FRIEDLANDER steht in geschwungenen Buchstaben auf dem silbernen Türschild geschrieben: Friedlander, ohne Umlaute. So stand es 64 Jahre lang in Margot Friedländers amerikanischem Pass. Erst 2011, bei ihrer Wiedereinbürgerung in Deutschland, wurde Friedlander wieder zu Friedländer.
Margot Friedländer: Wissen Sie, wenn man über 100 ist, 102, da kann nicht immer alles okay sein … Ich kenne 60-Jährige, denen geht es viel schlechter als mir.
[Bis zum Schluss war nicht klar, ob das Treffen würde stattfinden können. Eine Grippe hatte sie erwischt, zwei Wochen lag sie im Bett. Termine mit TV-Sendern und Journalist:innen, alles abgesagt. Noch immer erhole sie sich von den Strapazen, die Glieder schmerzen und die Stimme sei auch nicht ganz wieder da. Aber solange sie kann, will sie sprechen.]
Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben …
Sie müssen etwas lauter sprechen. Mein Hörgerät funktioniert nicht mehr so gut. Aber mein Kopf funktioniert. Körperlich habe ich natürlich Probleme. Ich habe furchtbar abgenommen, bin nur noch Haut und Knochen. Aber, ich bin zufrieden.
[Behutsam setzt sie sich auf ihr Sofa. „Hier“, sagt sie, „hier richten wir uns ein.“ Grau-silbernes Haar, keine 1,60 Meter groß, 102 Jahre Leben. Auf dem Tisch gestapelte Zeitungen: Die Zeit, die Süddeutsche, den Tagesspiegel, die New York Times. Die lese sie am liebsten.]
Frau Friedländer, es sind keine guten Zeiten. Jetzt, wo es offiziell ist, dass hochrangige AfD-Politiker:innen und Neonazis einen Masterplan für die Vertreibung von marginalisierten Menschen aus Deutschland planen. Wieder spricht eine demokratisch gewählte Partei von „völkischen Visionen“, von Deportation. Was empfinden Sie als Holocaust-Überlebende, wenn Sie das hören? Woran denken Sie zuerst?
[Sie blickt lange nach oben. Das wird sie während unseres 90-minütigen Gesprächs immer wieder tun. Sie scheint nach den richtigen Worten zu suchen, formuliert sorgfältig.]
Dazu möchte ich Folgendes sagen. Ich bin 1921 geboren, ich war zwölf Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Ich habe meine ganze Familie verloren. Ich weiß genau, wie es damals angefangen hat. Ich bin entsetzt, dass ich das heute erleben muss. Ich sage denen, was ich immer gesagt habe: Seid Menschen. Menschen tun so etwas nicht.
[Margot Friedländer wurde als deutsche Jüdin in Berlin geboren. Während des Zweiten Weltkriegs tauchte sie unter, versteckte sich monatelang bei einer christlichen Familie in der Fasanenstraße, färbte sich die Haare, ließ sich die Nase operieren, trug eine Kette mit einem Kreuz, nur um nicht als „Jüdin“ aufzufallen. Noch am Tag ihres Untertauchens habe sie sich den Judenstern von der Kleidung gerissen, sagte sie einmal dem Spiegel. Es half nichts. Bei einer Ausweiskontrolle auf dem Kurfürstendamm wurde sie entdeckt und im Juni 1944 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Nur knapp entging sie dem Tod durch den nationalsozialistischen Terror.]
Es ist bemerkenswert, dass gerade Sie die Stimme sind, die zur Versöhnung aufruft. Was macht das mit Ihnen?
Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten. Ich habe 64 Jahre lang in Amerika gelebt. Ich habe die Politik nach Hitler nicht verfolgt. Wie man hier oder in anderen Ländern versucht hat, eine Demokratie aufzubauen. Wir wissen sehr wohl, dass es Länder gibt, deren Regierungen antisemitisch sind. Wo Menschen, die Kinder in die Welt setzen, die Kinder schon so erziehen, dass sie antisemitisch denken. Es gibt immer Antisemiten! Period.
[Ein Jahr nach der Befreiung aus dem KZ Theresienstadt emigrierte sie mit ihrem Mann Adolf Friedländer nach New York, auch um die Vergangenheit, über die sie nicht sprechen konnten, hinter sich zu lassen. Er arbeitete in einem jüdischen Kulturzentrum, sie zunächst als Schneiderin, später in einem Reisebüro. Die Friedländers lebten zurückgezogen. 1997 starb ihr Mann Adolf, der Gedanke an eine Rückkehr nach Berlin, in das Land der Täter:innen, wurde immer stärker. 2010 entschied sie sich für einen Neuanfang. Mit 88 Jahren. Ab und zu mischen sich englische Worte in ihre Antworten.
Es sind keine guten Zeiten. Kriege, Umbrüche, die Menschen werden einander immer fremder. Hoffnung wäre, aufeinander zuzugehen. Glauben Sie, es wird zu wenig getan?
Ich weiß es nicht. Ich kann euch das nur geben. Ob ihr es annehmt oder wie weit es geht, kann ich nicht beurteilen. Aber ich glaube, ihr spürt, dass ich für euch spreche. Nicht für mich, sondern für euer Leben. Das ist das Wesentliche für mich: Mensch zu sein. Ein bisschen. Und nicht nur an sich zu denken oder an ein neues Kleid.
[Auf der Sofalehne liegen Dutzende von Plüschtieren aufgereiht: ein Koala, ein Känguru, ein Paddington-Bär, alles Geschenke von Schulklassen. Auch auf dem Couchtisch vor uns ist jeder Zentimeter besetzt. Für ihre Arbeit gegen Antisemitismus und Rassismus hat sie so viele Danksagungen erhalten, dass in ihrer Wohnung kaum noch ein Platz frei ist.
Dokumente, Notizen, Briefe, zwei Lindt Osterhasen vom letzten Jahr, daneben ein Stofftier, ein Alm-Öhi in Tracht. Die Schweizer Schauspielerin Julia Anna Grob, die im ZDF-Dokudrama „Ich bin! Margot Friedländer“ verkörperte, hat es ihr geschenkt.]
Hätten Sie je gedacht, dass wir heute wieder ein Antisemitismus-Problem bekommen?
Nein. Als ich zurückgekommen bin, hätte ich nicht gedacht, dass sich etwas wie Antisemitismus so stark wieder entwickelt. So schnell. So laut. Was ist passiert?
[Wenn sie spricht, schaut sie einen mit ihren durchdringenden Augen an. In ihrer Stimme liegt kein Zorn, keine Wut. Wer Margot Friedländer einmal trifft, wird sofort die Wärme spüren, die sie umgibt.]
Wir erleben leider eine zunehmende Spaltung unserer Gesellschaft. Auch vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts, dem Angriff der Hamas auf Israel und dem Gaza-Krieg…
Es ist schwierig … Ich sage es den Menschen immer wieder: Wir sind gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur Menschenblut. Was war damals? Wie konnten die Menschen für etwas jubeln, wovon sie keine Vorstellung hatten, actually. Keine Vorstellung davon, was menschlich ist. Und das ist ein großes Problem. Antisemitismus hat es immer gegeben. Es kommt nur darauf an, wie er sich zeigt. Und wie Menschen auf andere Menschen reagieren, die ihnen etwas erzählen, was nicht stimmt, aber sich gut anhört.
Sie haben einen sehr nuancierten Blick auf die Realität und die Politik …
Ich bin nicht politisch, aber ich lese die New York Times, ich bin sehr gut informiert. Für mich gibt es nur eine Botschaft: Sei ein Mensch. Ich erkenne jeden an. Für mich seid ihr alle gleich. In jedem Menschen gibt es etwas Gutes, darauf soll man sich konzentrieren.
Ihre Botschaft „Sei ein Mensch“ klingt so simpel und doch befinden wir uns in einer Zeit, in der sie für viele offensichtlich sehr schwer umzusetzen ist.
Ich erwarte, dass man andere respektiert, wie sie sind, dass man mich respektiert, wenn ich freundlich bin. Eigentlich sehr einfach.
[Auf dem gepolsterten Stuhl neben ihr liegt eine Katze, weiß-rot getigert, extrem verschmust. Ein schnarchendes Schwergewicht, das Margot Friedländer nachts schon mal auf den Kopf springt. Am liebsten schläft das Tier neben ihr im Bett.]
Meine Güte! Sie schnarcht. Dana heißt sie. Aber auf den Namen hört sie nicht, sie hört eigentlich gar nicht auf mich. Sie macht, was sie will! Und sie ist sooo schwer.
[Es heißt: Ein Menschenjahr sind sieben Katzenjahre. Wäre Dana so alt wie ihr Frauchen, hätte sie 14,5 Katzenjahre auf dem Buckel. In Menschenjahren gerechnet wäre sie über 700. Wieder ertönt von rechts ein monotones, sägendes Geräusch. Es hat etwas Beruhigendes.]
Sie haben in den letzten Jahren viel Zeit mit Kindern verbracht. Finden Sie, es wird in der Debatte um Antisemitismus zu wenig die Erziehung thematisiert?
Das fängt bei der Bildung an. Es hat auch mit Vernunft und Wohlstand zu tun. Wenn die Familie zusammenhält und es ihr relativ gut geht, dann haben die Kinder natürlich bessere Chancen, ein normales Leben zu führen. Wenn die Eltern sich mehr um die Kinder kümmern können, wenn sie mehr reden können, wenn sie sie abends ins Bett bringen können, wenn sie ihnen vorlesen können, wenn sie sie aus einem schlechten Umfeld heraushalten können.
Und wenn nicht?
… aber wenn man nicht in einer guten neighborhood lebt, ist es schwieriger. Wenn man keine gute Beziehung zu den Eltern hat, zu den Verwandten hat, was dann? Wenn man niemanden hat?
Ab wann sollte man mit Kindern über das Thema Antisemitismus sprechen. Es ist notwendig, aber auch kein leichtes Thema …
Mein Mann und ich verbrachten mehrere Jahre im Winter in Kalifornien. Dort gab es eine Gedenkstätte. Eines Tages besuchte ich diese Gedenkstätte und traf auf Menschen mit Kindern, die vielleicht zwölf oder 14 Jahre alt waren. Ihre Eltern hatten sie weggeschickt. Das ist nichts für euch, haben sie gesagt. Aber Kinder, die acht oder zehn Jahre alt sind, können das in ihren Möglichkeiten schon verstehen.
Das stimmt natürlich. Und umgekehrt könnte man auch fragen: Warum fällt es erwachsenen Kindern so schwer zu sprechen? Die Eltern fragen: Wie war das damals? Erzähl doch mal!
Ich weiß es nicht. Ich habe meine Eltern auch vieles nicht gefragt, obwohl es so viele Möglichkeiten gegeben hätte. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie sie sich kennengelernt haben. Das ist schade. Ich sage immer: Fragt eure Eltern. Fragt sie. Irgendwann hat man keine Chance mehr. Dann ist es zu spät.
Sie wohnen in einer sehr schönen Seniorenresidenz in der Nähe des KaDeWe. Einige Ihrer Nachbarn spielen im Foyer Schach, gehen abends zu Kammerkonzerten, überlegen, was sie zu Mittag essen. Sie dagegen treffen Politiker, geben Interviews, stehen auf Bühnen. Sehnen Sie sich auch manchmal nach Ruhe?
Nein. Etwas gibt mir Energie. Ich weiß, dass das, was ich tue, wichtig ist. Es wird gebraucht. Ich habe es geschafft zu sprechen. Ich kann sogar für die sprechen, die es nicht geschafft haben. Mein Wort wird gebraucht, ich habe eine Verpflichtung.
Seitdem ich wieder zurückgekommen bin aus New York, bin ich sehr beschäftigt. Hier, sehen Sie …
[Sie holt ihre Kalender aus den vergangenen Jahren hervor. Es sind jüdische Kalender, sie zeigen die Feiertage, die nach dem Mondkalender berechnet werden: Pessach, das Fest der ungesäuerten Brote, der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur und das Neujahrsfest Rosch ha-Schana. Jeder Tag des Monats hat ein kleines Kästchen, jeder Tag ist beschriftet: Dienstag Hamburg, Montag Heidelberg, Donnerstag Görlitz und immer wieder Lesung, Lesung, Lesung.]
… die Filme lassen sie in Schulen laufen.
… und ich ergänze einige Worte im Anschluss. Dann können die Schüler mich alles fragen, was sie wollen. So ein Schulbesuch dauert zwei Stunden, das ist anstrengend.
Die Gespräche mit den Schülern sind zu einem Teil Ihrer Lebensaufgabe geworden. Ist es nicht auch schwierig, die eigene Vergangenheit immer wieder durchzuerleben?
Es ist allein deswegen anstrengend, weil die Sprache, die durch das Hörgerät läuft, nicht normal ist. Das Hörgerät, das ich habe, ist nicht das Allerbeste. Ich habe vor Kurzem ein neues und sehr gutes Hörgerät bekommen. Das habe ich leider beim Einkaufen verloren. Deswegen höre ich nicht so gut…
Es kann auch etwas Gutes haben, nicht alles hören zu müssen. Lassen Sie uns mit einer etwas pathetischen Frage fortfahren: Was gibt Ihnen Hoffnung?
Was gibt mir Hoffnung? Tja …
[Sie blickt zu Boden und drückt ihr Taschentuch fest. Für einen kurzen Moment meint man ein Kopfschütteln zu erkennen.]
Ich bin so enttäuscht von der Geschichte. Wir hätten das nicht erwartet. Aber die Hoffnung, die geben wir ja nicht auf, die ist doch wichtig. Wenn wir gar keine Hoffnung hätten, das ginge nicht. Irgendwie wird sich ein Türchen öffnen.
Gibt es Menschen, die Ihnen Hoffnung geben?
Ich habe unglaubliche Danksagungen erhalten. Hunderte, wahrscheinlich Tausende. Die Menschen zeigen mir, dass sie verstehen, was ich von ihnen als Menschen erwarte. Wissen Sie, wir haben „Zweitzeugen“ ins Leben gerufen …
[Anmerkung der Redaktion: Der Verein Zweitzeugen e.V. will junge Menschen dazu ermutigen, die Geschichten von Überlebenden des Holocaust weiterzutragen, selbst zu Zweitzeugen zu werden und sich gegen Antisemitismus und andere Diskriminierungsformen einzusetzen.]
… die Mitglieder des Vereins] gehen in Schulen und sprechen mit den jungen Leuten. Sie tragen unsere Geschichte weiter, wenn wir nicht mehr sprechen können. Es gibt Menschen, die so sehr daran interessiert sind, dass es weitergeht, dass unsere Stimmen nicht verstummen, dass meine Worte, die eigentlich nichts Besonderes sind, weitergetragen werden. Aber sie kommen von Herzen. Ich bitte euch, seid Menschen, macht! Es liegt in euren Händen.
[Margot Friedländer greift nach der 64 Jahre jüngeren Hand vor ihr, drückt sie fest. Ihre Hände sind weich und eiskalt.]
Es ist für euch. Für eure Zukunft! Wollt ihr denn, dass es wieder schlecht ist? Denkt doch daran, was war!
[Sie blickt nach rechts auf die kleine Kommode. Dort steht ein Foto von ihren Eltern und eines von ihrem Bruder Ralph in einem silbernen Rahmen. Sie nimmt das Foto, fährt mit den Händen über das Bild. Der junge Ralph: Sakko, dunkle Hornbrille, die Haare zur Seite gekämmt. Er boxte bei Makkabi Berlin, spielte Geige, war überdurchschnittlich gut in der Schule. Schon mit 16 hatte er das Abitur. Ralph wurde wie seine Mutter in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.]
Ihr habt die Chance, die mein Bruder nicht hatte. Er war damals 17 Jahre alt, er war brillant und hatte nicht die Möglichkeit. Ihr habt sie! Schmeißt es nicht weg.
Sie haben gesagt, Bildung sei der Schlüssel … Natürlich kann nicht jede:r studieren.
Nicht jeder muss studieren. Wenn du ein Straßenkehrer bist und ein guter Straßenkehrer, dann brauchen wir das und die Gesellschaft. So wie wir einen Arzt brauchen. Weil es sonst Chaos gäbe. Das ist doch lächerlich. Es ist doch nicht jedem gegeben, Chemiker, Anwalt oder Automechaniker zu werden. Jeder hat eine andere Begabung, und jeder sollte so gefördert werden. Respektiert die Unterschiede, sonst wird man bitter.
Sie sind nicht verbittert. Warum nicht?
Nein. Ich bin nicht bitter. Weil ich weiß, wie das Leben ist. Es kann nicht alles gut sein. Aber Bitterkeit würde mir nicht helfen. Ich versuche, das Leben zu nehmen, wie es ist.