Es ist schwer vorstellbar, aber vor dem 7. Oktober herrschte in vielen Hauptstädten weltweit die gefährlich fehlgeleitete Vorstellung, der Nahostkonflikt könne mit relativ geringen Kosten bewältigt werden. Das Ergebnis dieses Denkens – oder auch dieser bewussten Blindheit – sieht die Welt seit acht Monaten: Die schlimmste Welle an Gewalt, die Israelis oder Palästinenser seit 1948 erlebt haben. Wie mögen internationale Diplomaten und Staatsoberhäupter ihre Fehleinschätzung in Anbetracht dieser Realität wohl reflektieren?
Beim G7-Gipfel in Italien werden wir die Gelegenheit haben, diese Frage zu beantworten und dabei auch erfahren, wie ernst es den G7-Staaten mit der Konfliktlösung ist – und ob sie bereit sind, in die Akteure zu investieren, die es dazu braucht.
Jedes Jahr versammeln sich die Staatsoberhäupter der G7 – Kanada, die EU, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Großbritannien und die USA – an einem malerischen Urlaubsort, um die drängendsten Themen der Zeit zu diskutieren. Ihre gemeinsamen Überlegungen werden dann im »Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs« festgehalten, einem langen und intensiv verhandelten Dokument, das die Prioritäten der mächtigsten und wohlhabendsten Demokratien der Welt zusammenfasst. Der israelisch-palästinensische Konflikt gilt eigentlich seit langem als eines der wichtigsten Themen, die die Aufmerksamkeit dieser Staaten erfordern. Zwischen 2000 und 2019 wurde er in fast allen G7-Kommuniqués zumindest benannt. In den letzten fünf Jahren, die dem aktuellen Krieg vorausgingen, fand er jedoch nur in einem einzigen dieser Dokumente Erwähnung.
Um es klar zu sagen:
Dieser Konflikt genoss in den letzten fünf Jahren ganz einfach keine Priorität und das Ergebnis dieser internationalen Vernachlässigung und De-priorisierung sehen wir aktuell: Die verheerendste Gewaltwelle zwischen Juden und Palästinensern in über einem Jahrhundert andauernden Konflikt. Fast 40.000 tote Palästinenser im Gazastreifen, wo die Mehrheit der Bevölkerung Kinder sind. Das größte Pogrom gegen Juden seit dem Holocaust. Geiselnahme von Zivilisten. Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe. Die größte Vertreibung von Palästinensern – knapp 80 Prozent der Gesamtbevölkerung sind auf der Flucht – seit 1948. Und kein Ende dieses Krieges in Sicht.
Die Zivilgesellschaft fordert einen Platz am Verhandlungstisch und die Anerkennung ihrer wichtigen Arbeit
als wesentlichen Bestandteil einer erneuerten und multilateralen Diplomatie
Das wiederholte Mantra einer Zweistaatenlösung – eine lange bekannte Notwendigkeit – wird für das Kommuniqué in diesem Jahr nicht reichen und dem Ernst der Lage bei weitem nicht gerecht. Es braucht neue Ideen für eine gemeinsame G7-Strategie – und zwar solche, die das Trauma, die der Angst und der fortschreitenden Entmenschlichung, die sowohl Israelis als auch Palästinenser seit dem 7. Oktober erfahren, tatsächlich begegnen kann. Im Zentrum dieser Strategie muss die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Friedensorganisationen stehen – der gut vernetzten, effektiven und äußerst engagierten »Peacebuilder« in Israel und Palästina, die sich für Frieden und Gleichberechtigung einsetzen.
Wie der ehemalige britische Unterstaatssekretär für den Nahen Osten Alistair Burt kürzlich in einem Meinungsbeitrag auf dem Portal Arab News darlegte, ist es entscheidend, eine Integration eben dieser Friedensarbeit in die G7-Strategie zu unterstützen: »Dieses Mal muss ein Bottom-up-Prozess den Top-down-Prozess begleiten (…) Angesichts der offensichtlichen Schwächen der derzeitigen politischen Führung, ist es nicht unbegründet zu fordern, dass die Bestrebungen der Zivilgesellschaft in die Pläne für einen wiederbelebten Friedensprozess einbezogen werden.«
Die Zivilgesellschaft fordert einen Platz am Verhandlungstisch …
und sie fordert zudem die Anerkennung ihrer wichtigen Arbeit als wesentlichen Bestandteil einer erneuerten und multilateralen Diplomatie. 160 Friedens-NGOs aus Israel und Palästina haben einen Brief an die G7 verfasst. Ihr Aufruf wurde von knapp 200 NGOs weltweit – und Papst Franziskus – mitunterzeichnet, darunter Organisationen aus allen G7-Mitgliedstaaten sowie aus Nordirland, Syrien, Sri Lanka, Kolumbien und Kaschmir, die die Realitäten eines festgefahrenen Konflikts und die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft bei dessen Bewältigung nur zu gut kennen. Trotz Wahlkampf haben 36 britische Parlamentarier und 22 Abgeordnete des Europäischen Parlaments Briefe an ihre Exekutive geschrieben und diesen Aufruf unterstützt.
Am 13. Juni hat Bundeskanzler Olaf Scholz gemeinsam mit seinen G7-Partnern die Chance, vorherige Fehler zu korrigieren und die Lösung dieses Konflikts neu zu priorisieren. Sie können ein tatsächliches Vermächtnis für diesen 50. G7-Gipfel schaffen, indem sie endlich lokale Friedensstimmen stärken und so die Arbeit der Menschen in Israel und Palästina in den Mittelpunkt stellen, die an Gerechtigkeit, Frieden und Gleichberechtigung glauben und sich konkret dafür einsetzen – jeden Tag, und nicht erst seit dem 7. Oktober.