Die jüngst erhobenen Vorwürfe, der französische Philosoph Michel Foucault habe Knaben missbraucht, werfen die Frage auf, ob man zwischen Leben und Werk wirklich trennen kann. Und wie integer große Denker sein müssen. „Er wurde geboren, lebte und starb“, mit diesem Standardsatz hat Martin Heidegger in seinen Vorlesungen über Aristoteles die Biografie des Philosophen abgehandelt. Das konkrete Leben ist belanglos, wollte Heidegger damit sagen. Uns hat nur das reine Werk zu interessieren.
Wir wollen wissen …
Heute sehen wir das – auch und gerade im Hinblick auf Heidegger – ein bisschen anders. Denn Leben und Werk sind nicht ohne Weiteres zu trennen. Das gilt schon für die Produktionsseite: Der Charakter, die Konflikte eines Autors/einer Autorin bestimmen – mehr oder weniger explizit – was und wie er oder sie schreibt; wobei das Werk im besten Fall das Leben übersteigt.
Aber auch für die Wahrnehmung des Werkes ist Biografisches von Interesse: Wir stellen uns den Autor/die Autorin als eine konkrete Person vor, über die wir – vielleicht aus Bewunderung, vielleicht aus Neugierde – mehr wissen wollen. Und mitunter kommen dann Dinge ans Licht, die wir lieber nicht gewusst hätten. Wie jetzt im Fall Michel Foucaults.
… und Wissen führt zu Enttäuschung
Die Reaktionen auf solche Enthüllungen reichen von Leugnung über Enttäuschung bis hin zur Empörung. Mich erinnern sie allerdings oft auch an die von Sigmund Freud beschriebene Urszene: Das Kind entdeckt, dass die Eltern wirklich Sex haben.
Es ist ein Moment des Schocks, aber auch, wenn es gut geht, ein Moment der heilsamen Ent-täuschung. Wir würden uns die geliebten Autoren, vor allem in der Philosophie, gerne als besonders integer vorstellen. Sie sind aber nicht Götter, sondern Menschen und manchmal – pardon – auch Arschlöcher.
Was moralisches Urteilen angeht,
befinden wir uns derzeit in einem Umbruch
Kolonialistische oder sexistische, früher so genannte „Kavaliersdelikte“, werden nicht mehr augenzwinkernd hingenommen. Zu diesem Zweck wird das Private politisiert. Das ist gut so. Doch es gilt, einen Mittelweg zu finden zwischen jovialer Verharmlosung und skandalisierender Cancel Culture. Auch sie folgt nämlich immer noch der Logik der Idolisierung, derzufolge man Helden entweder anbetet oder wütend vom Sockel stürzt.
Stattdessen ginge es darum, auf dem Teppich zu bleiben, die Widersprüche zwischen Leben und Werk und die Widersprüche hinsichtlich der eigenen Wünsche realistisch einzuschätzen. Können wir von Autoren wirklich erwarten, dass sie wild denken und harmlos leben?
Philosophen nicht zu Idolen machen
Persönliches Fehlverhalten – was immer wir historisch darunter verstehen – wirft einen Schatten auf das Werk, den es nicht mehr los wird. Damit müssen wir leben. Für die Zukunft würde ich mir allerdings wünschen, dass es möglich wird, Leben und Werk wieder getrennter voneinander wahrzunehmen. Nicht im Sinne Heideggers, bei dem das autoritäre „Das geht dich nichts an“ noch mitschwingt, sondern im Sinne eines demokratisch aufgeklärten Egalitarismus.
Wenn Autoren keine Idole mehr sind, ist es vielleicht auch nicht mehr von Belang, was sie im Privatleben treiben. Ob Foucault wirklich Sex mit Epheben auf dem Friedhof hatte? Vermutlich schon, aber wen – wenn sie nicht minderjährig waren –, interessiert das? Er war derjenige, der den „Tod des Autors“ beschwor, er wollte hinter seinem Werk verschwinden. Leider hat er dafür zu viele Interviews gegeben. Aber vielleicht wird sein Wunsch ja einmal wahr. Dann können wir uns endlich auf sein Werk konzentrieren.