Der Begriff Eschatologie wurde im 17. Jahrhundert für das Lehrstück der Dogmatik geprägt, das auch „Lehre von den Letzten Dingen“ hieß und das sich mit der Zukunft und der Vollendung der einzelnen Menschen und der Schöpfung im ganzen befasst. In diesem Sinn spricht auch die Religionsgeschichte von Eschatologie. In der soziologischen, politologischen und philosophischen Futurologie wird der Begriff Eschatologie gelegentlich ebenfalls verwendet; er meint dann die Erforschung der wissenschaftlich prognostizierbaren Möglichkeiten der Geschichte, ohne eine Vollendung in Betracht zu ziehen. In den Glaubensbekenntnissen wird die christliche Erwartungs- und Hoffnungshaltung ausgesprochen im Hinblick auf das (Wieder-)Kommen Jesu als Richter über Lebende und Tote (Parusie), auf die Auferstehung der Toten und das Ewige Leben. In der alten Kirche wurden die einzelnen biblischen Aussagen, außer denen über die genannten Themen auch diejenigen über Tod, Himmel, Hölle, Seele, Leib, Ewigkeit und die über das katastrophische Ende der Welt eingehend – aber isoliert – behandelt.
Einige wenige Theologen brachten ihre geschichtstheologischen Überlegungen in eine systematische Gestalt (Irenäus von Lyon † um 202: Anakephalaiosis; Origenes † 253: Origenismus; Augustinus †430: Augustinismus). Da die biblischen Zeugnisse vielfach als relativ dürftig empfunden wurden, fanden außerbiblische Texte über Jenseitsreisen und Visionen große Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit den Einzelthemen der Eschatologie geschah im Horizont des als selbstverständlich hingenommenen antiken Weltbildes, das mit dem „Himmel“ oben als der Wohnstätte Gottes und dem Versammlungsraum der Seligen sowie mit der Unterwelt als der unterirdischen Strafhölle rechnete. Diese „Jenseitsgeographie“ erleichterte die Auffassung, die Zukunft bestehe aus letzten „Dingen“. Die biblische Naherwartung verband sich mit der bei Kirchenvätern geläufigen Theorie, der Kosmos sei alt und erschöpft und stehe deshalb vor seinem Ende, eine Meinung, die Weltflucht und -verachtung begünstigte und dazu beitrug, dass die Geschichte nur als Ort der Prüfung und Bewährung, um in den Himmel zu kommen, aufgefasst wurde. Die mittelalterliche Theologie kam über die Sammlung und Kommentierung biblischer Einzelthemen zur Eschatologie kaum hinaus. Kirchenamtliche Stellungnahmen betrafen den Chiliasmus und das Schicksal der menschlichen Seele sofort nach ihrem Tod. Eine katholische Sonderlehre wurde beim Thema des Fegfeuers entwickelt.
Auch die Theologie der Reformatoren fand noch nicht zu einem systematischen Traktat der Eschatologie. Die Anfänge eines solchen finden sich in der evangelischen Theologie bei Friedrich Schleiermacher († 1834), in der katholischen Theologie vor allem in der Tübinger Schule des 19. Jahrhundert, wobei die Einflüsse Georg Wilhelm Friedrich Hegels († 1831) mit seinem Bedenken des zielgerichteten Geschichtsprozesses und seiner Vollendung nicht zu verkennen sind; von da an wurde das Zentralthema Jesu, die Herrschaft Gottes, das durch Jahrhunderte von der Himmelssehnsucht verdrängt worden war, wieder theologisch relevant. Allerdings blieb der Traktat „De novissimis“ (über die letzten Dinge) in der katholischen neuscholastischen Eschatologie bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhundert eine jenseitsorientierte Sammlung einzelner Lehrstücke, bei der Bibeltexte als Informationsmaterial benützt wurden.
Erneuerung der Eschatologie
Entscheidende Veränderungen der katholischen Eschatologie sind Hans Urs von Balthasar († 1988) und Karl Rahner († 1984) zu verdanken. Bei den Bibeltexten unterschied von Balthasar zwei nicht miteinander vereinbare Aussagereihen, die mit Drohungen einer ewigen Verwerfung arbeitende und die Hoffnung stiftende. Dementsprechend teilte sich für ihn die Eschatologie in eine solche der Hoffenden (mit Origenes als großem Impulsgeber) un. in eine solche der Wissenden (angeführt von Augustinus). In seiner Geschichtstheologie kam von Balthasar, christologisch u. soteriologisch begründet, einer Apokatastasis sehr nahe. Die Redeweise von den „letzten Dingen“ wollte er verändert sehen in das Bedenken der „letzten Begegnungen“, nämlich mit dem erbarmungsvoll richtenden, läuternden und rettenden Gott. Rahner verwies auf die Notwendigkeit einer Hermeneutik biblisch-eschatologischer Aussagen, bei denen es sich nicht um vorausschauende Reportagen des noch ausständigen Kommenden handle, sondern um Ansagen der „je jetzt“ gegebenen Situation und der in ihnen liegenden, auf die Zukunft gerichteten Möglichkeiten. Die humanisierende Arbeit an der innerweltlichen Zukunft wird, im Zeichen der Einheit von Gottes- und Menschenliebe, als eigentlich religiöse Aufgabe verstanden, bei der in der fortschreitenden Befreiung (Emanzipation) von Menschen eine glaubend-hoffende Offenheit für das Ankommen einer anderen, der endgültigen, „absoluten“ Zukunft, die Gott selber ist, verwirklicht wird. Die Arbeit an der innerweltlichen Zukunft ist so unabdingbare Voraussetzung der Vollendung, führt diese von sich aus aber nicht herbei. Die Vollendung (das Eintreten der Menschen und des von ihnen Erwirkten in den Zustand der Endgültigkeit) bleibt unter dem „eschatologischen Vorbehalt“ Gottes.
Die neuere Politische Theologie stellt die Fragen, ob die Menschheitsgeschichte tatsächlich unter dem Vorzeichen eines evolutiven Fortschritts stehe oder ob die Menschheit nicht imstand sei, Gottes Absichten mit der Schöpfung zerstörerisch zu durchkreuzen. Jedes theologische Nachdenken über die Zukunft muss ihrer Meinung nach die Erinnerung an die Opfer der Geschichte und die Leidenden einbeziehen; die christliche Verantwortung für eine rettende Zukunft soll im Zeichen apokalyptischer Naherwartung unter Handlungsdruck gesetzt werden. In der evangelischen Theologie ist außer dem konstanten Nachwirken Schleiermachers ein Neuansatz der Eschatologie bei Karl Barth († 1968) zu registrieren, in dem allein die Begegnung des Menschen mit dem „ganz anderen“, transzendenten Gott von Bedeutung ist und die biblischen Ansagen sowohl zum Reich Gottes als auch zum Weltuntergang nur noch zum Protest gegen den Kulturprotestantismus taugen. Rudolf Bultmann († 1976) war derjenige, der die „präsentische“ johanneische Eschatologie wieder zur Geltung brachte und die zeitliche Zukunft für unerheblich erachtete. Jeden Augenblick könne das Kerygma den Sünder treffen, so dass er für ihn zum eschatologischen Augenblick werde, den es wahrzunehmen gelte.
Die evangelische Politische Theologie protestierte
gegen diese extrem individualisierende,
sich der Welt- und Zukunftsverantwortung verweigernde Sicht
Ungeachtet der Beobachtung, dass die Verheißungen des Alten Testaments durch Jesus Christus keineswegs völlig und universal „erfüllt“ sind, sondern jede teilhafte Erfüllung einen Verheißungsüberschuss zutage treten lässt, stellt sich ein Teil der evangelischen Eschatologie unter das Vorzeichen einer radikalen Christozentrik. Das führt zum Beispiel bei Wolfhart Pannenberg dazu, von einer Antizipation der verheißenen Zukunft in Jesus Christus zu sprechen und das Geschichtsgeschehen von da her verstehen zu wollen, ungeachtet dessen, dass ein vorweg ereignetes Ende ein Widerspruch in sich ist. – Das in vielfachen Bedeutungen auftretende Eigenschaftswort eschatologisch ist dann eindeutig, wenn es nicht für Voraussagen der Zukunft oder für apokalyptische Endzeit steht, sondern ein Verhältnis Gottes zu Schöpfung und Menschheit und die Offenbarung dieses Gottesverhältnisses als „endgültig“ und „unüberholbar“ charakterisiert.
Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder
Diese Krise von Demokratie und Kapitalismus ist eine philosophische: Die Bürger fühlen sich ihren Systemen zunehmend entfremdet, weil sie sie mit veralteten Maßstäben messen.
Längst leben wir in einem nüchternen Pragmatismus. Unsere Art, gesellschaftliche Entscheidungen zu treffen, befindet sich in einer Krise, die ihre Fundamente untergräbt.
Nach der Nachricht vom Tod von Alexej Nawalny, geben Spitzenpolitiker diverser Staaten Putin die Schuld. Nawalny sei zu Tode gefoltert worden. Der ukrainische Präsident Selensky geht von einer gezielten Tötung des Kreml-Kritikers aus.
Alexej Nawalny hat seinen Kampf gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin nach Auffassung vieler Politiker weltweit mit dem Leben bezahlt. Der berühmteste politische Gefangene des Landes starb am Freitag im Alter von 47 Jahren nach Angaben der Justiz in seiner sibirischen Strafkolonie. Er sei „nach einem Spaziergang zusammengebrochen, Wiederbelebungsversuche“ – hieß es – „hätten keinen Erfolg gehabt“ …
Die Firma Kirche ist ein überaus großes öffentlich-rechtliches Unternehmen, welches Filialen, die sogenannten Pfarrgemeinden, auf der ganzen Welt hat. Der Hauptsitz ist jedoch in Rom, von wo aus besonders wichtige Dinge angeordnet werden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Firmen hat die Kirche feste Stammkunden, die in allen Altersstufen vertreten sind. Es gibt keine Produktpalette mit gegenständlichen Dingen, die verkauft werden müssen. Alle Kunden bezahlen einen festen Beitrag, mit dem sie die Firma sponsoren und im Gegenzug dafür alle Dienstleistungen in Anspruch nehmen dürfen.
Awdijiwka – Carlo Masala lag falsch mit seiner Vermutung. Vorerst. Am Beispiel Awdijiwka hatte der Hamburger Politikwissenschaftler im Hamburger Abendblatt erläutert, dass die Ukraine sich zwar darauf versteift hatte, Putins Truppen weitestgehend ausbluten zu lassen. Wie er sagt, rechne er aber beinahe stündlich mit einem „taktischen Rückzug“ der ukrainischen Verteidiger aus dem Territorium. Das hatte Masala schon vor geraumer Zeit gesagt. Die Kämpfe dort gehen aber weiter; auch die Russen kämpfen weiter unnachgiebig um die Stadt, ohne dass ihr große Bedeutung für den Ausgang des Ukraine-Krieges beigemessen wird – sie steht als Symbol für das gegenseitige Kräftemessen zwischen Wladimir Putin und der freien Welt.
Wie weit wird Wladimir Putin gehen? Diese Frage stellen sich Politiker und Experten überall in Europa. Denn noch kämpfen Russlands Truppen in der Ukraine, aber die Pläne des russischen Regimes könnten umfassender sein. Droht den baltischen Staaten – Mitgliedern der Nato – in der Zukunft Gefahr durch Russland? Die Bedrohung ist konkret und näher, als uns lieb sein kann: Diese Warnung spricht der ehemalige russischer Diplomat Boris Bondarew aus, der aus Protest gegen die Invasion der Ukraine 2022 den Staatsdienst verlassen hat.
Gerade hat Bondarew sein Buch „Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands“ veröffentlicht. Wie der Exilant die Gefahrenlage einschätzt, was die westlichen Staaten zur Abschreckung Russland tun können und welches Ende Putin am meisten fürchtet, erklärt Bondarew im Gespräch mit unserer Redaktion:
Herr Bondarew, Sie haben sich 2022 öffentlich von Putins Regime losgesagt und den russischen Staatsdienst quittiert. Haben Sie Angst vor Putins Rache?
Boris Bondarew: Niemand kann sich mehr sicher fühlen, dafür hat Putin gesorgt. Die Gefahr wächst rasant und dramatisch, Europa muss dringend seine Sicherheit verstärken, bevor es zu spät ist. Um mich selbst mache ich mir keine großen Sorgen. Es gibt prominentere Leute, die dem Kreml ein Dorn im Auge sind.
Als Sie 2002 Ihre Tätigkeit im russischen Staatsdienst aufgenommen haben, betrachteten die westlichen Staaten Russland noch als Partner. Wie haben sich Putin und sein Regime im Laufe der Zeit verändert?
Das Regime hat sich gar nicht stark verändert. Mittlerweile zeigt Putin aber sein wahres Gesicht. Die ganze Welt kann nun sehen, wie Russlands Führung wirklich ist und was sie erreichen will.
Was will Putin denn – neben der ganzen Ukraine auch das Baltikum oder gar die Zerstörung der westlich geprägten liberalen Weltordnung?
Putin hat ein einfaches Ziel: Er will bis ans Ende seiner Tage an der Macht bleiben und im Überfluss leben. Nicht mehr und nicht weniger. Ganz sicher will er nicht vorzeitig im Grab enden oder seine letzten Jahre im Bunker fristen. Putin wird im Westen oft überschätzt, er ist weder Revolutionär noch Fanatiker und erst recht kein Visionär. Nein, der heutige Herrscher im Kreml ist im Prinzip nichts weiter als ein sowjetischer Beamter, der es bis an die Spitze des russischen Staates gebracht hat.
Zur Person
Boris Bondarew, 1980 in Moskau geboren, arbeitete zwei Jahrzehnte für das Außenministerium der Russischen Föderation. Der Diplomat war an den russischen Botschaften in Kambodscha und der Mongolei tätig, zuletzt war Bondarew als Gesandter beim Büro der Vereinten in Nationen in Genf. Am 23. Mai 2022 erklärte Bondarew seinen Rücktritt – aus Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Jetzt lebt er in der Schweiz im Exil.
Aber Kriege sind riskant, man kann sie verlieren. Setzen Putin und seine Gefolgsleute mit der Aggression gegen die Ukraine nicht alles Erreichte aufs Spiel?
Zum Teil schon, aber um Putins Handlungen zu verstehen, müssen wir seine Gedankenwelt verstehen. Er hält die Europäer für zu bequem, um für ihre eigenen Ideale einzustehen. Der Westen spricht ständig über ukrainische Grenzen und den Rückzug der russischen Truppen. Worüber der Westen aber nichts sagt, ist, wie die ukrainische Sicherheit langfristig gewährleistet werden soll und was er mit der Quelle der Bedrohung – Putins Russland – zu tun gedenkt. Wie will er dieses Problem angehen? Das erfordert Antworten.
Selbst wenn Putin die westlichen Staaten als schwach und konfliktscheu betrachtet, erklärt das noch nicht seinen Entschluss zur Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022.
Damit kommen wir zur zweiten Ebene in Putins Denken: Er benutzt außenpolitische Krisen und Konflikte, um seine Machtposition abzusichern. 2011 kam es in Russland nach den Parlamentswahlen zu massiven Demonstrationen, es waren die größten während der gesamten Ära Putin …
… zu dieser Zeit war Putin Ministerpräsident, sein Komplize Dmitri Medwedew hatte das Präsidentenamt inne.
Richtig, Medwedew diente Putin als Platzhalter. Im März 2012 wurde dann erneut Putin in den Kreml gewählt. Weder bei den Wahlen zur Duma noch zum Präsidentenamt ging es ehrlich zu, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs. Putin musste damals einen Volksaufstand fürchten. Also besetzte er im Jahr 2014 die ukrainische Krim und setzte voll auf Nationalismus. Das hat ihm sehr geholfen, er erlebte einen Popularitätsschub.
Warum wollte Putin dann 2022 noch mehr?
Das ist in der Logik seines Systems begründet. Ein paar Jahre nach der Krim-Besetzung sanken Putins Popularität und damit auch seine Legitimität erneut, sodass er ein anderes Instrument finden musste, um sie wieder zu steigern. Also beschloss er, das Krim-Szenario zu wiederholen. Aber dann in größerem Maßstab.
Sie meinen, mit der Invasion der Ukraine vor zwei Jahren wollte Putin einfach erneut dem innenpolitischen Druck ausweichen?
Warum sollte 2022 nicht wieder funktionieren, was schon 2014 reibungslos funktioniert hatte? Die Krim war damals schnell und ohne Blutvergießen eingenommen worden, der Westen verzichtete auf eine angemessene Reaktion. Allerdings war Putin zu verblendet, um einen entscheidenden Unterschied zu erkennen: Die Ukraine von 2022 war nicht mehr die Ukraine von 2014. Sie war nun aufgerüstet und kampferprobt. Dabei hat sie möglicherweise auch von der Corona-Pandemie profitiert.
Wieso das?
Covid-19 war etwas Unvorhersehbares und brachte auch in Russland alles zum Stillstand. Vielleicht hätte das Regime die Ukraine ohne die Pandemie schon früher angegriffen. So musste es warten, und die Ukrainer bekamen mehr Zeit. Aber dass Putin wieder zündeln würde, stand fest. Putin klammert sich um jeden Preis an die Macht, er nimmt auf nichts und niemanden Rücksicht und wird niemals freiwillig gehen. Die beabsichtigte Eroberung Kiews wäre die erwünschte Ablenkung gewesen, um die Macht seines Regimes weiterhin zu sichern.
Nun ist Russland weit von einer Unterwerfung der Ukraine entfernt, stattdessen verschleißt es Menschen und Material an der Front. Noch mal die Frage: Was will Putin jetzt noch erreichen?
Wenn man einen solchen Prozess startet, verliert man zwangsläufig die Kontrolle. Zumindest in einem gewissen Ausmaß. Putin kann nicht alles kontrollieren, er kann die Zeit nicht zurückdrehen. Nun macht das Regime eben das Beste aus der Situation: Putin will möglichst viel Territorium von der Ukraine einnehmen und sich als großer Eroberer präsentieren, der die „russischen“ Länder wieder „vereinigt“. Nebenbei kann er den Westen als egoistisch und prinzipienlos vorführen, besonders die USA will Putin demütigen.
Ja, schon. Die Amerikaner haben ihren Platz an der Spitze der globalen Ordnung nicht verdient – davon ist Putin überzeugt. Weder seien die USA so stark noch so zuverlässig, wie sie selbst behaupten. Putin duldet keinerlei Einmischung oder gar Bevormundung, die ihn in seinen Handlungsmöglichkeiten einschränkt.
Wie etwa das geltende Völkerrecht?
Das Völkerrecht ist Putin völlig egal. Er wird jeden Vertrag, jedes Abkommen, jede Zusage genau in dem Moment brechen, in dem es ihm nützlich erscheint. Er ist ein Lügner, dem man keine Sekunde lang glauben darf. Wer das nicht versteht, lebt gefährlich.
Haben Sie deshalb dem russischen Staatsdienst den Rücken gekehrt?
Der Krieg ist sowohl ein Verbrechen gegen die Ukraine als auch gegen die Menschen in Russland. 20 Jahre lang habe ich für das russische Außenministerium gearbeitet, die Zahl der Lügen und das Ausmaß der Unprofessionalität hat in diesem Zeitraum unfassbar zugenommen. Ich wollte das nicht mehr mitmachen, ich habe es nicht mehr ertragen. Mit Putin kann man keinen langfristigen Frieden schließen.
Jetzt mehren sich aber auch im Westen die Stimmen, die auf Verhandlungen mit dem Kreml drängen, um den Krieg zu beenden.
Diese Leute haben den zentralen Punkt nicht verstanden oder sie wollen ihn nicht verstehen: Man kann mit Putin nicht verhandeln. Aus dem einfachen Grund, weil man ihm nicht vertrauen kann. Niemals. Wir können diesen Krieg auch nicht einfach aussitzen, denn Putin hat ihn mit Bedacht entfacht. Er ist auch ein Kampf der Ideologien, so etwas lässt sich nicht durch Beschwichtigung beilegen. 1938 machten die Westmächte Adolf Hitler im Münchner Abkommen große Zugeständnisse. Hat das Hitler etwa friedfertiger gemacht? Putin ist nicht Hitler, aber in diesem Punkt verhält er sich genauso: Entgegenkommen betrachtet er als Schwäche und nutzt sie gnadenlos aus. Friedensangebote würden ihn nur noch gieriger machen. Er würde zwar taktisch verhandeln, aber dann auf die nächste Gelegenheit zum Losschlagen lauern.
Wie weit will Putin seinen Herrschaftsbereich ausdehnen?
Putin denkt in den geografischen Dimensionen des untergegangenen sowjetischen Imperiums. Er will bestimmen, wie die Menschen leben: in Russland und Belarus, aber auch in der Ukraine, Kasachstan oder dem Baltikum.
Die drei baltischen Staaten sind Mitglieder der Nato. Würde Putin die direkte Konfrontation mit dem Verteidigungsbündnis suchen?
Ein Angriff auf die Nato ist Putin absolut zuzutrauen. Mit jeder schwachen Reaktion des Westens angesichts einer russischen Provokation wird dieses Szenario wahrscheinlicher. Der Krieg mit der Nato steht heute noch nicht auf der Tagesordnung, könnte aber schon bald zur Tagesordnung von morgen werden. Im Idealfall möchte Putin seine Herrschaft über alle Länder des alten Warschauer Pakts ausdehnen. So ist zumindest das Ultimatum zu verstehen, das der Kreml am 15. Dezember 2021 vor dem Angriff auf die Ukraine stellte.
Die DDR gehörte ebenfalls dem Warschauer Pakt an. Müssen wir Deutsche uns Sorgen machen?
Vielleicht würde Putin Deutschland verschonen, wer weiß? Aber niemand in Deutschland sollte die Gefahr unterschätzen. An der Nato-Grenze ist Putins Regime eine ständige Bedrohung.
Wie können die westlichen Staaten Russland effektiv abschrecken?
Putins Krieg gegen die Ukraine ist der beste Beweis,
wie wenig er den Westen ernst nimmt.
Der Westen muss sich endlich dazu aufraffen, seine eigenen Werte zu verteidigen. Blut und Mühsal, Tränen und Schweiß – das braucht es, wie Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg gesagt hat. Auch Deutschland wird es eine Menge kosten, wenn es die Herausforderung ernst nimmt.Wladimir Putin:
BILD: Russlands Machthaber will das Imperium in alter Größe sehen. (Quelle: Mikhail Metzel/POOL/TASS/dpa)
Im Augenblick kostet der Krieg Russland zahlreiche Soldatenleben,
ohne dass größere Erfolge zu verbuchen sind.
Wie lange sind die Russen bereit zu leiden?
Die Russen können sehr lange leiden, diese Fähigkeit haben sie in ihrer Geschichte viel zu oft beweisen müssen. Wer einen Großteil seines Tages und seiner Ressourcen für die Sicherung seiner eigenen Existenz aufwenden muss, kann nicht allzu viel Zeit für das Nachdenken über die Politik aufwenden. Der durchschnittliche russische Bürger interessiert sich nur für sein eigenes Leben: Auch das ist eine Lektion, die meine Landsleute aus historischer Erfahrung verinnerlicht haben. Putin ist diese Haltung nicht nur recht, er fördert sie.
Was würde – aus welchem Grund auch immer –
passieren, wenn Putin ausfiele, ?
Niemand kann Putin einfach ersetzen, er bekleidet eine einzigartige Funktion an der Spitze des russischen Staates. Sein Abgang würde eine gewaltige Lücke hinterlassen, denn es gibt zahlreiche Clans und Gruppen, die miteinander streiten. Putin hält sie alle im Zaum, aber ein Nachfolger müsste sich diese Stellung erst hart erarbeiten. Immerhin ist Putin mittlerweile fast 25 Jahre an der Macht.
Für wie stabil halten Sie Putins Herrschaft nach zwei Jahren Krieg noch?
Putins Regime wankt nicht. Es besteht aus Gangstern, ist durch und durch korrupt und nicht sonderlich effektiv, aber es ist stabil. Weil es an den entscheidenden Stellen eben doch überaus effizient agiert: Die gesamte Struktur ist strikt hierarchisch von oben nach unten angelegt, sodass Befehle die gesamte Kette durchlaufen – ohne von irgendwelchen Diskussionen oder anderen Meinungen gebremst zu werden. Putins Russland ist ein Führerstaat.
Glauben Putin und seine Entourage wirklich daran, dass der Westen Russland „einkreisen“ und „schwach halten“ will?
Niemand weiß, was Putin wirklich denkt. Aber die Anzeichen sprechen tatsächlich dafür, dass er seine eigene Propaganda für bare Münze nimmt. Denn Putin glaubt an die Überlegenheit Russlands und die Böswilligkeit der USA. Nehmen wir die Orangefarbene Revolution 2004 in der Ukraine: Putin hielt sie für eine Verschwörung des Westens gegen Russland. In seiner Welt ist es nicht vorstellbar, dass politischer Protest aus sich selbst heraus entsteht. Ich persönlich denke, dass vor allem das Jahr 2011 und die damaligen Ereignisse in Libyen wichtig sind, um Putins Politik zu verstehen.
Im „Arabischen Frühling“ stürzten Aufständische damals den libyschen Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi, unterstützt durch westliche Luftangriffe.
Gaddafis elender Tod in einem Straßengraben hat Putin schwer beeindruckt, ein solches Ende ist sein größter Albtraum. Auf keinen Fall soll sich Vergleichbares in Russland wiederholen; eher würde er alles anzünden.
Würde er im Notfall also auch zur Atombombe greifen? Der Kreml droht dem Westen immer wieder mit Nuklearschlägen.
Putins atomare Drohungen sind furchtbar, aber sie haben sich bislang als leer erwiesen. Er spielt mit dem Schrecken. So hält er die Nato-Staaten von einem direkteren Engagement in der Ukraine ab und bremst das Tempo der Waffenlieferungen. Im Ernstfall ist Putin aber alles zuzutrauen – auch wenn befreundete Staaten wie Indien und China einen Nuklearwaffeneinsatz zutiefst missbilligen würden. Im Augenblick wartet der Kreml aber sicherlich erst einmal den Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA ab.
Ist Ihre Heimat Russland endgültig für die Demokratie verloren – oder hegen Sie noch Hoffnung?
Ich bin zuversichtlich. In den Neunzigerjahren waren die Russen gewissermaßen nicht von dieser Welt: Was wussten Menschen, die in der Sowjetunion aufgewachsen waren, von Demokratie, Zivilgesellschaft und Rechtsstaat? So gut wie nichts. Heute hingegen gibt es viele junge Russinnen und Russen, die im Ausland waren und etwas von der Welt gesehen haben. Sobald der Krieg vorbei ist, wird sich hoffentlich etwas ändern.
Und Sie selbst, werden Sie irgendwann in Ihre Heimat zurückkehren können?
Ich liebe mein Land und seine Menschen. Eines Tages werde ich dorthin zurückkehren.
Israels geplante Militäroffensive stößt international auf immer mehr Kritik. Die israelische Armee will in die Stadt Rafah vorstoßen, die im Süden des Gazastreifens liegt und mit einer Million palästinensischer Geflüchteter überfüllt ist. Möglicherweise kommt es zu einer Massenflucht vom Gazastreifen ins benachbarte Ägypten.
Die ägyptische Regierung lasse bereits ein Auffanglager bauen, schreibt die US-amerikanische Tageszeitung „Wallstreet Journal“ und beruft sich auf Insider aus Sicherheitskreisen, Ägypten bestreitet jedoch den Bau.
Die verschiedenen Ansprüche oder Anschauungen in den jeweiligen „Kulturen“ sind nicht miteinander vereinbar. Selbstverständlich sollten Monotheisten, Atheisten und Polytheisten idealerweise in der Lage sein, mehr oder weniger in friedlicher Nachbarschaft zu leben.
Aber die Gesetze der Scharia und die Regeln westlicher Demokratien sind vollkommen unvereinbar. Und diese Unvereinbarkeit ist im „multikulturellen Gespräch“ nicht einfach wegzudiskutieren. Eine Aufforderung, dass wie gegenüber allem und jedem in der gleichen Weise tolerant zu sein hätten, wäre schlicht gedankenlos. Religiöse Überzeugungen auf der einen Seite und die unsere westlichen Gesellschaften auszeichnende wissenschaftliche Rationalität auf der anderen Seite stehen keinesegs im Wettstreit miteinander.