Programmbeschwerde gegen die Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom 08.09.2023
Sehr geehrte Damen und Herren,
als „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“
Mitglieder:
Frau Bundesministerin a.D. Christine Bergmann
Frau Prof.in Dr. Silke Birgitta Gahleitner
Frau Prof.in Dr. Julia Gebrande
Frau Prof.in Dr. Barbara Kavemann
Herr Matthias Katsch
Herr Prof. Dr. Heiner Keupp
Herr Prof. Dr. Stephan Rixen
erheben wir
Programmbeschwerde
gegen die Sendung
„Rituelle Gewalt“ im „ZDF Magazin Royale“ mit Herrn Jan Böhmermann am 08.09.2023
wegen Verstoßes gegen die
Programmgrundsätze,
wie sie in den Qualitäts- und Programmrichtlinien für die ZDF-Angebote (Sendungen und
Telemedien) in der Fassung vom 30.06.2023 konkretisiert sind, und zwar in
Nr. I (1) und (3), Nr. III (8) sowie Nr. IV (3) der Programmrichtlinien.
Unabhängige Kommission zur
Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs
Büro der Kommission
Susanne Fasholz-Seidel (Leitung)
POSTANSCHRIFT Postfach 11 01 29, 10831 Berlin
DIENSTGEBÄUDE Glinkastraße 35, 10117 Berlin
E-MAIL kontakt@aufarbeitungskommission.de
INTERNET www.aufarbeitungskommission.de
TWITTER @Aufarbeitung
ORT, DATUM Berlin, den 19. September 2023
Postfach 11 01 29, 10831 Berlin
An den
Fernsehrat des ZDF
– Geschäftsstelle Fernsehrat –
55100 Mainz
SEITE 2 Begründung:
Seit 2016 untersucht die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs“ – im Folgenden: Aufarbeitungskommission – Ausmaß, Art und Folgen der
sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik und der DDR. Sie bietet
Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt in vielen Tatkontexten erlitten
haben, einen Raum zum Sprechen über das erlebte Unrecht und die oft lebenslangen Folgen.
Unter die Tatkontexte fällt auch organisierte Gewalt sowie rituelle Gewalt, bei der es sich allerdings
– bezogen auf das gesamtgesellschaftliche Phänomen der sexualisierten Gewalt an Kindern und
Jugendlichen – um einen kleinen Bereich handelt. Hierbei bestehen Übergänge zwischen
organisierter Gewalt (Täterringe) und ritueller Gewalt, die nicht auf „satanistische“ Narrative
reduziert werden darf. Sie kann z.B. auch (pseudo-)religiös motivierte Rituale umfassen, die den
äußeren Rahmen sexualisierter Gewalt bilden, und die mit „satanistischen“ Narrativen nichts zu tun
haben. Über solche rituellen Rahmungen des Geschehens mit Übergängen zu spirituellem
(geistlichem) Missbrauch wird von Betroffenen sexualisierter Gewalt berichtet, die Gewalt im
Bereich von Religionsgemeinschaften erlitten haben. Auch in der Fachliteratur und in Gutachten,
die der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im religiösen Kontext dienen, wird dies beschrieben.
In vertraulichen Anhörungen und schriftlichen Berichten teilen Betroffene der
Aufarbeitungskommission immer wieder mit, dass ihnen zu keiner Zeit geglaubt wurde, dass sie
sexualisierte Gewalt in einem organisierten und/oder rituellen Rahmen erlebt haben. Immer dann,
wenn sie versucht hätten, über das Erlebte zu sprechen, wäre ihnen Hilfe versagt worden. Auch
nach Jahren und Jahrzehnten, in denen sie gleichwohl für Aufklärung und Aufarbeitung gekämpft
hätten, erlebten sie Unglauben, Bagatellisierung und Vertuschung sowie den Schutz von Tätern
und Täterinnen. Die Anerkennung des erlittenen Unrechts und damit auch die Hilfe beim
individuellen Verarbeiten traumatischer Erfahrungen bleibe ihnen lange, manchmal dauerhaft
versagt. Als Aufarbeitungskommission erfahren wir von Betroffenen, dass sie unter
Traumatisierungen leiden, die sie ihr ganzes Leben begleiten. Wir hören die Sorge, keinen
Glauben, keine Anerkennung, keine Unterstützung zu bekommen.
Es hat sehr lange gedauert, bis Betroffenen sexualisierter Gewalt das Sprechen möglich wurde.
Siehe hierzu das von der Aufarbeitungskommission verantwortete Portal „Geschichten, die
zählen“, https://www.geschichten-die-zaehlen.de/
Es waren die von sexuellem Missbrauch Betroffenen – erinnert sei etwa an das breite öffentliche
Bekanntwerden der sexualisierten Gewalt im Berliner Canisius-Kolleg im Jahre 2010 –, die das
Tabu brachen und dafür sorgten, dass sexualisierte Gewalt in Institutionen auch im öffentlichen
Diskurs nicht negiert, vertuscht und verharmlost wird. Es sind noch immer die Betroffenen, die
durch auch öffentliches Sprechen dafür sorgen, dass nicht nur Institutionen, sondern auch die
Gesellschaft insgesamt sich ihrer Verantwortung stellen. Die Gesellschaft hat mehr und mehr
verstanden, dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kein Randphänomen
einzelner spezifischer Tatkontexte oder sozialer Schichten ist, sondern breit in der Gesellschaft
verankert ist. Umso wichtiger ist ein äußerst sensibler Umgang mit dem Thema in der Öffentlichkeit.
Er muss dem Umstand Rechnung tragen, dass – trotz vieler Veränderungen – Betroffenen
sexualisierter Gewalt vielfach nicht geglaubt wird und ihre Erfahrungen immer noch bagatellisiert
werden.
SEITE 3 Gerade eine verantwortungsvolle mediale Berichterstattung ist eine wichtige Bedingung dafür, dass
eine Öffentlichkeit entsteht, die nicht mit Abwehr und Bagatellisierung auf Betroffene und ihre
Erfahrungen reagiert. Hieran hat auch das ZDF in seiner tagesaktuellen Berichterstattung sowie
mit speziellen Beiträgen immer wieder beigetragen, zuletzt etwa mit der herausragenden Doku „Die
Kinder von Lügde“.
Jedes Sendeformat zu diesem schwierigen Themenkomplex muss mit der notwendigen Sensibilität
erfolgen und unbedingt beachten, welche Folgen die Berichterstattung für die Betroffenen und auch
für die Personengruppen, die traumatisierte Menschen unterstützen, haben kann. Hierbei muss vor
allem auf die vielleicht nicht intendierten, aber doch naheliegenden, erst recht auf die bewusst in
Kauf genommenen Effekte von Sendungen geachtet werden. Sendungen mögen zwar
vordergründig vertretbare Formate (z.B. Satire) präsentieren, aber bei genauer Betrachtung
nehmen sie u.U. in Kauf, dass die (satirische) Zuspitzung eines Problems stillschweigend einen
Sog der Abwertung auslöst, der die Gesamtproblematik – Betroffenheit von sexualisierter Gewalt
– nicht nur der Lächerlichkeit preisgibt, sondern zur weiteren Traumatisierung von Betroffenen
beiträgt, weil sie stillschweigend die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen und die Glaubwürdigkeit ihrer
Person unter Verdacht stellt.
Welche negativen Konsequenzen für Betroffene eine Berichterstattung hat, die offensichtlich diese
Kriterien nicht beachtet, war in jüngerer Zeit (März 2023) schon bei der Veröffentlichung des
Spiegel-Artikels „Vermeintliche Opfer ritueller Gewalt: Im Wahn der Therapeuten“ (Spiegel
11/2023) zu erleben. Zum einen ist die Debatte zur Glaubhaftigkeit der Aussagen von Betroffenen,
die nach Jahren oder Jahrzehnten erstmals das Schweigen brechen, neu aufgeflammt. Zum
anderen gibt es eine große Verunsicherung innerhalb der traumatherapeutisch arbeitenden
Psycholog*innen und Psychiater*innen; die in Sorge sein müssen, jederzeit über (soziale) Medien
an den Pranger gestellt zu werden, wenn sie mit spezifischen Opfergruppen aus dem Bereich
organisierter und/oder ritueller Gewalt arbeiten. Die naheliegende Prangerwirkung von Sendungen,
die mit sexualisierter Gewalt nicht hinreichend sensibel und differenziert umgehen, hat Folgen für
die Versorgung und damit die psychische Gesundheit von Betroffenen.
Die Sendung des „ZDF Magazin Royale“ vom 08.09.2023 zur rituellen Gewalt hat diese Dynamik
– den Sog der Abwertung zulasten der Betroffenen sexualisierter Gewalt – erheblich verstärkt, wie
insbesondere die zahlreichen Beiträge auf Social Media zeigen, die uns erreicht haben. Bei dieser
undifferenzierten, diffamierenden und dazu noch schlecht recherchierten Berichterstattung kann es
nicht verwundern, dass sich die Betroffenen – und dabei handelt es sich um traumatisierte
Menschen aller Tatkontexte – diffamiert, ausgegrenzt und sogar verhöhnt fühlen und mit
Retraumatisierung zu kämpfen haben.
Es geht uns mit unserer Kritik nicht – um das klarzustellen – um die offenbar in reißerischer Absicht
erfolgte Thematisierung „satanistischer“ Narrative unter Einschluss der ohne Zweifel näherer
Betrachtung bedürfenden Äußerungen einer Therapeutin (sofern sie rechtmäßig gewonnen
wurden, was geprüft werden muss). Es geht darum, dass die Sendung die „satanistischen“
Narrative in einer Weise thematisiert, die die Effekte auf Betroffene sexualisierter Gewalt insgesamt
ausblendet. Zwar betont der Moderator (sinngemäß) dann und wann pflichtschuldig, wie wichtig
das Thema sexualisierte Gewalt sei und man sich darüber nicht lustig machen dürfe, um dann
genau dies zu tun, wenngleich über den Umweg einer Befassung mit „satanistischen“ Narrativen,
die freilich die Betroffenheit von Menschen durch sexualisierte Gewalt abwertet.
SEITE 4 Nochmals: Indem die Sendung die Effekte auf alle Betroffenen sexualisierter Gewalt ausblendet,
macht sie sich nicht nur über Betroffene in makabrer Weise „lustig“, sondern verletzt ihre
Menschenwürde, der ein Achtungsanspruch entspricht, mit der eigenen Leiderfahrung und dem
eigenen Hilfebedarf nicht in der (Medien-)Öffentlichkeit abgewertet zu werden. Satire darf nicht zur
Schutzbehauptung für die Abwertung von Betroffenen sexualisierter Gewalt werden. Satire darf
eben nicht alles, schon gar nicht die Menschenwürde der Betroffenen sexualisierter Gewalt auf
indirekte, vermeintlich satirische Weise verletzen.
Es bereitet der Aufarbeitungskommission erhebliche Sorge, dass unter einer medial reißerischen
Perspektive in einem aus Sicht der Kommission völlig ungeeigneten Format auf ein seit
Jahrzehnten debattiertes Randphänomen der „satanistisch“-rituellen Gewalt grundlegend Berichte
Betroffener diskreditiert werden und die Traumatherapeut*innen, die mit Betroffenen organisierter
und ritueller Gewalt arbeiten, befürchten, in die Nähe von Anhänger*innen einer „satanistischen“
Weltverschwörung gerückt zu werden. Viel Arbeit und viele Erfolge beim Schutz von Kindern vor
sexualisierter Gewalt drohen dadurch beschädigt zu werden.
Die Mitglieder der Aufarbeitungskommission sind der Auffassung, dass bei einer Sendung im
Themenfeld der sexualisierten Gewalt an Kindern und Jugendlichen, bei der die Möglichkeit
besteht, dass bereits traumatisierte Menschen weiter geschädigt werden können, die Frage zu
stellen ist, welche Formate dafür angemessen sind. Der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk steht in
der Pflicht, eine solche Risikoabschätzung vorzunehmen. Bei der Sendung des „ZDF Magazin
Royale“ am 08.09.2023 ist das ersichtlich nicht geschehen.
Siehe hierzu auch den Medienleitfaden der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des
sexuellen Kindesmissbrauchs für eine betroffenensensible Berichterstattung über
sexualisierte Gewalt, https://beauftragte-missbrauch.de/presse/tipps-fuer-medien-fuer-eine-
betroffenensensible-berichterstattung
Dass die Programmgrundsätze gemäß den Programmrichtlinien verletzt sind, ergibt sich aus den
vorstehenden Darlegungen. D.h.:
– Die Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom 08.09.2023 verletzt, wie erläutert, die Verpflichtung, die
Würde der Betroffenen sexualisierter Gewalt zu achten, vgl. Nr. I (1).
– Die Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom 08.09.2023 verletzt ferner die Verpflichtung zur
Präsentation differenzierter Sendungen, die mit Blick auf das Problem sexualisierter Gewalt eine
Urteilsbildung einschließlich der Bezüge zu allen Bereichen der sexualisierten Gewalt ermöglichen,
vgl. Nr. I (3).
– Die Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom 08.09.2023 verletzt zudem die Verpflichtung,
verhetzende Wirkungen von Sendungen zu vermeiden, vgl. Nr. IV 3. Diese Wirkungen bestehen
darin, dass in (pseudo-)„lustiger“ Weise Randphänomene sexualisierter Gewalt stellvertretend für
sexualisierte Gewalt dargestellt werden, was, wie dargelegt, einen generellen Sog der Abwertung
zulasten aller Betroffenen sexualisierter Gewalt auslöst. Das Wort „verhetzend“ bezieht sich auf
das gezielte antreiben bzw. aufwiegeln (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache,
https://www.dwds.de/wb/hetzen). Es geht also darum, gezielt Stimmung zu machen, denn durch
die undifferenzierte Anlage der Sendung wird eine Stimmung befördert, die Betroffene
sexualisierter – einschließlich organisierter und/oder ritueller – Gewalt als nicht weiter
ernstzunehmende Personen darstellt.
SEITE 5 – Die Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom 08.09.2023 verletzt schließlich die Pflicht zur
Ausgewogenheit, Nr. IV (3), wo es heißt: „Einzelne Angebote, die einen Standpunkt allein oder
überwiegend zur Geltung bringen, bedürfen eines entsprechenden Ausgleichs an anderer Stelle.
Wenn in einem Angebot zu strittigen Fragen eine bestimmte Meinung vertreten wird, so wird
möglichst auf ergänzende Angebote hingewiesen.“ Auch daran fehlt es in der Sendung des „ZDF
Magazin Royale“ vom 08.02.2023, weil gerade nicht auf eine ausgewogene Darstellung der
Betroffenheit von sexualisierter Gewalt Wert gelegt wird, sondern das Gesamtthema hinter der
reißerischen Hervorhebung „satanistischer“ Narrative versteckt wird – auf Kosten der Betroffenen
sexualisierter Gewalt, die mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen nicht zu Wort kommen, also
einmal mehr mit ihrem Anliegen zum Schweigen gebracht werden.
Die Aufarbeitungskommission hat vor der Ausstrahlung der Sendung der Redaktion ein Interview
mit einem Kommissionsmitglied angeboten. Dieses Angebot wurde abgelehnt. Sie bleibt bei einem
Angebot für ein vertiefendes Gespräch.
Wir hoffen, dass der Fernsehrat der Programmbeschwerde stattgibt. Insbesondere bitten wir im
Interesse der Betroffenen sexualisierter Gewalt darum, dass die Verfügbarkeit der Sendung vom
08.09.2023 in der Mediathek des ZDF sowie auf anderen Portalen (etwa YouTube), die die ZDF-
Sendung verfügbar halten, unverzüglich beendet wird.
Mit freundlichen Grüßen
Bundesministerin a.D.
Dr. Christine Bergmann Prof. Dr. Barbara Kavemann Matthias Katsch
Prof. Dr. Heiner Keupp Prof Dr. Silke Gahleitner Prof. Dr. Julia Gebrande
Prof. Dr. Stephan Rixen