Maximilian Krah Mitglied des Bundesvorstands der AfD und Spitzenkandidat für die Europawahl 2024 macht sich Sorgen um Deutschland: Die Einführung der Homo-Ehe, die Erosion der Geschlechterrollen, die Infragestellung der traditionellen Familie und ein seit Jahrzehnten sinkender Testosteronspiegel haben seiner Einschätzung nach dazu geführt, „dass ein knappes Drittel der jungen Männer vom Sexualleben ausgeschlossen ist“. Das schreibt er in seinem Buch „Politik von rechts“.
Rechte Politik, so ist der Titel des in Götz Kubitscheks Verlag Antaios erschienenen Werkes zu verstehen, soll sich von konservativer Politik unterscheiden. Dicht gestreute philosophische und historische Verweise machen den Ehrgeiz des Verfassers deutlich, Alexander Gauland als Chefintellektuellen der Partei zu beerben. Gauland hat zu Krahs Buch das Vorwort beigesteuert, in dem er dem 1977 geborenen Rechtsanwalt bescheinigt, nichts weniger ausformuliert zu haben als „eine Raison d’être“ der AfD, auch wenn er zugleich Vorbehalte gegen den Begriff „rechts“ anmeldet. Aber genau auf dieser Richtungsangabe beharrt Krah, der von 1996 bis 2016 Mitglied der CDU war. Er grenzt sich nicht nur vom „Mainstream-Konservatismus“ eines Armin Laschet ab, sondern auch von den „Liberal-Konservativen“, die aus seiner Sicht einem absoluten Freiheitsbegriff anhängen und die individuelle Freiheit verabsolutieren.
„Politik von rechts“ dagegen geht von der „Idee eines großen Ganzen“, von einer „natürlichen Ordnung“ und von den Kräften der Natur, der Biologie, der Gemeinschaft, von Volk, Familie und Mutterschaft aus und misst – in Fortschreibung eines Schlagwort-Platonismus, den der Sloterdijk-Schüler Marc Jongen in der AfD eingeführt hat – auch „Thymos“ und „Mythos“, also dem Gemüts- und Seelenleben sowie identitätsstiftenden Narrativen eine große Bedeutung zu. Das klingt nach werteorientierter Politik unter anderen Vorzeichen.
Assoziationen mit nationalsozialistischen Denkern
Familie, Volk und Gemeinschaft stehen bei Krah für Homogenität, Kollektivität, Vertrauen, Ehrlichkeit und Rechtstreue. „Volk ist Schicksal“, behauptet Krah, und „der Kampf um die Familie entscheidet alles“. Die Begrifflichkeit erinnert an das 1932 erschienene Buch „Volk als Schicksal und Aufgabe“ von Ernst Krieck, einem der Hauptvertreter nationalsozialistischer Pädagogik. Wie Krieck Gemeinschaft und Volk gegen Liberalismus, Individualismus und Pazifismus ins Feld führte, so ist für Krah die „liberale Entgrenzung durch Partikularinteressen“ der Gegenpol zum „Volk als Schicksalsgemeinschaft“. Der Fortbestand des Volkes in Krahs Verstande wird nicht nur durch kulturelle Tendenzen bedroht wie die „Verneinung von Männlichkeit“ bei Gegnern der traditionellen Familie, sondern auch durch eine fatale Naturtatsachenentwicklung: eben den beständig sinkenden Testosteronspiegel.
Nun ist Krahs Buch ein politisches „Manifest“, wie der Untertitel verkündet, und keine wissenschaftliche Abhandlung. Aber es beruht auf explizit philosophischen und implizit historischen Annahmen, denen mit den Verweisen auf „natürliche Ordnungen“ und auf biologische Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklung zeitlose Allgemeingültigkeit unterstellt wird. Und man kann Krahs Narrativ am historischen Wissen überprüfen. Denn tatsächlich lässt sich über einen langen Zeitraum – bereits seit dem Mittelalter – ein Sinken des Testosteronspiegels bei Männern beobachten. Das aber ist, so zeigte jüngst Joseph Henrich, Professor am Department of Human Evolutionary Biology der Harvard-Universität, in seinem fast gleichzeitig mit Krahs Kampfschrift bei Suhrkamp erschienenen Buch „Die seltsamsten Menschen der Welt“, nicht zuletzt das Ergebnis der christlich motivierten Stärkung der monogamen Ehe im lateinischen Westen, dessen Besonderheit Henrich mit seiner evolutionsbiologisch informierten Kulturgeschichte erklären will.
Mit der Predigt der Monogamie verbanden sich die Ablehnung des Inzests und der Vetternehe, die Erschwerung der Scheidung und die Unterbindung von Sex außerhalb der Ehe. Der sinkende Testosteronspiegel, so Henrichs Pointe, führte zu einer unbeabsichtigten Zähmung der Männer, zu geringerer Impulsivität und Risikofreudigkeit, aber auch zu größerer Kooperationsbereitschaft und zu geringerer Kriminalität und damit zu Charaktereigenschaften oder Sozialprofilmerkmalen, die man auch als Zivilisationsfortschritte bezeichnen kann. Möchte die AfD diese Entwicklungen rückgängig machen?
Wachsender Individualismus durch Aufbrechen traditioneller Muster
Auch was Krahs überschwängliche Betonung der Familie anbelangt, an der sich vermeintlich „alles entscheidet“, liefern die Daten und Argumente Henrichs Gründe für abweichende Wertungen. Nicht die traditionelle Familie, deren Übereinstimmung und Zusammenhalt stellten in langfristiger Betrachtung des europäischen oder westlichen Weges die Grundlagen für ein produktives gesellschaftliches Zusammenleben bereit. Ganz im Gegenteil förderte die Auflösung der engen verwandtschaftsbasierten Beziehungen, die Befreiung von familiären Pflichten und Abhängigkeiten, eine größere Beziehungsfreiheit, die Ausbreitung freiwilliger Vereinigungen und Institutionen wie der Städte, Zünfte, Vereine, Gilden, Universitäten und später auch Unternehmen. Die Kehrseite der Medaille, das soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, bildeten im weiteren historischen Verlauf der Kolonialismus und Imperialismus mit den bekannten Folgen.
Henrich spricht ausdrücklich von einer „Zerstörung der auf Verwandtschaft basierenden Institutionen“ als Voraussetzung für den Aufstieg des Westens. Und man könnte in Anlehnung an den österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter von einer kreativen kulturellen Zerstörung sprechen. An die Stelle verwandtschaftsbasierter Beziehungen und Netzwerke traten neue Verbindungen, Kontakte und Institutionen, wie sie auch in dem einflussreichen Buch der Ökonomen Daron Acemoğlu und James A. Robinson „Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut“ (deutsch 2013 bei Fischer) analysiert werden. Die „neuen Kombinationen“, um in der Sprache Schumpeters zu bleiben, zeichneten sich durch ein hohes Maß an Individualismus, durch Wettbewerb, aber auch durch Vertrauen und Fairness aus, auch und gerade gegenüber Dritten und Fremden.
Krah ignoriert historische Erkenntnisse
Der Verfall der Familie setzte lange vor der Abwendung der CDU von der Familienpolitik Helmut Kohls ein, in der alteuropäischen Vorvergangenheit, die Politiker von rechts verklären, wenn die AfD ihre Parteistiftung unter das Patronat des Humanisten Erasmus von Rotterdam stellen. Jenseits der Familie entwickelten sich neue, auf unpersönlichen Verträgen und Vereinbarungen beruhende Marktkooperationen, die den Wohlstand des Westens dauerhaft vermehrten – ganz im Unterschied zu familien- oder clanorientierten Gemeinschaften, die auf traditionellen Sitten, Gebräuchen und engen zwischenmenschlichen Bindungen basierten, wie man sie in China noch bis ins neunzehnte Jahrhundert oder auch in Sizilien bis weit ins zwanzigste Jahrhundert beobachten kann. Hier liegen die Ursachen für die „Great Divergence“, die wirtschaftliche Auseinanderentwicklung zwischen Europa und anderen Teilen der Welt wie etwa China und Indien, welche im Zeitalter der Industrialisierung den Anschluss verloren, wie der amerikanische Wirtschaftshistoriker Kenneth Pomeranz eindrücklich aufgezeigt hat. Diesen Vorsprung des Westens erklärt die koloniale Ausbeutung eben nicht allein.
Man kann diese ökonomischen, wirtschaftshistorischen, soziologischen und anthropologischen Erkenntnisse ignorieren und stattdessen ein Idealbild „lokaler Gemeinschaften“ und „natürlicher Solidaritätsmodelle der Familie“ zeichnen, und man kann daraus auch wirtschafts- und sozialpolitische Schlussfolgerungen ziehen und etwa den modernen Sozialstaat infrage stellen und stattdessen ein stärker familienorientiertes „natürliches Solidaritätsmodell“ fordern und dabei die „Familie als Solidargemeinschaft“ stärker in die Pflicht nehmen, wie Krah dies tut. Aber abgesehen davon, dass das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage des bundesdeutschen Sozialstaats sowohl die Stärke als auch die Bedürftigkeit der Familien heute schon berücksichtigt, ist eine Politik von rechts, die sich gegen ein historisches Wissen über die in langen Prozessen gewachsenen Bedingungen sozialer Stabilität und Produktivität abschottet, nicht konservativ, sondern atavistisch – und vielleicht auch testosterongesteuert.