Awdijiwka – Carlo Masala lag falsch mit seiner Vermutung. Vorerst. Am Beispiel Awdijiwka hatte der Hamburger Politikwissenschaftler im Hamburger Abendblatt erläutert, dass die Ukraine sich zwar darauf versteift hatte, Putins Truppen weitestgehend ausbluten zu lassen. Wie er sagt, rechne er aber beinahe stündlich mit einem „taktischen Rückzug“ der ukrainischen Verteidiger aus dem Territorium. Das hatte Masala schon vor geraumer Zeit gesagt. Die Kämpfe dort gehen aber weiter; auch die Russen kämpfen weiter unnachgiebig um die Stadt, ohne dass ihr große Bedeutung für den Ausgang des Ukraine-Krieges beigemessen wird – sie steht als Symbol für das gegenseitige Kräftemessen zwischen Wladimir Putin und der freien Welt.
Newsweek berichtet aktuell, dass die Russen offensichtlich erneut Luft holen, um die Verteidiger aus der Stadt heraustreiben zu wollen – endgültig: Die russischen Streitkräfte „fügen zunehmend Panzergruppen hinzu, um Infanteriegruppen anzugreifen“, die rund um die Ortschaft stationiert sind, sagte jüngst Brigadegeneral Oleksandr Tarnavskyi, der Chef der ukrainischen Einheit Tavria, die Awdijiwka hält. Mitte Oktober startete Russland seine Offensive rund um Awdijiwka und forderte auf beiden Seiten Tausende Todesopfer, bereits bevor in der Ukraine der zermürbende Winter Einzug hielt. Moskau hat in den Monaten seitdem langsame, aber stetige Fortschritte im Bereich der dortigen Industrieansiedlungen gemacht.
Umkämpftes Awdijiwka:
Russlands Truppen betreten ein Trümmerfeld
Newsweek zitiert den einheimischen Journalisten Jurij Butussow damit, dass die Russen vom engeren Stadtrand nur etwas mehr als einen Kilometer entfernt seien. Butussow berichtet auf seinem Telegram-Kanal von einer verwüsteten Stadt. Beobachter hatten der Ukraine anfangs gute Chancen in der Verteidigung eingeräumt, aber der Optimismus schwindet zusehends.
Die ursprüngliche Taktik der Russen scheint gewesen zu sein, durch selbst gegrabene Tunnel, Keller und die Kanalisation ihre Verteidiger zu überraschen – das war das Vorgehen vom Ende des vergangenen Jahres, wie ein Sprecher der 110. separaten mechanisierten Brigade, Anton Kotsukon, der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian berichtet hatte: „Sie graben Tunnel näher an unseren Stellungen, erstens zum Zweck der Tarnung und zweitens, um unerwartet irgendwo näher an unseren Positionen aufzutauchen.“ Jetzt scheint Russland mit dem massierten Einsatz von Fahrzeugen eine Entscheidung erzwingen zu wollen; offenbar auf Biegen und Brechen. Die Zeit drängt – seit fast fünf Monaten reiben sich die russischen Truppen um die Ortschaft herum auf.
Der Weg nach Awdijiwka:
gepflastert mit Wracks und Gefallenen
Indem sie diese Keile in die von den Ukrainern gehaltenen Gebiete treiben, versuchen die Russen offenbar, kleine Kessel, kleine Umzingelungen innerhalb der umkämpften Region Awdijiwka zu schaffen. Um eine Einkreisung zu vermeiden, müssen sich die ukrainischen Truppen möglicherweise deshalb nach und nach aus mehreren Stellungen zurückziehen und ihre Linien begradigen, am ehesten im südlichen Teil der Ruinenstadt – so analysiert das ZDF die aktuelle Situation. Die Einnahme von Awdijiwka würde es Moskau ermöglichen, seine logistischen Operationen erheblich auszuweiten und die Mobilität der Ukraine gegen russische Stellungen in der Regionalhauptstadt Donezk einzuengen. Das wiederum würde Russland den Weg nach Kostjantyniwka ebnen – einer „ziemlich wichtigen Festung“, sagte der frühere ukrainische Oberst Serhiy Hrabsky gegenüber Newsweek.
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Die Verluste an Fahrzeugen waren von Beginn an ein Charakteristikum der russischen Offensivbemühungen um Awdijiwka. Anhand der Vergleiche von Satellitenbildern durch Datenanalysten von Frontelligence Insight verlor Moskau zwischen dem Start seiner Offensive auf die Stadt am 10. Oktober und dem Ende des Jahres allein rund um Awdijiwka mehr als 211 Fahrzeuge. Die Briten schätzen sogar weit umfangreicher: Das britische Verteidigungsministerium geht davon aus, dass Russland allein in den ersten drei Wochen der Offensive auf Awdijiwka rund 200 gepanzerte Fahrzeuge verloren habe.
Russlands Spiel mit der Geschichte:
Awdijiwka könnte ein zweites Grosny werden
„Der Kampf in bebautem Gelände ist in einem Krieg eine der am stärksten belastenden und herausfordernden Aufgaben für Soldaten und vor allem ihre Vorgesetzten“, so der ehemalige Bundeswehr-Generalmajor Walter Spindler. Die Verteidiger hätten die immensen Vorteile, ihre Stadt genau zu kennen, sie für die Verteidigung vorbereitet und ihre Pläne im Detail auf die örtlichen Gegebenheiten abgestimmt zu haben. Im Gegenzug könnten Angreifer Panzer und Fahrzeuge allenfalls bedingt und ineffektiv einsetzen. In den Taktikvorschriften westlicher Armeen werde eine Überlegenheit von 7:1, in den russischen Vorschriften sogar von 9:1 vorausgesetzt, um eine Stadt erfolgreich zu erobern, führt er aus. Der ehemalige Infanterie-Offizier hält den Panzereinsatz deshalb eher für eine aus der Not heraus geborene taktische Variante – seiner Meinung nach sind Panzer im Häuserkampf keine wirkliche Hilfe für die Infanteristen.
Ohnehin müssten die Infanteristen zunächst die Panzer gegen Feindfeuer sichern. Spindler: „Panzerbesatzungen können das Gefechtsfeld aus dem Panzer heraus nur durch etwa ziegelsteingroßes Panzerglas, die sogenannten Winkelspiegel, beobachten. Das schränkt ihre Sicht enorm ein. Zudem können Panzer und Schützenpanzer nur über kurze Entfernungen bis etwa 150 Meter statt der eigentlichen 3500 bis 4500 Meter weit schießen. Angriffen wie mit den aus westlichen Staaten an die Ukraine gelieferten Panzerfäusten oder Molotowcocktails sind die Fahrzeuge nahezu schutzlos ausgesetzt.“ Zudem müssen sie ohnehin durch die Stadt schleichen: Trümmer versperren ihnen Straßen und Zwischenräume, besonders dann, wenn diese Sperren zusätzlich vermint sind – an jeder Ecke lauert das Risiko.
Molotowcocktail – die primitive Granate
Der Molotowcocktail hat seinen Namen von Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow; er war zwischen 1920 und 1950 ein einflussreicher sowjetischer Politiker – zum Beispiel als Ministerpräsident und Außenminister.
Am 30. November 1930, drei Monate nach dem deutschen Überfall auf Polen, begann der „Winterkrieg“: Sowjetische Soldaten überquerten die finnische Grenze in Karelien, Flugzeuge der Roten Armee warfen Streubomben auf Helsinki und andere Städte. Molotow aber versuchte, den Angriff zu verschleiern. In einer Radioansprache sagte er, dass die Sowjetbomber Nahrungsmittel für die angeblich hungernde Bevölkerung abwürfen. Die Finnen nahmen die Streubomben mit schwarzem Humor und nannten sie „Molotow-Brotkörbe“.
Bereits seit Mitte der 30er-Jahre hatten Soldaten Flaschen mit brennbaren Flüssigkeiten massenhaft in Kriegen eingesetzt. Auf drei Kontinenten kämpften Infanteristen mit den neuen alten Waffen: die Chinesen in der Nähe von Shanghai gegen Japan, die Abessinen in Äthiopien gegen italienische Invasoren und die Faschisten unter General Franco in Spanien gegen republikanische Truppen. Panzer haben immer Schwachstellen gehabt: Durch die Sehschlitze der Fahrerkabinen und Lüftungsschlitze der Motoren konnte brennende Flüssigkeit ins Innere gelangen. Zumal wenn Panzer langsam fahren, sind sie einfache Ziele für Wurfbrandsätze.
Die finnische Armee war Russland hoffnungslos unterlegen und setzte vermehrt auf die Brandflaschen zur Panzerabwehr. Unter den Soldaten kursierte der Scherz, sie müssten zu Molotows Brotkörben den passenden Drink servieren. So entstand der Name für die Brandflaschen: Molotowcocktail.
Die Armee Wladimir Putins ist bereits vor etlichen Jahren mit ihren Panzern in einer Stadt in die Katastrophe gerasselt. Eines der letzten Gefechte, die Panzer in einer Stadt führten, endete in einem Desaster, wie der Osteuropa-Forscher James Hughes für den Thinktank Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien schreibt: „Im Dezember 1994 rückte eine lange Kolonne russischer Panzer in die tschetschenische Hauptstadt Grosny ein, um einen nationalistisch-sezessionistischen Aufstand niederzuschlagen. Russland war davon ausgegangen, dass bereits die bloße Demonstration militärischer Macht zur Kapitulation der Aufständischen führen würde.
Innerhalb weniger Stunden wurde die Kolonne jedoch von tschetschenischen Kämpfern vollständig aufgerieben. Russland verlor etwa 200 gepanzerte Fahrzeuge, und rund 1.000 russische Soldaten wurden getötet oder gefangen genommen.“ Der Panzer gehört auf das Gefechtsfeld. Städte sind ihm fremd. „Die aktuelle Situation bei Awdijiwka ist ein Mikrokosmos für das allgemeine Versagen des russischen Generalstabs, die Lektionen, die deren Truppen bei früheren gescheiterten Offensivbemühungen in der Ukraine gesammelt haben, zu verinnerlichen und an andere Truppengruppierungen im gesamten Gebiet weiterzugeben“, urteilt das Institute for the Study of War (ISW).
Awdijiwkas Eroberung: Ein Feldzug,
der noch sehr viel Personal verschlingen wird
Im Grunde verlangt der Kampf um Awdijiwka eine taktische Leistung der militärischen Führung, wie sie die Russen bisher durchweg haben vermissen lassen. Viel stärker als die Leistung von Panzern und Artillerie sei die Infanterie für den Erfolg im Orts- und Häuserkampf entscheidend, so Oberstleutnant Andre Knappe, Bataillonskommandeur des Objektschutzregiments der deutschen Luftwaffe. Zudem sei die Aufklärung von großer Bedeutung – zum Beispiel durch Drohnen. Die angreifende Seite laufe prinzipiell immer dem Vorteil der Verteidiger hinterher. Die schiere Masse an angreifendem Personal oder Material vergrößere vor allem die Opferzahlen, führe aber zu keinem unmittelbaren Gewinn.
Das mache die Einnahme einer größeren, dicht bebauten Ortschaft zu einer „fast unlösbaren Aufgabe“, so Knappe. Die russischen Streitkräfte hatten bereits zu Beginn des Krieges versucht, Kiew unter ihre Knute zu zwingen – auch das letztendlich erfolglos. Ihre Offensive war bereits in den Vororten der ukrainischen Hauptstadt gestoppt worden. So ein unübersichtliches Territorium unter die eigene Kontrolle zu bringen, sei immer eine immense Aufgabe – so unterschiedlich die Städte auch sein mögen, sagt der Oberstleutnant. „Dafür brauchen sie sehr, sehr viel Personal.“
Selbst wenn den Russen letztendlich gelingen sollte, Awdijiwka einzukesseln, ist das insofern eher das Ergebnis eines langsamen, schleichenden Vormarsches als eines blitzkriegartigen, zerstörerischen Durchbruchs, der den verbleibenden Verteidigern genügend Zeit lässt, sich zurückzuziehen und so der Einkesselung zu entgehen. Und mit jeder Verzögerung der Gegner behalten die Verteidiger Oberwasser. Dmytro Lazutkin, der Sprecher der um Awdijiwka herum kämpfenden 47. ukrainischen Brigade, hatte bereits im Dezember gegenüber Newsweek verkündet: „Die Verteidigung der Stadt lohnt sich, solange wir die Russen erschöpfen.“
Die verbissenen russischen Offensivbemühungen belegen, dass die Ukrainer weiterhin unbeugsam dagegenhalten. Der Krieg wird weiter köcheln.