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Der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949: Das Gremium hatte gemeinsam das Grundgesetz entwickelt. (Archivfoto)  (Quelle: dpa)
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
heute ist ein besonderer Tag. Das fällt allerdings nicht sofort auf. Sie und ich werden vermutlich genauso wie an den meisten Donnerstagen zur Arbeit gehen. In Ihrem Wohnort wird es keine Parade und kein Feuerwerk geben. Es ist auch kein Tag, an dem Sie sich mit Ihren Liebsten treffen und mit dem ein oder anderen Glas anstoßen werden oder Geschenke verteilen.
Debboch
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Konrad Adenauer am 23. Mai 1949: Der damalige Präsident des Parlamentarischen Rates unterzeichnete das Grundgesetz.
In Berlin findet zu diesem Anlass ein Staatsakt statt, unter anderem wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Rede halten. Die Bundesregierung lädt zudem im Regierungsviertel zu verschiedenen Veranstaltungen ein. Damit Sie aber nicht den weiten Weg in die Hauptstadt antreten müssen, hat unsere Redaktion ersatzweise ein kleines Programm zusammengestellt. Bereits seit Mitte April können Sie deutschlandweit auf unseren Infoscreens Videos sehen, in denen wir Grundrechte, Gewaltenteilung und andere Demokratiebegriffe und Fakten erläutern. Auch auf t-online können Sie viel über das Grundgesetz lesen:
  • t-online-Chefredakteur Florian Harms und mein Kollege Marc von Lüpke haben mit dem Historiker Heinrich August Winkler gesprochen. Winkler sagt: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben damals eine historische Chance genutzt. Deutschland ist laut Winkler zu Recht eine der stabilsten Demokratien der westlichen Welt. Der Historiker warnt aber auch: Noch nie musste sich unsere Gesellschaft so vielen Krisen gleichzeitig stellen.
Das Grundgesetz ist das Fundament unserer demokratischen Gesellschaft. An einem Tag wie heute können wir dankbar sein über diese 146 Paragrafen, die das grundsätzliche Zusammenleben in Deutschland regeln. Manche von ihnen sind unverrückbar, andere haben sich mit den Jahren verändert, wurden ergänzt oder gekürzt. Doch ausgerechnet heute, 75 Jahre nach der Entstehung des Grundgesetzes, ist Sorge angebracht: Denn die Regeln unserer Gesellschaft sind in Gefahr – von innen und von außen. Dagegen kann jeder etwas tun.
Die Feinde, die an diesem Fundament rütteln wollen, fantasieren etwa davon, Menschen nach ihrem eigenen Gutdünken ausweisen zu können und nennen das Ganze „Remigration“. Sie schlagen Politiker krankenhausreif. Sie brüllen auf Demonstrationen antisemitische Parolen und greifen jüdische Mitbürger an. Andere träumen öffentlich von einem Kalifat in Deutschland – und damit von der Abschaffung des Grundgesetzes, das ihnen überhaupt erst die Freiheit gibt, solch krude Thesen vorzutragen. Die Feinde sitzen aber auch in unseren Parlamenten und wollen dort zuerst die Grenzen des Sagbaren verschieben und später irgendwann einmal die Regeln unseres Zusammenlebens umpflügen.
Die Liste wäre damit eigentlich schon lange genug. Doch sie geht auch über unsere Landesgrenzen hinaus. Mittlerweile wissen wir, dass auch in Europa wieder versucht wird, mit Waffengewalt Grenzen zu verschieben. Wir wissen nur noch nicht, wo dieser Prozess des russischen Präsidenten Wladimir Putin enden wird. Darauf sollte sich Deutschland mental wie materiell vorbereiten. Autokraten und Diktatoren scheren sich nicht um staatliche Ordnungen, wenn sie glauben, mit Bomben und Panzern ihre eigenen Regeln durchdrücken zu können.
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Wladimir Putin: Der russische Präsident will die Grenzen seines Landes auf ukrainischem Boden ausdehnen.  (Quelle: Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool/imago-images-bilder)
Wie lässt sich das aufhalten? Vielleicht ist es ein Anfang, sich das Errungene in das Gedächtnis zu rufen. Haben Sie das Grundgesetz schon einmal gelesen, also ganz vom Anfang bis zum Ende? Das dauert gar nicht so lange: Digital reicht ein Mausklick dafür. Wenn Sie lieber ein Buch in die Hand nehmen: Die Bestellung ist kostenlos.
Doch jeder von uns kann natürlich noch mehr tun. Aufstehen etwa, wenn vor der eigenen Tür Kommunalpolitiker eingeschüchtert oder angegriffen werden. Und natürlich sollten sich alle genau überlegen, wo sie ihr Kreuz bei jeder Wahl setzen. Die nächste Gelegenheit haben viele Menschen in Thüringen schon an diesem Sonntag bei Kommunalwahlen, in etwas mehr als zwei Wochen folgt mit der Europawahl eine der größten Wahlen der Welt.
Gefordert sind aber nicht nur wir als Einzelpersonen, sondern auch unsere politischen Vertreter. Laut einer neuen Studie des Mercator Forum für Migration und Demokratie (MIDEM) beklagen etwa viele Deutsche die Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungsrealität. 95 Prozent der Befragten ist etwa der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Artikel 20a) wichtig, allerdings gibt nur ein Drittel an, dass die gesetzlichen Vorgaben gut umgesetzt werden. Ähnliche Schieflagen gibt es auch bei Parteiverboten (Artikel 21, Absatz 2) und bei Möglichkeiten, direkt die Demokratie mitzugestalten.
Das Grundgesetz muss allerdings nicht nur richtig angewendet werden. Das Parlament sollte es möglicherweise auch an die aktuelle Lage anpassen. Schon länger wird etwa diskutiert, dass alle zentralen Regeln für das Bundesverfassungsgericht in das Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Dann wären Änderungen nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag möglich.
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Richter des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: Muss das Gericht besser geschützt werden?  (Quelle: imago-images-bilder)
Wer ins Ausland blickt, erkennt leicht, warum eine solche Änderung sinnvoll sein könnte: Autokratische Regierungen in Ungarn oder jüngst noch in Polen haben die Gerichte in den Ländern auf ihre Parteien zugeschnitten und sich so vielen Kontrollmöglichkeiten entledigen können. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hat mit der Ernennung mehrerer Richter im Supreme Court die amerikanische Justiz auf Jahrzehnte nachhaltig verändert. Zurückdrehen lassen sich solche Regelungen dann nur noch schwer.
So weit muss es in Deutschland nicht kommen. Sich auf das Schlimmste vorzubereiten, kann allerdings nicht falsch sein. Entsprechende Gespräche zwischen den Ampelparteien und der Union soll es bereits seit einiger Zeit geben. Eine solche große Mehrheit herzustellen, wäre in der aktuellen politischen Lage ein echter Kraftakt. Allerdings hatten es auch die Schöpfer des Grundgesetzes vor 75 Jahren nicht leicht: Um den Gesetzestext rangen Mitglieder von insgesamt sechs Parteien. Jeder kann eben etwas tun.
Nur noch raus
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Maximilian Krah: Der AfD-Europapolitiker wurde im Wahlkampf mit einem Auftrittsverbot verhängt.  (Quelle: Michael Kappeler/dpa)
Was macht eine Partei mit einem Spitzenkandidaten, den sie nicht mehr loswerden kann, der aber längst untragbar geworden ist? In Echtzeit lässt sich das gerade bei der AfD und Maximilian Krah beobachten: Weil sein Mitarbeiter für China spioniert haben und Krah womöglich selbst Gelder aus China oder Russland erhalten haben soll, hat die Generalstaatsanwaltschaft Dresden Vorermittlungen gegen Krah eingeleitet. So wenig wie möglich sollte Krah deswegen ohnehin im Wahlkampf auftreten. Jetzt hat sich Krah unter Druck ganz aus dem Wahlkampf zurückgezogen und seinen Abschied aus dem Bundesvorstand verkündet.
Das Fass zum Überlaufen brachten wohl Krahs jüngste Äußerungen, in denen er die SS verharmloste und dadurch auch zu einem Bruch mit den französischen Rechtspopulisten von Marine Le Pen sorgte.Trotzdem ändert sich für den AfD-Mann gar nicht so viel: Für den Vorstand wollte er ohnehin nicht mehr kandidieren, von der Liste für die Europawahl kann er auch nicht mehr gestrichen werden. Einen Platz im neuen Parlament samt Mitarbeitern und üppigem Gehalt dürfte er ebenfalls sicher haben.
„Alles, was wichtig ist, bleibt dem skandalösen Krah damit“, kommentiert meine Kollegin Annika Leister folgerichtig. Noch sind es knapp drei Wochen bis zur Wahl. Bei der Skandaldichte der vergangenen Tage ist das noch eine Menge Zeit.
Mai 2024 | In Arbeit | Kommentieren