Alexandra Friederich: Ich würde sagen, in erster Linie ist es eine psychologische Operation. Wenn man derartige Pläne hat, die militärisch untermauert werden sollen, dann tut man das normalerweise ohne Ankündigung oder geheim. Hier haben wir aber eine besondere Situation. Denn die Grenzverschiebung ist noch nicht beschlossene Sache. Das ist erstmal nur eine Initiative des russischen Verteidigungsministeriums. Die Idee wurde publik gemacht und jetzt wird darüber diskutiert.
Ja, nach dem Motto: Der Entwurf ist da, das ist unser Statement und das war’s auch erstmal. Denkt, was ihr wollt und schreibt, was ihr wollt, aber bereitet euch auf ganz große Probleme vor. Das scheint mir das Ziel dieser Aktion zu sein, eine Art Test. Man wirft dem Gegner etwas hin und beobachtet, wie die Reaktionen sind, also wie weit beispielsweise die NATO gehen würde. Wie reagieren die direkt betroffenen Staaten? Welche Szenarien werden da aufgestellt? Russland kann das alles beobachten, austesten und dann gemäß der Reaktionen weitere Schritte unternehmen.
Die Initiative kommt aus dem Verteidigungsministerium.
Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärt aber,
das Vorhaben habe keinen politischen Hintergrund.
Das bekräftigt nochmal die militärische Komponente. Über das russische Verteidigungsministerium wird momentan im Westen viel gesprochen. Der neue Verteidigungsminister soll Russland auf einen langen Krieg vorbereiten und das erhöht die Aufmerksamkeit auf diesen aktuellen Ostsee-Vorstoß. Die Strategie dahinter: Man verstärkt jetzt im Westen und vor allem in den betroffenen Staaten die Ängste und kann am Ende des Tages sagen: Wir haben das überhaupt nicht ernst gemeint das war lediglich eine Idee.
Bereitet der Kreml damit aber womöglich auch Angriffe auf das NATO-Gebiet vor
und Ansprüche auf Staatsgebiet der Nachbarländer?
Ich würde sagen, wir sollten mit der militärischen Option auf jeden Fall rechnen. Wenn die russische Führung sagt, sie wolle keinen Krieg, sie stelle keine Grenzen infrage, dann sollten die Europäer das zur Kenntnis nehmen, aber bitte immer mit eigenen Erfahrungen abgleichen. Und die Erfahrungen zeigen, dass man dem Kreml nicht glauben sollte. Das etwa zeigt der Angriff auf die Ukraine.
Ich persönlich gehe fest davon aus, dass die militärische Option von der russischen Seite zumindest in Erwägung gezogen wird. Ich denke nicht, dass das eine beschlossene Sache ist. Aber die baltischen Staaten anzugreifen, oder zu versuchen, die schwedische Insel Gotland zu erobern und dadurch die Kontrolle über den Ostseeraum zu bekommen – das sind Optionen, die von Putin nicht ausgeschlossen werden.
Der Westen sollte also mit einer weiteren Eskalation in der Region rechnen?
Das heißt nicht, dass es so auch wirklich kommen wird. Wenn die Russen ihre Ziele ohne Krieg erreichen können, dann muss Putin auch keine Eroberungsmissionen starten.
Was sind das für Ziele und mit welchen Mitteln kann sie Putin erreichen,
wenn nicht auf dem Schlachtfeld?
Putins Ziel ist die Vormachtstellung der Russischen Föderation in der Region. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht er zwei Möglichkeiten. Entweder akzeptiert der Westen zumindest teilweise die russischen Forderungen. Oder der Kreml operiert militärisch, sollte der Westen nicht vor Putin kapitulieren.
Auf eine Akzeptanz des Westens zu hoffen,
wäre das nicht sehr naiv von Seiten Putins?
Der russische Präsident und die gesamte russische Führung scheinen der Überzeugung zu sein, dass der Westen irgendwann aufgeben wird, dass er viel zu feige, viel zu unentschlossen ist. Das Kalkül dahinter: Der Kreml erhöht den Grad der Eskalation immer weiter, dann sagt man irgendwann im Westen, vor allem in Europa, man wolle nicht zu weit gehen und einen Krieg mit Russland führen. Man kann also zum Beispiel einen Teil der internationalen Gewässer für sich beanspruchen und Richtung Westen sagen: Wenn ihr das nicht akzeptiert, dann sind wir bereit, noch weitere, auch gewaltsame Schritte zu gehen. Es liegt also in eurer Hand, einen Krieg zu vermeiden, indem ihr unsere Wünsche und Bedingungen akzeptiert. Dann wären Gewinne für Putin durchaus denkbar.
Wie kann der Westen ein solches Szenario verhindern?
Die westliche Strategie ist momentan, Putin abzuschrecken. Man muss ihm zeigen, dass der Preis, den er für einen solchen Krieg zahlen würde, enorm hoch wäre. Der Westen hofft auf seine Rationalität und darauf, dass diese Abschreckung wirkt. Ob das tatsächlich wirkt? Das ist möglicherweise Wunschdenken.
Gleichzeitig muss man aber auch sehen, dass die Ostsee-Pläne zeitgleich mit Beginn der russischen Atomwaffenübung bekannt gegeben werden. Man will also offenbar den Grad der Unsicherheit erhöhen. Es handelt sich hier um ein Projekt, das sehr schwammig formuliert ist. Es bleibt unklar, was die Russen mit dieser Initiative genau vorhaben. Das ist auch ein Teil der Strategie: möglichst viele Fragen offen zu lassen.
Haben diese Einschüchterungsversuche auch in Deutschland Aussicht auf Erfolg?
Das ist durchaus möglich. Denn in Litauen ist die Bundeswehr stationiert. Und wenn dort etwas passiert, dann sind die deutschen Soldaten möglicherweise sofort in einem Krieg mit Russland. Ich glaube, diese zusätzliche Abschreckung Richtung Deutschland ist bei den Ostsee-Plänen des Kreml mitgedacht.