Warum Kant lesen? Kant zählt zu den bedeutendsten Philosophen aller Zeiten. Zugleich gilt sein Werk als unzugänglich, trocken und gefühlskalt, zum Teil auch als rassistisch. Was hat uns dieser Klassiker heute zu sagen? In Zeiten, in denen Influencer, Esoteriker und Fanatiker an Einfluss gewinnen, scheint Kants Aufruf, sich mutig des eigenen Verstandes zu bedienen, zeitgemäßer denn je. Wir sollen selbst prüfen, was wir glauben. Doch schmücken nicht gerade Querdenker und Staatsverweigerer sich damit, gegen alle Widerstände selbst zu denken? Kant war sich bewusst, dass Aufklärung umschlagen kann in alles durchdringenden Argwohn: Jene, die „mit Vernunft rasen“, sind „oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was andere unbefangen tun, um es als auf sich angelegt auszudeuten“.

Was Wunder, dass daraus vermeintliche Zusammenhänge und krude Verschwörungstheorien resultieren, die jeder Faktizität entbehren. Wer rasend vernünftig ist, dem ist mit Mitteln der Vernunft schwer beizukommen. Denn der Irrsinn besteht eben nicht immer in einem Mangel, sondern manchmal in einem Überschuss an Vernunft: in der Sehnsucht, Komplexität zu reduzieren.

Selbst zu denken, heißt aber gerade mit Kant,
Komplexität auszuhalten

Die Gründung einer Rechtsordnung impliziert, dass das Verbrechen, das sie begründet, ein verschwindender Vermittler zwischen den beiden Sphären ist. Es gehört weder zur vorrechtlichen Brutalität (die durch sie abgeschafft wird) noch zur Sphäre des Rechts (schließlich handelt es sich um einen illegalen Gewaltakt). Kant war sich dieses Paradoxes sehr wohl bewusst, als er sich mit dem Rechtsstatus der Rebellion befasste: Die Wahrheit einer Aussage hängt vom Zeitpunkt ihrer Äußerung ab. Die Aussage „Was die Rebellen tun, ist ein Verbrechen, das bestraft werden muss“ ist wahr, wenn sie ausgesprochen wird, während die Rebellion noch andauert. Sobald die Rebellion jedoch siegt und eine neue Rechtsordnung etabliert ist, gilt diese Aussage über den Status derselben Handlungen nicht mehr. Der Kreislauf der symbolischen Ökonomie, in dem die Wirkung die Ursache rückwirkend schafft, gilt also auch für den Rechtsstatus der Rebellion. Erinnern wir uns an die bekannte Antwort der Mitglieder eines Eingeborenenstamms auf die Frage „Gibt es noch Kannibalen unter euch?“: „Nein, wir sind keine Kannibalen; wir haben gestern den letzten gegessen.“ Dieses Thema ist heute aktueller denn je: Staaten essen immer wieder den letzten Kannibalen, um ihre Herrschaft zu legitimieren.

Kant hilft uns, unsere Natur als freie Wesen zu erkennen

Sie kann zwar kein Gegenstand einer Erfahrung sein – aber sie zeigt sich im Praktischen, in der Moral. Unsere zeitgenössische Kultur missversteht Freiheit oft als eine Art Gefühl oder jedenfalls als etwas, das wir irgendwie in uns spüren können. Hier haben wir eine wichtige Lektion Kants noch nicht gelernt. Freiheit müssen wir denken, und zwar genau – und gerade dort – wo wir uns moralischen Forderungen gegenübersehen – dort also, wo der Zeitgeist lamentieren würde, dass wir uns unfrei fühlen („genötigt“, wie Kant sagt). Ist das nicht paradox? Nur auf den ersten Blick. Wir alle kennen Fälle, in denen uns klar wird, dass wir etwas getan haben, das wir nicht hätten tun sollen. Dieses unbestechliche Wissen von einem Sollen ist das Fenster zur Freiheit. Es ist, so Kant, untrennbar von dem Eingeständnis, dass wir anders gekonnt hätten – also frei waren.

Mich hat Kants Aufforderung
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ immer fasziniert

Für Kant ist klar, dass es keine bequeme Sache ist, sich ein Urteil zu bilden, wenn es sich auf Verstand gründen soll. Er spricht eben nicht vom Mut zur Meinung. Es kostet Mut, weil der Verstand einem die eigenen Vorurteile und Meinungen kräftig verderben und entlarven kann. Uns steht einmalig viel Wissen zur Bildung von vernünftigen Urteilen zur Verfügung. Zugleich haben wir unendlich viele Anbieter von Meinungen, Vorurteilen, Verurteilungen, die mit Feindbildern locken. Kants Feststellung, dass es Mut braucht, auf den Verstand zu setzen, ist aktueller denn je. Es ist kein einfacher Weg. Niemand ist gefeit vor Irrtümern. Aber es ist und bleibt der Weg von Freiheit und Mündigkeit. Die Demokratie fordert diesen Mut ein. Sie lebt vom Respekt vor der Verstandesarbeit anderer. Aufmerksamkeit ist geboten bei jenen, die Ängste schüren und damit entmutigen.

Ich bin Schreiber – kein Philosoph

Was ich an Immanuel Kant für wichtig halte, entspringt daher auch keiner philosophischen Perspektive. Für mich persönlich bleiben einige Gedanken aus der Schrift Was ist Aufklärung? wichtig. Gern zitiert wird der Satz, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit sei. Aber eigentlich löst das eine weitere Frage aus: Was ist Unmündigkeit, vor allem aber, wie kommt diese durch Selbstverschulden zustande? Die Unmündigkeit, die Fügung in die Anleitung durch andere beim eigenen Verstandesgebrauch, hat ein Moment des Freiwilligen. Das ist denknotwendig, denn um Emanzipation begrifflich zu erfassen, müssen wir auch Menschen unter repressivsten Verhältnissen als zur Freiheit fähige Wesen denken. Diese Fähigkeit zur Freiheit besteht unter anderem darin, unsere Verhältnisse auf eine Weise zu interpretieren, dass ihre Veränderbarkeit in Richtung Befreiung aufscheint. Wir müssen das nicht tun, aber wir können es. Und wir sollten es auch tun.

Einer der wichtigsten Beiträge Kants für unsere Gegenwart
besteht meiner Meinung nach
in seiner Neuformulierung des Kosmopolitismus

Als „Weltbürgerschaft“ ist sie das insofern, als Kant die kosmopolitische Tradition auf eine neue Ebene hob. Von da an nämlich war der Kosmopolitismus nicht mehr nur eine individuelle moralische oder kulturelle Gesinnung, sondern konnte zu einer Reform der Institutionen in einer sich verändernden Welt führen.
Aspekte der kantischen Prinzipien eines „ewigen Friedens“ sind mit der Gründung der Vereinten Nationen (1945) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) in weltweiten Institutionen verankert worden. All dies kann nicht einfach in den Mülleimer der Geschichte geworfen werden, wie es viele Populisten der Rechten – und der Linken – heute am liebsten tun würden.
(Auszug aus: „Kosmopolitismus im Wandel“, Mandelbaum, 2024)

Wer über unser Denken nachdenkt,
muss zu Kant zurückgehen

Kant stieß die Tür zur Moderne auf und revolutionierte unser Selbstverständnis, indem er das menschliche Vernunftvermögen einer radikalen Kritik unterzog. In der Reflexion auf die Grundprinzipien der Vernunft, welche die Selbstkritik zur Methode machte, sollte sich erweisen, dass im Reich der Gründe keine anderen Autoritäten zu finden sind als wir selbst.
Wir bilden die Autorität der Vernunft in einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen; der Ausspruch der theoretischen oder praktischen Vernunft ist „nichts als die Einstimmung freier Bürger“. Niemand zuvor hatte menschliche Emanzipation so begründet, und dieser Gedanke bleibt heute auch dort leitend, wo wir die blinden Flecken von Kants eigenem Denken aufdecken (wer etwa als „Bürger“ zählt oder in Bezug auf Menschen nichteuropäischer Herkunft). Nach Kant ist die Menschenwürde in der allen Menschen zugeschriebenen Eigenschaft begründet, autonome, gesetzgebende Mitglieder eines „Reichs der Zwecke“ zu sein, das unsere Welt transzendiert und zugleich nach praktischer Verwirklichung ruft.

„Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.“ Dieser kleine Satz Kants hat eine ganze Welt aus den Angeln gehoben. Das Schöne ist nicht mehr Produkt der Kunst, ihrer Konzepte und Regeln. Und es ist dieses kunstlose Schöne, das von nun an die Norm der Kunst sein wird, die sie als eigene Sphäre der Erfahrung existieren lässt. Aber der Satz sagt noch etwas anderes: Es gibt einen Zugang zum Universellen, der sich nicht über Begriffe vollzieht, also nicht den Gelehrten vorbehalten ist, sondern jedem Menschen offensteht, der seine Augen für das Schauspiel des Sichtbaren öffnet. Es genügt, beim Betrachten der Fassade eines Palastes von den Mühen derer, die ihn gebaut haben, und dem Müßiggang derer, die ihn genießen, abzusehen.
Diese Bedingung sorgte für Gelächter: Dieses allen angebotene Universelle sei etwas für Ästheten, hieß es, nicht für Bauarbeiter. Letztere widerlegten die Lacher jedoch. Während der Revolution von 1848 erkannte Baudelaire im Lied der Arbeiter eine unglaubliche kollektive Machtbehauptung: „Auch wir wissen die Schönheit von Palästen und Parks zu schätzen.“ Was man in diesem Lied spürt, so Baudelaire, ist „der unendliche Geschmack der Republik“. Kant war weder Revolutionär noch Kunstliebhaber. Aber die Macht eines Gedankens besteht aus den Möglichkeiten, die er eröffnet, ohne dass er sie im Sinn gehabt haben muss.

Apr 2024 | Allgemein, Feuilleton, Politik, Sapere aude | Kommentieren