2024 ist – in kästnerschem Sinn – ein doppeltes Jubiläumsjährchen. Der Autor kam vor 125 Jahren am 23. Februar in Dresden zur Welt, und am 29. Juli vor 50 Jahren starb er in München. Dementsprechend herrscht zurzeit viel Trubel um ihn. Seine Werke kommen zwar leicht daher,  sind jedoch dramaturgisch und sprachlich tiefgründiger angelegt sind als das gemeinhin bekannt ist.

Kästners Geschichten sind unheimlich gut auf den Punkt geschrieben, sind enorm durchdachte Dramaturgie. Da ist kein Wort zu viel, die Handlungen sind stark durchkomponiert. Das macht die Stoffe so haltbar. Und gerade bei den Kinderbüchern merken wir: Er weiß, wie sich kindliche Ängste anfühlen. Er selbst hat erst spät einen Sohn bekommen, aber er wusste aus der eigenen Kindheit noch genau, wie er sie erlebt hatte. Er nimmt kindliche Emotionen ernst. Dazu kommt eine meist schwungvolle Sprache.
»Das doppelte Lottchen« ist auf eine andere Art interessant als etwa »Emil und die Detektive« oder »Pünktchen und Anton«. Es geht um eine Menge Erwachsenenprobleme, und vieles scheint für Erwachsene geschrieben zu sein, zum Beispiel Lottes Albtraum über die Trennung der Zwillinge, als der Vater das Bett der Mädchen durchsägt.

 

Was mir gefällt: Es gibt zwei Heldinnen, die gemeinsam all die Schwierigkeiten durchleben und Probleme lösen. Kästners Frauenbild ist zwar nicht immer sympathisch, doch in diesem Buch sind nicht Musterknaben, sondern Mädchen die Handelnden. Beim »Lottchen« finden wir außerdem aufregend, dass Kästner subtil politische Ebenen in die Geschichte eingewoben hat. Eine ist mir erst vor Kurzem aufgefallen: Kästner hat »Das doppelte Lottchen« auf der Fraueninsel im Chiemsee geschrieben, derweil zugleich auf der Herreninsel der Verfassungskonvent tagte.

Kästner ist einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Wie ernst nehmen Ihre Fachkollegen den Autor?

Das Urteil von Lesepublikum und Literaturwissenschaft fällt bei Kästner immer schon etwas auseinander. Den begeisterten Lesern steht eine Literaturwissenschaft gegenüber, die den Volksschriftsteller lange belächelte. Das ändert sich gerade. Es gibt Publikationen, Kästner-Konferenzen, ein Kästner-Handbuch und ein Jahrbuch der Kästner-Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass die Rezeption an Niveau zugelegt hat. Davor war er vor allem in der Forschung zur Kinder- und Jugendbuchliteratur präsent. Doch in den letzten Jahrzehnten hat die Wissenschaft ihn wieder als Erwachsenenautor entdeckt. Zu Recht. Kästners Sprache kommt zwar oft gefällig einherher, aber wenn man sie untersucht, zeigt sich, dass jedes Wort sitzt. Seine Texte sind sehr gefeilt und tiefgründig. Er war immerhin promovierter Germanist und hat Philosophie studiert. Allerdings wollte er für ein großes Publikum schreiben und etwas bewirken. Ein weiteres Problem für die Literaturwissenschaft: Er schrieb mit Humor. Damit kann man es in Deutschland in dem Fach selten zu was bringen. Und wenn Literaturforscher Komik auseinandernehmen, wird es meist ziemlich unwitzig.

Kästner wurde stets übel genommen, dass er während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland geblieben ist. Und dass er damals keinen großen Roman über Nazideutschland geschrieben hat.

Dazu gibt es eine Menge Fehleinschätzungen. Kästner hatte sich 1933 nicht vorgenommen, den großen Zeitzeugenroman zu liefern und deshalb in Deutschland zu bleiben – als seine Freunde, Verleger und Kollegen schon weg waren. Anfangs hat er wie viele andere die Lage falsch beurteilt und gedacht, der Spuk geht vorüber. Das hat er später selbst sehr kritisch gesehen. Er hat sich im Nachhinein nie als Held präsentiert und sein Verhalten durchaus hinterfragt. Warum hatte er zugeschaut und nur die Fäuste in der Hosentasche geballt, als seine Bücher ins Feuer geworfen wurden?

In den Kriegsjahren fing er an, für einen Roman zu sammeln, aber das Modell ist ihm 1945 zusammengebrochen. Weil ihm klar wurde, was der Holocaust war, weil er erkannte, dass er bei dem Thema nur scheitern konnte. Ich finde, das ehrt Kästner. Wer hat in den 1940er oder 1950er Jahren den großen Roman über die Nazizeit geschrieben? Niemand. Der kam erst Jahrzehnte später, als Autoren Strategien entwickelt hatten, mit den Stoffen umzugehen. Kästner hat dann versucht, 1956 mit »Schule der Diktatoren« und 1961 mit »Notabene 45« seinen Teil zur Aufklärung beizutragen. Nach 1945 war er zudem ein ganz anderer politischer Autor als noch vor 1933. Vor dem Krieg schrieb er eher Lyrik und Kabarett, danach mehr Essays. Er hielt politische Reden, ging auf die Straße und war bei Demos vorne dabei.

Während des „Dritten Reichs“ wurden Kästners Bücher verboten und verbrannt. Doch er fand Wege, unter Pseudonym zu schreiben. Wie ordnen Sie den Film »Münchhausen« aus dem Jahr 1943 ein, für den Kästner als »Berthold Bürger« das Drehbuch schrieb?

Dass ein Autor, der seit Jahren nicht arbeiten durfte, die Gelegenheit nutzte, das Drehbuch zu schreiben, finde ich verständlich. Der Film war Göbbels wichtig, kam aber nicht zuallererst als Propagandafilm heraus. So schaffte es Kästner, ein paar spitze Bemerkungen und eine Hitler-Karikatur in den Film zu schmuggeln. Das ist schon sehr lustig. Hitler drehte durch, als er erfuhr, wer hinter dem Pseudonym steckte.

Dennoch wurde Kästner später scharf kritisiert. Haben viele Leser einen hohen moralischen Anspruch an ihren Lieblingsautor? Als müsste er besser sein als Anton oder Emil?

Das hängt vielleicht mit dem Missverständnis zusammen, ein Moralist müsste moralisch sein. Dabei ist er einer, der die Gesellschaft beobachtet. Wie moralisch sollte er denn sein? Kästner musste auch ein Alltagsleben führen und irgendwie durchkommen. An viele Schriftsteller werden hohe Ansprüche gestellt – sie müssten so sein, wie sie schreiben, oder leisten, was sie in ihren Schriften verlangen. Das ist naiv.

Sie schreiben in Ihrer Biografie, dass sich Kästner selbst stark stilisierte. Inwiefern schrieb er sich ein Musterjungen-Image auf den Leib?

Die Selbststilisierung ist nicht unproblematisch, aber er relativierte sie später in Interviews und Reden. Sein autobiografisches Buch »Als ich ein kleiner Junge war« ist recht schonungslos. Vielleicht weil er nicht wie sonst für seine Mutter schrieb, sondern über sie. Sein Mutterbild ist zum Teil sehr bitter und nicht wirklich kindertauglich. Da hat er wenig beschönigt. Zugleich hat er in seine Tagebücher für die Veröffentlichung in »Notabene« stark eingegriffen. Er wollte schon entscheiden, wie die Nachwelt ihn sieht. Das wird etwa an der sehr überarbeiteten Sprache deutlich.

„Wenn Literaturforscher Komik auseinandernehmen,
wird es meist ziemlich unwitzig“

Dennoch – sagte Kästner einmal – sollte es klingen „wie hingespuckt“

Das ist eine meiner Lieblingsformulierungen. Damit es sich am Ende leicht liest, feilte er an jeder Silbe. Gleichzeitig konnte er sehr schnell und viel schreiben, das hatte er aus dem Journalismus. Er nutzte die journalistischen Techniken für die Literatur. »Fabian« schrieb er unheimlich schnell, und trotzdem ist der Text sehr geschliffen. Für sein Empfinden wie hingespuckt.

Er schrieb nicht nur viel, sondern bespielte auch viele Medien

Kästner war immer an den neuen Medien seiner Zeit dran und hat mit ihnen experimentiert. Er hat früh für den Film geschrieben. Es gibt eine Funkoper, Hörspiele, Drehbücher, Kabarettstücke, Werbung, Essays, Romane, Lyrik. Dabei hatte er immer einen Blick für die dramaturgische Struktur. Deshalb lassen sich die Stoffe so gut verfilmen. Das Schreiben war ihm wichtig. Es musste ständig kreativ sein. Als diese Kreativität im Alter nachließ, hat er unheimlich gelitten. Für ihn war es wichtig, sein Publikum zu erreichen, und das hat großartig geklappt. Das zeigt die Fanpost von Kindern und Erwachsenen.

Und offenbar tauchen immer noch unbekannte Texte von Kästner auf.

Neulich wurde ein unheimlich lustiges Gedicht gefunden: ein Weltuntergang in zehn Zeilen. Es geht um das posttechnische Zeitalter, und es kommt eine Herde Einhörner darin vor. Das Gedicht ist sehr witzig illustriert. Ein Zufallsfund, der als Faksimile in der aktualisierten Fassung der Biografie aufgenommen wurde. Aber auch sonst: Immer wieder tauchen bislang unbekannte Zeitungstexte und Gedichte von ihm auf. Auch weil er manches unter Pseudonym geschrieben hat. Einige Kisten standen bei seiner Sekretärin oder in Berliner Archiven. Wir wissen also nicht, was er noch alles geschrieben hat. Kästners Wohnung brannte im Zweiten Weltkrieg aus. Zudem vernichtete er womöglich Texte, nachdem die Gestapo ihn mehrfach vernommen hatte. Ihm war klar, dass er für viele Texte im KZ gelandet wäre.

Wie sind Sie eigentlich zu Kästner gekommen?

Feb 7, 2024 | Aktuelles, Februar 2024

März 2024 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau | Kommentieren