Angstloser Kritiker – weil: verkleidet

Über den Schriftsteller Richard Ford wird berichtet, er habe einem Kritiker einmal bei einer Party wegen einer schlechten Besprechung ins Gesicht gespuckt. Zuvor hatte er schon mit einer Schusswaffe auf das Buch einer anderen Kritikerin gefeuert und ihr das durchlöcherte Exemplar per Post zugeschickt. Solche Anekdoten, in denen Kritiker zur Zielscheibe von Racheaktionen der Künstler werden, gehören zur Folklore des modernen ästhetischen Diskurses.

Dass sie durchaus auch mit Verständnis oder sogar Genugtuung erzählt werden, hat eine Erklärung im umstrittenen Status des professionellen Rezensi­ons­wesens. Kritiker sind in der Moderne immer wieder angegriffen worden, als Nörgler und Pedanten, unproduktive Feinde der Kunst, die sich unsensibel über Menschen hermachen, die sich ästhetisch und emotional verausgaben, um für uns Meisterwerke zu schaffen.

Nachdem der Choreograph Marco Goecke im Februar 2023 Wiebke Hüster, die Ballettkritikerin der FAZ, in der Pau­se einer Aufführung an der Staatsoper Hannover mit Hundekot attackiert hatte, konnte man einen Eindruck davon gewinnen, wie unsicher der Status der Kritik in der Gegenwart geworden ist.

 

Goecke wurde in Hannover zwar sofort aus seinem Amt als Ballettdirektor entlassen, in der Kunstwelt jedoch löste der in jeder Hinsicht aberwitzige, zutiefst misogyne Übergriff eine eigentümliche Form des Abwägens und Händerin­gens aus. Die Schriftstellerin Sibylle Berg schrieb auf Twitter, überragende Künstler seien Ausnahmemenschen, „sie dürfen nicht alles, aber – shit happens“. Auch die Kritikerin und Schriftstellerin Elke Heidenreich äußerte im Deutschlandfunk Verständnis dafür, dass man mal die Nerven verliert. Goeckes Mittel seien nicht die richtigen gewesen, aber viele Kritiker seien „sehr eitel“ und stellten nur sich selbst in den Vordergrund.

Der NDR berichtete zudem über eine Solidarisierungsaktion des Ensembles des Staatsballetts, das sich nach einer Aufführung öffentlich zu Goecke bekannte. Gefeiert wurde in diesem Rahmen ein Künstler, „der in diesem Theater unbestrittene Meisterwerke geschaffen hat“. Wegen ei­nes einzigen Fehlers solle es zum Verlust eines „der größten Choreografen unserer Zeit“ kommen. Dieser Appell wurde mit Standing Ovations und begeisterten Zwischenrufen quittiert. Es dauerte nicht lange, bis Goecke für ein Engagement an die Staatsoper zurückgeholt wurde.

„Ausnahmekünstler“, der eine zweite Chance verdient

Theater Basel, Foyer, 2009

Aus der nachsichtigen, fast verständnisvollen Haltung, die in den Reaktionen auf den Übergriff zum Ausdruck kam, lässt sich eine neue Qualität der Geringschätzung für die professionelle Kritik herauslesen – einer Geringschätzung, die jetzt in der Nachricht kulminiert, dass Marco Goecke mit Beginn der Spielzeit 2025/26 zum Ballettchef des Theaters Basel berufen werden soll. Die Verpflichtung Goeckes sei, heißt es in einer Mitteilung des Hauses, ein „Glücksgriff“ für das Theater, die Region, ja die ganze Schweiz. Der Intendant Benedikt von Peter verkündete vor der Presse, Goecke sei ein „Ausnahmekünstler“, der eine zweite Chance verdient habe. Es bestehe nun die Hoffnung, dass endlich die Kunst wieder in den Mittelpunkt gerückt werde.

Zitiert werden diese Stellungnahmen in einem eigentümlichen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“, in dem das Engagement Goeckes in Basel als „wagemutige“ Aktion gelobt wird. Dort heißt es: „Der Übergriff auf die Kritikerin schadete ihm damals vor allem selbst.“ Man möchte meinen, ein Übergriff schade vor allem dem Opfer, aber wo ein großer Künstler der Täter ist, werden die Konsequenzen für die Tat offenbar mit einem Bonus der Empathie bedacht. Diese Empathie gilt hier ausschließlich dem tiefen Fall des Genies, das nun aber Gott sei Dank wieder auf einem renommierten Leitungsposten in das System integriert wurde. Erleichtert wird festgestellt: „Der am Mittwoch offiziell verkündete neue Top-Job bedeutet deshalb nun auch die Rehabilitierung eines in Ungnade gefallenen Künstlers, und zwar zum richtigen Zeitpunkt.“

Goecke selbst hatte sich bereits kurz nach der Tat ausgiebig geäußert und unter anderem verlauten lassen, die Kritikerin habe ihn ja auch jahrelang mit Scheiße beworfen. In Erinnerung geblieben ist ein groteskes Interview in der Fernsehsendung „Kulturzeit“, bei dem er auf einem Baumstumpf sitzend mit Sonnenbrille sinnierte, es sei „einfach zu kurz gedacht“, dass man ihn nun als Täter und Wiebke Hüster als Opfer bezeichne. Immerhin sei er zum Opfer eines verbalen Hasses geworden, einer Gewalt, die wehgetan habe. So wurde vor laufenden Kameras eine Art moralische Äquidistanz zwischen einer handfesten Gewalttat und der alltäglichen Arbeit professioneller Kritik hergestellt.

Status legitimiert offenbar Abscheu auslösendes Verhalten

Ein Jahr später äußert sich Goecke nun in einem Interview mit der „Zeit“ um einiges weniger kraftmeierisch. Seine Tat tue ihm unendlich leid. Auch seine Äußerungen von damals seien ein Fehler gewesen. Die Kritik habe das Recht, seine Werke zu kritisieren. Angesichts eines attraktiven neuen Jobs steht Zerknirschung einem natürlich gut zu Gesicht. Aber auch diese Zerknirschung wird umstandslos in die wehleidige Selbsterzählung der eigenen Genialität eingemeindet. Der überragende Künstler ist demnach schlicht unter dem Druck zusammengebrochen, immer weitere Meisterwerke zu schaffen, und so eben doch selbst das Opfer. Erklärt wird der Übergriff nun mit der enormen Arbeitsbelastung, die schließlich das Fass zum Überlaufen gebracht habe: „Wenn man auf meinem Niveau arbeitet, erwarten die Leute keine Gebrauchschoreografie. Bei jeder Arbeit, die ich schaffe, wollen die Menschen jedes Mal ein Meisterwerk sehen. Was natürlich absurd ist und menschlich nicht zu schaffen.“

Es kommt selten vor, dass der Täter im Diskurs um seine Tat das Narrativ der Rehabilitierung selbst so umfangreich gestalten darf. Man stelle nur das Gedankenexperiment an, ein solcher Übergriff wäre nicht von einem sensiblen Künstlergenie verübt worden, sondern von einem im Kopfrechnen besonders begabten Sparkassenfilialleiter oder einem Autohausmitarbeiter am Rande des Burnouts. Beim besten Willen würde eine solche Tat nicht mit denselben Argumenten gerechtfertigt. Erst der Status als „Ausnahmekünstler“ legitimiert offenbar ein Verhalten, das in jedem anderen Kontext jenseits des privaten Umfelds des Delinquenten nur Entsetzen und Abscheu ausgelöst hätte.

Die Funktion, die diesem peinlichen Diskursereignis zukommt, ist transparent. Indem dieser Betrieb einen Künstler weiter feiert und mit Geld, Macht und Posten ausstattet, der eine Tat begangen hat, die nach den Maßgaben moralischer Klarheit als niederträchtig erscheinen muss, versichert er sich selbst der eigenen Autorität. So gut ist dieser Künstler, so bedeutsam seine Kunst, dass man nicht auf ihn verzichten kann. Der Wert des Werkes transzendiert ethische Bedenken. Auf diese Art können diejenigen, die über diesen Wert entscheiden, und vor allem diejenigen, die durch Programmplanung und Personalpolitik vorentschieden haben, am Ende sich selbst feiern: Sie stehen da als radikale Ästheten, die den unkündbaren Künstler vor den Konsequenzen seiner Tat retten und damit auch die Kunst, die sonst verloren ginge. Es handelt sich um eine Geste der Macht, die den eigenen Machtanspruch unterstreicht: Souverän ist, wer über den Ausnahmekünstler entscheidet.

Goecke hat das Recht verwirkt, kritisiert zu werden

Der Skandal fällt in eine Zeit, in der professionelle Kritik an vielen Fronten geschwächt dasteht. Kulturjournalistische Formate werden eingespart. Die wirtschaftliche Infrastruktur, die das professionelle Schreiben über Kunst und Kultur möglich macht, schrumpft zusammen. Die Reaktion auf den Fall Goecke kann vor diesem Hintergrund auch als höhnische Geste des Triumphs eines Milieus gedeutet werden, das davon überzeugt ist, die professionelle Kritik nicht mehr zu brauchen. Wie soll man das Verhalten einer Kunstwelt sonst interpretieren, die die Tat Goeckes zu jedem Zeitpunkt heruntergespielt und gerechtfertigt hat. Die Aussage ist klar: Wir brauchen unbedingt den großen Künstler, auch wenn wir dann auf die Kritik verzichten müssen.

Diese Verzichtsbereitschaft sollte man ernst nehmen. Künstler wie Goecke, die sich der Kritik gewalttätig verweigern, haben auch das Recht verwirkt, kritisiert zu werden. Das gilt auch für die Institutionen, die sich hinter diese Verweigerungshaltung stellen – so wie das Theater Basel, das durch diese Berufung ein klares Signal sendet, kein Interesse mehr an professionellen Besprechungen der eigenen Aufführungen zu haben. Das sollte zumindest die Folge sein, wenn ein Betrieb so spektakulär aus einem wichtigen Bereich der ästhetischen Kommunikation aussteigt. Kritiken sind eben nicht nur eine lästige Zumutung, sondern auch ein Privileg. Das wissen auch die Künstler, sonst würde es ja kaum zu solchen Ausfällen kommen.

Wir heißem ja nun mal auch Krizikaster – dann müssen wir halt auch was auszuhalten in der Lage sein –

Die Vitalität des ästhetischen Diskurses speist sich aus seiner Konfliktfähigkeit. Kunst lebt von der Kritik. Das ästhetische Urteil ist ein unhintergehbarer Bestandteil jeder echten Rezeption. Dem ästhetischen Wohlgefallen, der Hingerissenheit von einem Meisterwerk steht notwendig die Möglichkeit gegenüber, ein Werk schlecht, krachend misslungen, ja sogar schädlich zu finden. Die im künstlerischen Feld oft mit großer Geste eingeforderte Trennung von Werk und Schöpfer muss auch für den Künstler selbst gelten, der sich von seinem Werk lösen muss, um es der Öffentlichkeit zu übergeben. Zu dieser Öffentlichkeit gehört auch die Kritik, die darauf angewiesen ist, über die Werke sprechen zu können – ungestört durch den Künstler und seine Fans. Ein Betrieb, der darauf verzichten möchte, der nur den sterilen Respekt für den vergötterten Künstler als einzige angemessene Haltung gelten lässt, wird an einem Mangel an Konfliktenergie zugrunde gehen.

 

 

Juni 2024 | Allgemein | Kommentieren