seit dem gestrigen Abend ist der britische Premierminister Rishi Sunak in Wien. Ein paar unerkannte Stunden waren ihm gegönnt. Heute in der Früh um 8 empfängt ihn Bundeskanzler Karl Nehammer mit militärischen Ehren. Nach einem rund sechzigminütigen Arbeitsgespräch, das sich um die Ukraine, Gaza und vor allem um das Thema Migration drehen soll, sind Pressestatements vorgesehen. Fragen sind keine zugelassen. Dafür haben die Teams von Nehammer und Sunak eine gemeinsame offizielle Erklärung vorbereitet. Und darin legen beide Seiten ein Bekenntnis dazu ab, mit Drittstaaten zusammenzuarbeiten, um Migranten von irregulären Einreisen abzuhalten. Nehammer gefällt das Ruanda-Modell. Sein britischer Amtskollege drückte unlängst ein Gesetz durch, das es erlaubt, Asylwerber, ganz egal woher sie stammen, in das ostafrikanische Land zu verfrachten, um die Asylverfahren dort abzuwickeln.
Nehammer gefällt die Idee. Er möchte, dass die EU zur Eindämmung irregulärer Migration künftig auf ähnliche Weise mit Drittstaaten – und dabei nicht notwendigerweise mit dem weit entfernten Ruanda – kooperiert. Die rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die diesbezüglich bereits in Albanien angeklopft hat, weiß der ÖVP-Kanzler bereits auf seiner Seite, die sozialdemokratische Regierungschefin Dänemarks, Mette Frederiksen ebenso. Auch Dänemark und die baltischen Staaten denken in die Richtung. Mit Sunak eint Nehammer zudem, dass im Herbst Wahlen vor der Türen stehen. Für beide sieht es nicht gerade rosig aus, für den konservativen Tory-Premier sogar zappenduster. Beide brauchen dringend Themen, die ziehen – beispielsweise Migration.
Noch am Montagnachmittag hat sich Karl Nehammer auf X ziemlich eindeutig dazu geäußert, dass Karim Khan, der Chef-Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), nicht nur gegen drei Hamas-Führer (Yahya Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Haniyeh), sondern auch gegen den israelischen Ministerpräsidenten (Benjamin Netanjahu) und den Verteidigungsminister (Yoav Gallant) internationale Haftbefehle beantragt hat. „Wir respektieren die Unabhängigkeit des IStGH. Dass die Anführer der Terrororganisation Hamas, deren erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israels ist, in einem Atemzug genannt werden mit demokratisch gewählten Vertretern eben dieses Staates, ist nicht nachvollziehbar“, schrieb der Bundeskanzler. Ähnlich reagierten die Regierungen der USA, Italiens und Deutschlands. Israelische Politiker waren, quer durch alle Lager, außer sich. Oppositionschef Jair Lapid sprach von einem „völligen moralischen Versagen“: Der empörende Vergleich zwischen Sinwar und Netanjahu sei inakzeptabel. Absurderweise beklagten sich auch Sprecher der Hamas und der PLO darüber, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs „Opfer und Henker“ gleichsetze. Dabei ist völlig klar, dass die Terroristen der Hamas den Gaza-Krieg mit ihrem blutigen Massaker in Israel am 7. Oktober ausgelöst haben.
Warum Chefankläger Karim Khan die Hamas und Israel in einen Topf wirft, weiß nur er. Der britische Anwalt mit pakistanischen Wurzeln hätte schon vor Monaten Haftbefehle gegen die Anführer der Terrororganisation beantragen können. Doch er ließ sich Zeit – und tunkte nun in ein und derselben Erklärung auch die israelische Regierungsspitze ein. Ich habe mir das Statement im Original durchgelesen. Khan wirft darin den drei Hamas-Führern vor, für die Ermordung Hunderter israelischer Zivilisten und die Entführung von mindestens 245 Menschen am 7. Oktober verantwortlich zu sein. Er bezichtigt sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Ausrottung, Mord, Vergewaltigung, Folter) und Kriegsverbrechen. Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Gallant legt der Chefankläger unter anderem zur Last, das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung eingesetzt zu haben und bewusst Zivilisten angegriffen zu haben. Auch ihnen hält er Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Khans Büro hat monatelang Beweise gesammelt und sich bei der Bewertung auf ein juristisches Beratungsgremium gestützt, dem vorwiegend britische Experten angehören. Als seine Sonderberater fungieren Richter Theodor Meron und die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, die mit dem Hollywood-Star George Clooney verheiratet ist.
Seinen Antrag adressierte Khan an die Kammer 1 des IStGH. Dort werden Richter entscheiden, ob sie die internationalen Haftbefehle erlassen. Insider rechnen damit, dass die Würfel in ungefähr zwei Monaten fallen werden. Israel hat sich ebenso wie die USA, Russland, China, Indien und viele andere Länder nicht dem seit 2002 bestehenden Internationalen Strafgerichtshof unterworfen. Es hat das Römische Statut aus dem Jahr 1998 nicht unterschrieben. Doch 124 Länder weltweit unterstützen den IStGH, darunter die gesamte Europäische Union und seit ein paar Jahren auch der „Staat Palästina“, der international noch gar nicht anerkannt ist. Und diese Staaten wären verpflichtet, die Haftbefehle zu exekutieren. Israels Ministerpräsident könnte nicht mehr nach Europa oder anderswohin reisen, ohne befürchten zu müssen, verhaftet zu werden. Länder wie Österreich oder auch Deutschland stürzt das in ein Dilemma. Denn sie fühlen sich dem Völkerrecht verpflichtet und zu Solidarität mit Israel. Hamas-Führer Haniyeh hätte indes in der Türkei oder seinem langjährigen Exil Katar nichts zu befürchten. Beide Länder erkennen den IStGH nicht an.
Im Iran beginnen heute die fünftägigen Trauerfeierlichkeiten für Präsident Ebrahim Raisi und Außenminister Hossein Amir-Abdollahian, die am Pfingstsonntag im Grenzgebiet zu Aserbaidschan nach Eröffnung eines Dammes in einem Hubschrauber abgestürzt und tödlich verunglückt sind. Der Crash wird auf schlechtes Wetter oder einen technischen Defekt des überalteten Bell-Hubschraubers zurückgeführt. Doch in Teheran wird angeblich bereits heftig spekuliert, ob nicht der israelische Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte. Dafür gibt es noch keinen einzigen Hinweis. Die Gerüchte schwirren, wie nicht anders zu erwarten war, trotzdem wild umher.
Kurzfristig wird sich am Kurs der Islamischen Republik nichts ändern. Die Teheraner Führung hat ihre Reihen schnell wieder geschlossen. Im Präsidentenamt und im Außenministerium rückten die bisherigen Stellvertreter auf. Doch mittel- und langfristig könnte der Hubschrauber-Absturz noch beträchtliche Folgen nach sich ziehen. Denn Raisi war als Nachfolger des krebskranken Obersten Religiösen Führers, Ali Khamenei, gesetzt. Ein Machtkampf an der Spitze des Mullah-Systems könnte das Land in Turbulenzen stürzen. In den 45 Jahren seines Bestehens hat sich das Regime trotz offenkundiger wirtschaftlicher Unfähigkeit freilich als erstaunlich stabil erwiesen. Das hat zwei Gründe: Die Herrscher in Teheran gehen mit eisenharter Skrupellosigkeit gegen die eigene Bevölkerung vor, und sie haben ihre Macht auf mehrere institutionelle Säulen abgestützt. Wenn ein Pfeiler bröckelt, stehen immer noch andere. Zumindest war das bisher immer so. Das kann sich natürlich auch ändern.
Haben Sie eine schöne Woche
Ihr Christian Ultsch
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