Yanis Varoufakis ist immer noch schockiert, will sich mit den Ereignissen, die in Berlin geschehen sind, nicht abfinden. Er kritisiert, dass die Berliner Polizei den sogenannten „Palästina-Kongress“, der vergangene Woche in Berlin stattfinden sollte, mit Hunderten von Beamten auflöste und anschließend dessen Austragung verbot. Varoufakis, der in 2015 für kurze Zeit griechischer Finanzminister in der Regierung unter Alexis Tsipras war, hätte als Redner am ersten Tag der Veranstaltung sprechen sollen. Doch dazu kam es nicht.
Die Polizei löste die Veranstaltung auf und nahm Teilnehmer fest, bevor der griechische Politiker die Gelegenheit hatte, seine Rede per Videoeinspielung zu halten. Einen Tag später gab Varoufakis bekannt, dass gegen ihn ein Einreise- und Betätigungsverbot verhängt worden war.

Ob das stimmte, war zunächst unklar: Varoufakis hatte im Online-Netzwerk X geschrieben, das deutsche Innenministerium habe ein „Betätigungsverbot“ gegen ihn erlassen, also „nicht nur ein Einreiseverbot nach Deutschland, sondern auch ein Verbot der Teilnahme über Zoom“.
Laut Sicherheitskreisen handelte es sich jedoch „lediglich“ um ein Einreiseverbot: „Um antisemitische und israelfeindliche Propaganda bei der Veranstaltung zu verhindern“, seien mehrere Einreiseverbote ausgesprochen worden, vermeldete die Nachrichtenagentur AFP einen Tag später. Eines davon hätte sich gegen Varoufakis gerichtet. Eine offizielle Stellungnahme zu diesem „Einzelfall“ hat es aber nicht gegeben, das stellte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums klar.

Die Berliner Zeitung hat Yanis Varoufakis mit den Anschuldigungen gegen ihn konfrontiert. Im Gespräch protestiert er gegen das Einreiseverbot. „Der deutsche Staat erreicht einen Punkt der Selbsterniedrigung“, sagt er per Zoom. Der Wirtschaftswissenschaftler stellt klar, dass die Berliner Polizei zunächst die Anwälte der Veranstalter über ein Einreise- und politisches Betätigungsverbot informiert habe. Am Montag, den 15. April, teilte die Polizei seinen Anwälten jedoch mit, dass es kein Einreiseverbot gegen ihn gebe.
Einen Tag später kam dann die Bestätigung der Bundespolizei: „Zu Ihrem Mandanten bestand im Rahmen einer möglichen Teilnahme als Redner beim Palästina-Kongress 2024 in Berlin eine Fahndungsausschreibung zur nationalen Einreiseverweigerung gem. § 30 Abs. 5 BPolG i. V. m. § 6 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU, befristet für den Zeitraum der Veranstaltung vom 10. bis zum 14. April 2024“, hieß es in einem offiziellen Schreiben.

anis Varoufakis betont, dass das Verbot zwei Tage vor Beginn der Konferenz und seiner geplanten Videorede ausgesprochen wurde. Er spricht von „Irrationalität“ seitens der deutschen Behörden und sagt, er plane, die Entscheidung rechtlich anzufechten. Mit dem Verbot des Palästina-Kongresses sei „jede Grenze überschritten worden“. Varoufakis spricht von Autoritarismus. Dabei wurde das Verbot von der deutschen Politik überwiegend begrüßt: Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner schrieb auf X, dass „Berlin keinen Antisemitismus, Hass und Hetze gegen Jüdinnen und Juden duldet“, Innenministerin Nancy Faeser nannte den Schritt „richtig und notwendig“, da „wir keine islamistische Propaganda dulden“.

Varoufakis erinnert daran, dass der Palästina-Kongress von Juden mitorganisiert wurde. „Ein junger Student, einer der Organisatoren, ein Jude und Mitglied der Jüdischen Stimme für den Frieden, hatte am Tag der Veranstaltung ein kleines Plakat mit der Aufschrift ‚Juden gegen Völkermord‘ bei sich – er wurde von der deutschen Polizei verhaftet.“ Varoufakis bezeichnet solche Methoden als repressiv. Er verteidigt die deutsche Staatsräson gegenüber dem Staat Israel und begrüßt Deutschlands besonderes Engagement für die Sicherheit von Juden. „Der deutsche Staat hat die Verantwortung übernommen, Juden zu schützen, was richtig ist und was wir alle tun sollten“, sagt er. Dennoch plädiert er für absolute Meinungsfreiheit: „Wenn ein weißer deutscher Polizist einen Juden in Berlin verhaftet, weil er gegen den Völkermord ist, dann schützt der deutsche Staat praktisch das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen, ohne dass das Land Konsequenzen durch das deutsche politische und mediale System befürchten muss.“

Der Politiker ist sich bewusst, dass die BDS-Bewegung („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ gegen Israel), die er ausdrücklich unterstützt, vom Deutschen Bundestag als antisemitisch eingestuft wird. Er bezeichnet die Lebensbedingungen der Palästinenser in Ostjerusalem, der Westbank und dem Gazastreifen als Apartheid und ist davon überzeugt, dass BDS eine der effizientesten Maßnahmen sei, um die Ungerechtigkeiten gegenüber den Palästinensern zu bekämpfen.

Die Entscheidung, Varoufakis die Einreise nach Deutschland zu verbieten, wurde auch vom Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster begrüßt: „Nach den Äußerungen, die er getan hat und die erneut zu erwarten gewesen wären von ihm, war es die genau richtige Maßnahme“, sagte Schuster Journalisten. Dabei bezog er sich vermutlich auf Varoufakis‘ Weigerung, den Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 ausdrücklich zu verurteilen.

Was antwortet Varoufakis denen, die ihn einen „Terrorverharmloser“ nennen? Den Begriff lehnt er eindeutig ab. Ebenfalls lehnt er den Terror gegen Zivilisten ab, „egal von wem er ausgeht, ob von Palästinensern, jüdischen Siedlern oder Netanjahu“. Aber, so fährt er fort, die Palästinenser seien es nicht, die er für die Hamas-Massaker vom 7. Oktober verantwortlich mache – die Verantwortung liege „bei uns allen Europäern“, einschließlich Deutschland. Die europäische Komplizenschaft liege darin begründet, dass Europa trotz der Ungerechtigkeiten gegenüber den Palästinensern den Mund hält und nicht protestiert. Das sei „das größte Geschenk an die Antisemiten“ in Europa und darüber hinaus, sagt Varoufakis.

Wir erinnern Varoufakis daran, dass die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland – ob Beleidigungen oder körperliche Gewalt – in den letzten sechs Monaten alarmierend zugenommen hat. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und Ende Januar dieses Jahres wurden über 2000 Straftaten vom BKA erfasst, fast so viele wie im gesamten Jahr 2022. In seiner Berlin-Rede, die nie zustande kam, wollte der Politiker sagen, dass er der Erste wäre, der sich solidarisch zeigte, „wenn auch nur ein Jude bedroht wird“. Im Gespräch beteuert er, dass er jeden Juden, der bedroht wird, körperlich verteidigen würde. Für ihn bleibt das Einreiseverbot ein politischer Skandal.
2016 gründete der ehemalige griechische Finanzminister, der in Deutschland in den Jahren der griechischen Staatsschuldenkrise für Schlagzeilen sorgte, in Berlin seine paneuropäische Bewegung Diem25. „In der Volksbühne“, wirft er ein.

Inzwischen hat Varoufakis einen deutschen Ableger unter dem Namen MERA25 (Anm. d. Red.: griechisch für „Tag“) gegründet und will bei der Europawahl im Juni antreten. Die letzten Umfragen sehen seine Partei jedoch nur bei etwa zwei Prozent, was bedeuten würde, dass MERA25 an der Hürde für den Einzug ins Europäische Parlament scheitert. Varoufakis gibt nicht auf, er sagt, es sei viel zu früh, um Schlüsse über die Zukunft dieser sehr jungen Bewegung zu ziehen. Auf die Frage, wie er das Bild der deutschen Linken seit ihrer Spaltung durch Sahra Wagenknechts Austritt aus der Partei und seit der Gründung von BSW einschätze, reagiert er mit Entrüstung. Die Linke sei für ihn ein trauriger Schatten ihrer Vergangenheit, er nennt ihre Mitglieder „ehemalige Genossen“; ihr Schweigen seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober und dem darauf folgenden Krieg gegen Gaza mache sie mitschuldig am „Völkermord“.

Wir würden heute sehr gerne eine anständige, demokratische und von gegenseitigem Respekt geprägte Debatte darüber führen, wie wir Frieden und universelle Menschenrechte für alle, Juden und Palästinenser, Beduinen und Christen, erreichen können“, sagte Varoufakis in seiner für den verbotenen Palästina-Kongress geplanten Rede, die er ins Internet gestellt hat. „Leider hat das gesamte deutsche politische System beschlossen, dies nicht zuzulassen. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich nicht nur die CDU/CSU oder die FDP, sondern auch die SPD, die Grünen und auch zwei Spitzenpolitiker der Linken zusammengetan, um sicherzustellen, dass eine solche Debatte, in der wir zivilisiert streiten können, in Deutschland niemals stattfinden wird.“

Fühlt sich Varoufakis Sahra Wagenknecht und ihrer BSW-Partei zugehörig? Dies verneint er kategorisch: Wagenknechts Positionen zur Migration lehne er ab, eine zukünftige Zusammenarbeit wäre einfach unmöglich.
Der Wirtschaftswissenschaftler Varoufakis, der unter anderem an den Universitäten von Cambridge, Glasgow und Athen gelehrt hat, wurde 2015 international bekannt, als er unter der Regierung Tsipras das griechische Finanzministerium übernahm. Seine Aufgabe war es, mit den europäischen Institutionen zu verhandeln und einen für beide Seiten akzeptablen Weg aus der schweren Schuldenkrise zu finden. Sein Ansatz war es, die Gläubiger (EZB, IWF, Europäische Kommission) davon zu überzeugen, dass Athen einen Schuldenschnitt und Reformen statt weiterer Sparmaßnahmen brauche.

Die Gläubiger sahen das anders: Die darauffolgenden sechs Monate waren turbulent, die Auseinandersetzungen zwischen Varoufakis und seinen europäischen Kollegen, insbesondere Wolfgang Schäuble, sind in Griechenland bis heute noch in lebhafter Erinnerung.

Varoufakis trat im Juli desselben Jahres zurück, wenige Stunden, nachdem die griechischen Wähler in einem Referendum seine Forderung nach Ablehnung der von den Gläubigern geforderten weiteren Sparmaßnahmen unterstützt hatten. Die Finanzminister der Eurozone, darunter auch Schäuble, hätten ihn absetzen wollen, sagte Varoufakis damals.

In Schäuble sah er „die Personifizierung der Austeritätspolitik einer Währungsunion, an die er nicht glaubte“. Schäuble wiederum machte keinen Hehl aus seinen Gefühlen gegenüber seinem damaligen griechischen Amtskollegen, einen „Minister mit Popstarallüren, die mich weitgehend kalt ließen“, wie der verstorbene CDU-Politiker in seinen kürzlich erschienenen Memoiren schreibt. Varoufakis wollte „immer gerne das letzte Wort für sich behalten“, heißt es in Schäubles Buch, in dem er Varoufakis‘ starrköpfige Haltung für die Verschärfung der Staatsschuldenkrise verantwortlich macht.
BILD: Schäuble und Varoufakis bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Berlin

Auf die Frage, was er von Schäubles Ansichten halte, zögert Varoufakis. Er stellt klar, dass man respektvoll über einen Mann sprechen müsse, der nicht mehr lebt. Er behauptet, dass Schäuble ihm trotz der angespannten gemeinsamen Auftritte hinter den Kulissen ein anderes, einfühlsameres Gesicht zeigte. Er habe Schäuble später gefragt, ob er an seiner Stelle ein drittes Hilfsprogramm unterzeichnet und Deutschland zu schmerzhaften Sparmaßnahmen verpflichtet hätte. Schäuble, so sagt es Varoufakis heute, habe ihm damals gesagt, dass er ebenfalls nicht unterschrieben hätte. Schäuble habe aus dem Fenster geschaut, einen Moment geschwiegen und sich dann an Varoufakis gewandt: „Als Patriot, nein. Das ist schlecht für Ihr Volk.“

Varoufakis bringt seine Bewunderung für seinen ehemaligen Amtskollegen sowie Schäubles Loyalität zur CDU und zu Angela Merkel zum Ausdruck. Es sei allen bekannt gewesen, sagt er, dass Schäuble kein gutes Verhältnis zu Merkel hatte, Schäuble fühlte sich der Kanzlerschaft beraubt. In seinem Buch gibt Schäuble dennoch zu, dass Merkel eine bessere Kanzlerin war, als er es gewesen wäre. Schäuble war ein Soldat für seine Partei, so Varoufakis. Der Grieche würde sich eine ähnliche Einstellung bei den Linken wünschen.

Das Gespräch zwischen Varoufakis und Journalisten endet mit einer heiteren Note. Eine Parodie von Varoufakis, von Jan Böhmermann für das Neo Magazin Royal im Jahr 2015 produziert, hatte sich damals in Griechenland verbreitet und war für die meisten Griechen die erste Begegnung mit dem deutschen Komiker. Als „griechischer Minister der Großartigkeit“ und „verlorener Sohn des Zeus“ wird er darin beschrieben, der „gnadenlose Varoufakis“, der droht, „all unser Erspartes“ wegzunehmen.

Varoufakis lacht rückblickend über das Video. Er liebt das Lied und fühlt sich von Böhmermann geehrt. Ob er sich den Clip noch ab und zu anschaue? Nein, aber Menschen zeigen es ihm immer wieder. Eine Erinnerung an schwierige Tage für Griechenland, zu einer Zeit, in der der Internationale Währungsfonds Deutschland ins Visier genommen hat. Heute sieht die Welt ganz anders aus. Einst Europas Wirtschaftsmotor, droht Deutschland gegenwärtig eine Ära der wirtschaftlichen Instabilität – eine Entwicklung, die laut dem Ökonomen Varoufakis ihre Wurzeln in den Merkel-Schäuble-Jahren habe und in der Unfähigkeit der deutschen Industrie, mit der Zeit zu gehen und sich an die heutigen Bedürfnisse anzupassen.

 

Apr. 2024 | Allgemein, In vino veritas | Kommentieren