An
Herrn Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier
Spreeweg 1
10557 Berlin
Heidelberg, den 16.04.2024
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Ihr bevorstehender Besuch in der Türkei fällt mit dem elften Jahrestag der Entführung zweier christlicher
Würdenträger im Nahen Osten zusammen. Am 22. April 2013 wurden im Nordwesten Syriens unmittelbar an
der türkischen Grenze der Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche, Mor Gregorius Yohanna Ibrahim, und
der Erzbischof der griechisch-orthodoxen Kirche, Boulos Yazigidie, entführt. Von ihnen fehlt bis heute jedes
Lebenszeichen. Bis heute hat sich niemand offiziell zu der Entführung bekannt. Es wird jedoch vermutet, dass
radikale syrische Islamisten, die von der Türkei unterstützt werden, die Bischöfe entführt haben. Die beiden
Bischöfe galten als Vermittler, Botschafter und Kämpfer für die Menschenrechte im anhaltenden Bürgerkrieg
in Syrien. Dafür wurden sie 2014 auf Vorschlag der GfbV in Abwesenheit mit dem Weimarer
Menschenrechtspreis ausgezeichnet.
Wir bitten Sie daher, bei Ihren Gesprächen mit Ihren türkischen Gesprächspartnern, insbesondere mit
Präsident Erdogan, auch dieses Thema anzusprechen. Die Familien, Freunde und alle Christen in Syrien und
im Nahen Osten warten auf die Aufklärung dieser furchtbaren Entführung.
Darüber hinaus bitten wir Sie, sich für die Freilassung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtas
einzusetzen. Er war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 2016 Abgeordneter des türkischen Parlaments und
wurde für sein Engagement für Demokratie und Menschenrechte 2021 auch mit dem Menschenrechtspreis
der Stadt Weimar 2021 geehrt. Die sofortige Freilassung des Kurden Demirtas ist auch eine Forderung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die von der Türkei seit 2020 ignoriert wird. Die Familie von
Demirtas, seine Frau und seine beiden Töchter, warten seit acht Jahren auf die Freilassung von Selahattin
Demirtas.
Schließlich bitten wir Sie, sich bei Präsident Erdogan dafür einzusetzen, dass die Menschenrechtsverletzungen
und Kriegsverbrechen der türkischen Armee und der von der Türkei unterstützten islamistischen Söldner in
Afrin ein Ende haben. Die nordsyrische Kurdenregion Afrin, wurde 2018 von der Türkei völkerrechtswidrig angegriffen und besetzt. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und viele andere Menschenrechtsorganisationen unterstützen die Menschen in Afrin seit Jahren und fordern den sofortigen und bedingungslosen Abzug der türkischen Besatzungstruppen und der islamistischen Söldner.
In diesem Zusammenhang bitten wir Sie, den türkischen Staatspräsidenten Erdogan aufzufordern, die fast
täglichen völkerrechtswidrigen türkischen Angriffe auf Nordsyrien, insbesondere mit Kampfdrohnen,
einzustellen. Sie sollten wissen, dass türkische Kampfflugzeuge und Drohnen auch über Weihnachten 2023
insgesamt 74 Angriffe auf lebenswichtige Infrastruktur in Nord- und Ostsyrien geflogen haben. Sie
bombardierten medizinische Einrichtungen, Kulturgüter, die Wasser- und Lebensmittelversorgung. Bereits
Anfang Oktober 2023 hatte die Türkei innerhalb weniger Tage große Teile der zivilen Infrastruktur zerstört
und dabei 92 Menschen getötet und 89 verletzt. Ziele waren unter anderem Wasserwerke, Ölraffinerien,
Kraftwerke, aber auch Flüchtlingslager und Krankenhäuser. Die Reparaturarbeiten haben im Dezember erst
begonnen. Diese Angriffe führen zu einer weiteren Verarmung der Zivilbevölkerung und zu einer verstärkten
Flucht nach Europa, insbesondere nach Deutschland. Diese Angriffe müssen klar und unmissverständlich
verurteilt werden. Die Türkei rechtfertigt ihre abscheulichen Angriffe mit ihren „Sicherheitsinteressen“.
Weder Erdogan noch andere Autokraten wie Putin dürfen ihre völkerrechtswidrigen Angriffe auf ihre
Nachbarn mit vermeintlichen Sicherheitsinteressen rechtfertigen. Für türkische Angriffe auf Kurden in
Nachbarländern darf es von Seiten Deutschlands und anderer NATO-Staaten kein Verständnis geben. Denn
das Völkerrecht muss für alle gelten, auch und gerade für ein NATO-Mitglied.
Mit freundlichen Grüßen
Redaktionsteam
HEIDELBERGER RUNDSCHAU
69117 Heidelberg – Grabengasse 9