, sich aus einer Position der europäischen oder westlichen Überheblichkeit mit der Alterität indigener Kulturen zu beschäftigen. Der emeritierte Ethnologie-Professor Karl-Heinz Kohl zeigt, dass dieser Verdacht unbegründet ist: Seine Studien über indigene Kulturen aus dem Südwesten der USA, aus Mali, aus dem Amazonasgebiet, aus der zentralaustralischen Wüste oder aus der Südsee zeigen, wie die Beschäftigung mit fremden Kulturen zu Anverwandlung statt zur Aneignung führen kann.

Wirklich auf Augenhöhe

Das könne man indes – um nur drei indigene Völker zu nennen – den brasilianischen Tupinambá, den Bewohner/-innen von Palau und Tahiti oder den Hopi im Südwesten der USA begegnen, wenn man sie nicht darauf reduziert, die europäische Tradition zu spiegeln. Stattdessen geht es um ihre jeweils eigenen Weltsichten.

Émile Durkheim und Sigmund Freud entdecken das Eigene im Fremden 

Und in diesen Weltsichten ist einiges zu entdecken, was geeignet ist, die Vertreter europäischer Kultur bescheidener werden zu lassen. So zeigt Kohl, inwiefern der Stamm der Irokesen das politische System der USA, dieser am längsten bestehenden Demokratie der Welt, beeinflusst hat:

Benjamin Franklin hatte sogar vorgeschlagen, den zunächst als Einkammersystem konzipierten amerikanischen Kongress in Analogie zum Großen Rat der Irokesen als Grand Council zu bezeichnen.

Und was die Gleichstellung der Frau angeht: die war bei den Irokesen seit jeher vorhanden, während in Europa so viele Jahrhunderte dafür gekämpft worden war. Aber nicht nur die Kultur nordamerikanischer Indigener lässt die Wurzeln der Moderne in einem neuen Licht erscheinen:

Die Kritik an dem das europäische Denken nicht erst seit Darwin dominierenden Evolutionismus entstand durch die Erforschung der elementaren Formen der Religion, zu der Émile Durkheim durch die Beschäftigung mit den australischen Aranda motiviert wurde – ein Jahr später veröffentlichte Sigmund Freud seine Studien über Totem und Tabu, um „auf einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ aufmerksam zu machen.

Es geht in der Tat um Übereinstimmungen und nicht um Überlegenheiten – dass der Begriff des Wilden dem Freud’schen Zeitkolorit geschuldet ist, versteht sich von selbst. Wie aber verhält es sich mit dem Begriff ‚Stamm‘ – ist der nicht genauso despektierlich? Unmissverständlich macht der Autor deutlich, dass es sich keineswegs um eine Bezeichnung herablassender Europäer über andere Völker handelt:

Seine Verwendung gleich im ersten Satz der Weimarer Verfassung, die sich ‚das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen‘ im Jahr 1919 gab, zeigt, dass man es keineswegs allein auf die ‚Eingeborenenstämme‘ bezog.

Und waren es nicht die 12 Stämme Israels, deren Religion zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Kulturgeschichte geworden ist? Karl-Heinz Kohl lässt keinen Zweifel daran, dass der Beitrag der von ihm vorgestellten neun Stämme auf den verschiedenen Kontinenten dieses Planeten zu einer Welt-Kultur ebenso hoch zu schätzen ist.

Aktuelle Debatten und die Ignoranz gegenüber anderen Erinnerungsspuren

Aber noch etwas wird an diesem Buch über die unbekannteren Wurzeln der Moderne deutlich – nämlich welche Wege und Irrwege manche aufgeregte Debatte unserer Tage geht: Neben der bereits angesprochenen Frage der kulturellen Aneignung geht es auch um die postkoloniale Wahrnehmung kolonialer Vergangenheit:

Die lange ignorierten deutschen Verbrechen an Nama und Herero bestimmen unseren Blick auf das frühere Deutsch-Südwest-Afrika und heutige Namibia; außereuropäische Kulturen nicht auf den Opferstatus zu reduzieren, vielmehr ihren Beitrag zur heutigen Gestalt einer Welt-Kultur zu zeigen, ist das Vorhaben dieses Buches – das ist gelungen!

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2024. 312 Seiten
ISBN 978-3-406-81350-4
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Unverkäufliche Leseprobe
© Verlag C.H.Beck oHG, München

 

Jun 2024 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton | Kommentieren