Ist der Quantenmechanik wegen alles im Universum vorherbestimmt ? Der quantenphysikalischen Unsicherheiten wegen ist letztlich alles dem Zufall unterworfen, so jedenfalls lautet die weitverbreitete Vorstellung. Doch in Wahrheit könnte genau das Gegenteil der Fall sein.
Möglicherweise konnte sich unser Kosmos nur so entwickeln, wie er es getan hat. Ein einziger Pfad hätte dann – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – zum heutigen Universum geführt.

Hätte sich das Universum überhaupt auf andere Weise entwickeln können? Solche Gedanken dürften Albert Einstein umgetrieben haben, als er dem Mathematiker Ernst Strauss gegenüber äußerte: »Was mich eigentlich interessiert, ist, ob Gott die Welt hätte anders machen können; das heißt, ob die Forderung der logischen Einfachheit überhaupt eine Freiheit lässt.«

Zur anhaltenden Debatte um solche Fragen hat der US-Physiker James Hartle, der im Mai 2023 im Alter von 83 Jahren verstorben ist, entscheidende Beiträge geleistet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien die aufkommende Quantentheorie die klassische Vorstellung über den Haufen zu werfen, die Entwicklung des Universums sei streng deterministisch. Hartle trug hingegen zu einer alternativen Sichtweise bei, die mit dieser üblicherweise erzählten Geschichte bricht, der Determinismus sei mit der klassischen Physik und ihrer eindeutigen Berechenbarkeit der Zukunft erstarkt und anschließend durch die Quantenphysik zu Fall gebracht worden. Hartles Bild kehrt diese Vorstellung völlig um: Ein Quantenuniversum wäre womöglich deterministischer als ein klassisches – und trotz aller offenkundigen Ungewissheiten könnte die Quantenmechanik besser erklären, warum das Weltall so ist, wie es ist.

In der Physik bedeutet Determinismus, dass sich aus dem Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammen mit den grundlegenden physikalischen Gesetzen einerseits die gesamte Geschichte rekonstruieren lässt und andererseits vollständig bestimmbar ist, wie sich alles weiterentwickelt. Diese Sichtweise erreichte ihren Zenit mit der Einführung der strengen und präzisen Gleichungen der klassischen Physik. Dazu gehören die von Isaac Newton aufgestellten Bewegungsgesetze. Ihnen zufolge könnte jemand, der die gegenwärtigen Orte und Impulse sämtlicher Teilchen kennt, zumindest prinzipiell alle Informationen über das Universum sowie seine Vergangenheit und Zukunft ermitteln. Lediglich ein Mangel an Wissen (oder Rechenleistung) hindert ihn daran. Zudem entspricht dem Determinismus ein wissenschaftliches Grundprinzip, das auf ähnliche Weise schon der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz in seinem »Satz vom zureichenden Grund« formuliert hat: Es muss für alles eine Ursache geben. Jeder Zustand des Universums (mit einer Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen komme) kann vollständig durch einen früheren Zustand erklärt werden. Stellt man sich den Kosmos als einen Zug vor, legt ihn der Determinismus auf genau ein Gleis fest, ohne jede Möglichkeit, auf ein anderes zu wechseln.

Diese Vorhersage- und Erklärungskraft wurde in der Physik weithin geschätzt. In anderen Fächern, darunter der Philosophie, gingen die Meinungen eher auseinander. Nicht zuletzt lag das an der Tatsache, dass damit der freie Wille des Menschen ausgeschlossen scheint: Wenn die Gesetze der Physik deterministisch und unsere Handlungen nur die Summe von Teilcheninteraktionen sind, scheint es keinen Raum dafür zu geben, uns frei für Option A statt für Option B zu entscheiden. Schließlich haben die früheren Zustände des Universums unsere Wahl bereits festgelegt. Und wenn wir nicht frei sind, wie können wir dann für unsere Handlungen verantwortlich gemacht werden?

Invasoren aus der Unendlichkeit

Das seltsame Verhalten von Quantenobjekten, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgedeckt wurde, hat die physikalische Sicht auf den Determinismus grundlegend geändert. Die Gesetze der Quantenmechanik liefern für den Ausgang eines Experiments lediglich Wahrscheinlichkeiten. Das hat der österreichische Physiker Erwin Schrödinger 1935 (während er die Zusammenhänge zwischen Wellenfunktion und Realität untersucht hat) mit dem Gedankenexperiment einer Katze veranschaulicht. Sie steckt in einer Kiste mit einem Fläschchen Gift, das durch ein zufälliges Ereignis – etwa radioaktiven Zerfall – zerbrochen wäre oder auch nicht. Würden sich die Auswirkungen der Quantenmechanik bis auf die Katze erstrecken, so ließe sich diese durch eine Wellenfunktion mit einer Überlagerung von lebendig und tot beschreiben. Bei einer Messung reduziert sich die Wellenfunktion zufällig auf einen der beiden Zustände, und bis dahin lassen sich nur Wahrscheinlichkeiten für das jeweilige Eintreten der beiden Szenarien angeben. Somit schien die Quantenmechanik mit ihrem Auftritt auf der physikalischen Bühne den Determinismus vom Podest zu stoßen.

Das quantenmechanische Universum könnte sogar noch stärker
deterministisch sein als das klassische

Aber damit ist möglicherweise noch nicht die ganze Geschichte erzählt. Das legen Entwicklungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahe. Aus zwei Gründen könnte das quantenmechanische Universum sogar noch stärker deterministisch sein als das klassische. Der erste Grund ist rechentechnischer Natur. Newtons Gesetze erlauben Situationen, bei denen sich die Zukunft nicht völlig aus der Vergangenheit herleiten lässt. Da es keine Obergrenze dafür gibt, wie stark ein klassisches Objekt beschleunigt werden kann, könnte sich dieses theoretisch bis zum Grenzwert eines endlichen Zeitpunkts räumlich unendlich weit weg bewegt haben. Wenn man diesen Prozess umkehrt, erhält man »space invaders«. Mit diesem Begriff werden Dinge bezeichnet, die aus der räumlichen Unendlichkeit heraus zu uns vorstoßen, ohne dass sich das Ereignis kausal mit irgendetwas verbinden ließe. Sie können also aus keinem der vergangenen Zustände des bekannten Universums vorhergesagt werden.

Rein praktisch wird das Problem durch die absolute Geschwindigkeitsgrenze des Lichts gelöst, die Einstein mit seiner speziellen Relativitätstheorie eingeführt hat. Aber auch die Relativitätstheorie, die eine klassische Theorie ist, wird von unberechenbaren Unendlichkeiten geplagt. Die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie führen zu so genannten Singularitäten, an denen die Raumzeit unendlich stark gekrümmt ist, vor allem in Schwarzen Löchern und beim Urknall am Anfang des Universums. Singularitäten sind Lücken in der Raumzeit und der Theorie schlechthin; alles Mögliche könnte aus ihnen herauskommen (oder in ihnen verschwinden). Das gefährdet den Determinismus.
Viele Physiker glauben, unter Zuhilfenahme der Quantentheorie ließen sich solche Singularitäten beseitigen – zum Beispiel durch eine Umdeutung des Urknalls zu einem Urprall mit einer reibungslosen Weiterentwicklung des Universums auf der anderen Seite der Singularität. Wenn solche Ansätze funktionieren, könnte eine Theorie der Quantengravitation beides vereinigen: erstens die Quantenmechanik für die Phänomene der Materie auf kleinsten Maßstäben und zweitens Einsteins Relativitätstheorie für das Verhalten auf großen Skalen. Das würde die Lücken in der Raumzeit glätten und den Determinismus wiederherstellen.

Es gibt jedoch einen zweiten, tiefer liegenden Grund, warum das Quantenuniversum noch stärker deterministisch sein könnte. Hierfür ist das wissenschaftliche Vermächtnis von James Hartle von Bedeutung. Zusammen mit dem US-Physiker Murray Gell-Mann hat Hartle einen einflussreichen Ansatz entwickelt, die so genannten dekohärenten oder konsistenten Geschichten. Damit versuchten sie zu erklären, warum Wahrscheinlichkeitsaussagen in der Quantenphysik so nützlich sind und wie die uns aus dem Alltag vertraute klassische Welt aus quantenmechanischen Überlagerungen hervorgeht. Bei ihrem Bild springt die Wellenfunktion niemals zufällig auf einen Wert. Stattdessen gehorcht sie stets einem deterministischen Gesetz, das durch die Schrödingergleichung gegeben ist. Diese beschreibt die kontinuierliche zeitliche Veränderung von Quantenzuständen. In dieser Hinsicht ähnelt das Bild der Deutung des US-Physikers Hugh Everett, die als Viele-Welten-Interpretation populär wurde. Laut Everett spaltet sich die Welt in verschiedene Zweige auf, je nachdem, welche der in der Wellenfunktion codierten Möglichkeiten gemessen wird. Im Folgenden gehe ich wie Everett davon aus, dass sich das Universum vollständig durch eine Wellenfunktion beschreiben lässt, die keine »verborgenen« Variablen enthält, das heißt solche, die auf einer unzugänglichen fundamentaleren Ebene wirken.

Vorstoß in den Quantenkosmos

Zusammen mit Stephen Hawking wurde Hartle zu einem der Vorreiter der Quantenkosmologie, bei der es darum geht, die Quantentheorie auf das gesamte Universum anzuwenden. Im klassischen Kosmos gibt es eine Entscheidungsfreiheit über die Anfangsbedingungen. Selbst wenn man von den erwähnten Extremsituationen absieht, ist die klassische Mechanik lediglich insofern deterministisch, als sie verschiedene mögliche Entwicklungsgeschichten bereithält und bedingte Aussagen darüber trifft: Wenn dies passiert, muss danach jenes geschehen. In der Analogie von Bahngleisen gesprochen sagt eine deterministische Theorie allein nichts darüber aus, warum sich der Zug auf einem bestimmten Gleis befindet, also warum er von A nach B über C fährt und nicht von X nach Y über Z. Wir können den aktuellen Zustand mit Verweis auf frühere erklären, und das bis hin zum Anfang. Dieser Ausgangszustand allerdings lässt sich nicht mehr durch irgendetwas rechtfertigen, das ihm vorauskam. Letzten Endes erfüllt diese Art des Determinismus Leibniz‘ Satz vom zureichenden Grund nicht vollständig: Wenn es um den Beginn von allem geht, gibt es keine Ursache.

Eine vollständige Theorie des Weltalls sollte die Phänomene vorhersagen, die wir in ihm beobachten
Diese Unzulänglichkeit ist nicht nur philosophischer Natur. Eine vollständige Theorie des Weltalls sollte die Phänomene vorhersagen, die wir in ihm beobachten, einschließlich seiner großräumigen Struktur und des Vorhandenseins von Galaxien und Sternen. Die vorliegenden dynamischen Gleichungen, ob aus Newtons Physik oder Einsteins Relativitätstheorie, können das allein nicht leisten. Welche Erscheinungen zu sehen sind, hängt stark von den Anfangsbedingungen ab. Um auf diese zurückzuschließen, sind wir darauf angewiesen, dem uns heute umgebenden Kosmos die entsprechenden Informationen zu entlocken.

Feb. 2024 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Sapere aude | Kommentieren