Es ist das Jahr 1855. Mehrfach geht der gelernte Drucker Whitman von seinem kleinen Haus in Brooklyns Prince Street zum Backsteingebäude an der Kreuzung von Cranberry und Fulton Street, wo die schottischen Immigranten Andrew und James Rome eine winzige Druckerei betreiben. Der Journalist nimmt stets auf einem Stuhl in der Nähe eines Ecktisches Platz und notiert detailliert, was mit seinen zwölf Gedichten jetzt geschehen müsse: in welcher Folge auf wie vielen Seiten sie erscheinen sollten, wie Cover, Illustration oder Schrift auszusehen hätten. Beim Setzen der Lettern hilft der 36-Jährige, und die Druckkosten zahlt er aus eigener Tasche.

Eleganz und Schlichtheit

Als die Texte vorliegen, teilt der damals renommierteste Dichter der Nation, Ralph Waldo Emerson, in einem tagelang ersonnenen Brief an Whitman mit: „Dieses Buch ist an Klugheit und Weisheit der bisher ausserordentlichste Beitrag Amerikas zur Dichtung.“ Unvergleichliche Ideen drücke es unvergleichlich aus. „Ich gewahre den Mut einer uns begeisternden und einzig durch weite Begriffe inspirierten Darstellung und grüsse Sie am Beginn einer grossen Laufbahn.“ Dies sind gewichtige Worte eines Literaten, der in seinen Publikationen ständig brillante Persönlichkeiten fordert. Was macht die „Grashalme“, die derart unterschiedliche Menschen ansprechen, so besonders?
Nimmt man den von David S. Reynolds 2005 herausgegebenen Nachdruck des Originals zur Hand, fällt sofort das formal seinerzeit Unkonventionelle ins Auge. Und dies signalisiert: Whitman will einen maximal weiten Leserkreis erreichen. Als Journalist weiss er, dass die amerikanische Öffentlichkeit entweder Sentimentales bevorzugt, wie es zum Beispiel die „Fireside Poets“ um Henry Wadsworth Longfellow schreiben, oder die Sensationen der Boulevardpresse und ähnlich gelagerter Romane. Seinen Weg beschreitet der Debütant, indem er einerseits einen eleganten, dunkelgrünen Umschlag wählt, auf dem sich goldene, verzierte Schriftzeichen und ein goldener Rahmen abheben; überdies erinnert der Titel an Bände, die in besseren Kreisen viele Leser finden, darunter Mary A. Spooners „Gathered Leaves“ (1848).

Andererseits besticht im Inneren eine enorme Schlichtheit. Gegenüber der unverschnörkelten Titelseite steht eine 1854 aufgenommene Fotografie Whitmans in seiner geliebten Arbeitskleidung, die aus offenem Hemd, grober Wollhose und einem breiten Schlapphut besteht. Nicht zuletzt der in die Hüfte gestützte rechte Arm unterstreicht: An das Publikum heran tritt ein Mann, der zupacken will und kann. Vor der Einleitung, deren zweispaltiger Abdruck an eine Zeitung erinnert, vermerkt lediglich ein kleiner Hinweis den Verfasser, „Walter Whitman“. Die unbenannten Verse in typographisch denkbar simpler Form bilden dann das Herz der Veröffentlichung.

Zornige Reaktionen

Die 23 Kritiken, die sich mit der Erstausgabe beschäftigen, sorgen dafür, dass der Autor vorerst keinesfalls von seiner Poesie zu leben vermag. „Eine Masse törichten Schmutzes“, „rücksichtslos und anstössig“, „ein Haufen Blödsinn“, von dieser Art sind die Urteile der Gazetten. Der heftig Attackierte reagiert mit allerlei Massnahmen: Schnell publiziert er zwei günstige Ausgaben; anonym formuliert er für ihm nahestehende Blätter drei überaus zustimmende Rezensionen; und den Brief Emersons lässt er ohne dessen Erlaubnis in der „New York Tribune“ drucken. Bis zu seinem Tod 1892 ergänzt und revidiert Whitman sein Opus magnum, so dass es nach neun Auflagen 383 Gedichte umfasst. Der geniale Verseschmied mit seinen Plädoyers gegen Rassismus, für Vielvölkerstaat, für soziale Gerechtigkeit und für unverkrampfte Körperlichkeit ist da längst eine Ikone.
„Da im Innern rollt Blut. / Das alte, gleiche Blut! (. . .); da sind alle Leidenschaften, Begierden, Strebungen, Inbrunst / (. . .) In ihm harren völkerreiche Staaten und reiche Republiken.“
Dieses Zitat aus Whitmans später „I Sing the Body Electric“ betiteltem Gedicht bezieht sich auf einen Schwarzen, der bei einer Auktion versteigert wird. Dass Afroamerikaner wie Weisse wahre Menschen sind, war für die Sklavenhaltergesellschaft eine provozierende, schockierende Botschaft – die sich als roter Faden durch die frühen Verse der „Grashalme“ zieht. Schon das erste Gedicht, das mit dem berühmten Statement „Ich feiere mich selbst“ beginnt, enthält einen langen Passus, in dem das „Ich“ einen entflohenen Sklaven im Haus versteckt, wäscht und nährt, ferner das Gewehr an der Tür bereithält, um mögliche Verfolger abzuwehren. An anderer Stelle wird das Ich gar zum „gejagten Sklaven“.

Trotz seiner Identifikation mit den Schwarzen, die schon in der draufgängerischen Vorrede spürbar ist, nimmt Whitman hinsichtlich der peculiar institution insgesamt eine nur moderate Position ein. Denn immer wieder wird deutlich, dass ihm die Abolitionisten, diese „närrischen, glühend- heissen Fanatiker“, verdächtig sind, da sie seiner Meinung nach die Einheit der Nation gefährden; am Vorabend des Bürgerkriegs sind dies prophetische Überlegungen. In seiner für ihn typischen, von ihm auch ironisierten Widersprüchlichkeit will er klar der Schriftsteller der Sklaven sein – und natürlich jener der masters. Obendrein möchte er Norden und Süden versöhnen, auf den Hügeln Vermonts genauso zu Hause sein wie auf einer Ranch in Texas. Ja, seine Utopie des Miteinanders geht darüber hinaus.

Amerika und der Rest der Welt

In etlichen Strophen seiner gedeihenden Sammlung schildert Whitman nämlich ein Amerika, dessen wirtschaftliche Prosperität und anschwellende Bevölkerung partiell auf nichteuropäischer Immigration fussen. Ob in „This Moment Yearning and Thoughtful“, „Salut au Monde!“ oder „Passage to India“: Ungewöhnlich ist das Willkommenheissen, Preisen, Feiern der asiatischen Zivilisationen. „A Broadway Pageant“ (1860) entwickelt den Ansatz weiter: Es begrüsst die „All-Mutter“ Asien, fordert für sie Respekt, umarmt Tibet, China, Malaysia und versteht die in Manhattan gelandeten Japaner nicht allein als Repräsentanten Asiens, sondern zudem als Kameraden Amerikas.

Doch auch diesen Vorstössen nimmt der Reformator die Spitze

Denn was hebt die Lyrik in endlosen Schleifen primär in den Himmel? Die Neue Welt: die Menschen, beispielsweise die „tatenlustigen“ Pioniere, die Natur, so den „mächtigen Niagara“, die Tiere, darunter den „starkbrüstigen Bullen“. Und was betont das Vorwort? „Die Vereinigten Staaten selbst sind im Wesentlichen das grösste Gedicht“. Freilich mahnt Whitman denn auch: „Von allen Nationen brauchen die Vereinigten Staaten mit ihren Venen voll lyrischen Materials Dichter am dringendsten»; und die Trennung der Länder durch Meere und jene der Menschen durch Rassen betrachtet er letztlich nur als Vorstufe einer Vereinigung.
Bis es dazu komme, empfindet es der heimatliebende Internationalist als seine Pflicht, auf die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich hinzuweisen. Er brandmarkt die aufstrebende kapitalistische Wirtschaft der USA, die einer klugen, regulierenden Finanzpolitik entbehre, durch Aufschwünge oder Pleiten taumele und von Panik, Arbeitslosigkeit und der Abneigung der Werktätigen gegenüber den Wohlhabenden bestimmt werde. Dabei ist zu bedenken, dass Whitman bescheidenen Verhältnissen entstammt. Sein Vater kämpfte als Tischler und Immobilienspekulant in Brooklyn um jeden Cent. Der Junior versucht sich im selben Handwerk, ausserdem als Lehrer und als Besitzer eines kleinen Schreibwarenladens, stets mit geringem Verdienst. Die Freunde des begeisterten Stadtspaziergängers sind Arbeiter, Leute aus den Gassen – und denen möchte er explizit seine Stimme leihen.

Gleichwohl mag dies erneut bloss der halbe Whitman sein

Denn überzeugt die ostentative Solidarität mit dem Volk und dessen Ansichten, wenn das fiktionale Ich häufig nicht der Verfasser sein kann? Bereits am Anfang der „Grashalme“ etwa beschreibt sich das Subjekt als unordentlich und dem Essen und Trinken ebenso zugeneigt wie den Freuden der Fortpflanzung – während im realen Dasein des kinderlosen Literaten diese Charakteristika zumindest unbestätigt sind. Fest steht jedenfalls, dass der phantasievolle Avantgardist, der bis ins Alter aussagekräftige Fotos von sich in Auftrag gibt, Metzger, Schiffer oder Strassenjungen verewigen will und dies äusserst empathisch tut. „Walt Whitman, ein Amerikaner, einer von den rauhen Burschen, ein Kosmos“ – so lautet eine weitere Selbststilisierung, die Zentrales unterschlägt: den sexuellen – nun ja – Aufklärer.

Das Hohelied des Körpers

Der Hauptgrund für die meist ablehnende Haltung der ersten Rezensenten war zweifellos die relativ offenherzige Darstellung des Geschlechtsaktes, gewisser Körperteile und Begierden. Der Autor behauptet allerdings, dass seine Formulierungen im Kontrast stehen zu dem, was er als taktlose Behandlung der Sexualität in der Populärkultur wahrnimmt, wo sich alles um das „einfach Erotische“, das „nur Laszive“ drehe. In den rund 80 Zeilen, welche die „Grashalme“ Intimem widmen, heißt es neben anderem: „Willkommen ist mir jedes Organ und jede Eigenschaft und die eines jeden fröhlichen und reinen Mannes.“ Ferner wird das Natürliche der Kopulation mit der liebevollen Aufmerksamkeit eines Physiologen oder Bildhauers erläutert.

Die Freimütigkeit reicht manchen dennoch schon aus, um den Intellektuellen mit dem „Free Love Movement“ seiner Zeit zu verbinden. Whitman wehrt sich sehr dagegen. Zwar sieht er wie die „Free Lovers“ riesige Defizite in den Geschlechterbeziehungen – die er beheben will, indem er auf natürliche Leidenschaft und Attraktivität verweist. Die Bewegung engagiert sich aber dafür, die Ehe abzuschaffen, da sie „legalisierte Prostitution“ in einer Epoche sei, in der Frauen, ausgebeutet und unterbezahlt, oft aus falschen Gründen gezwungen würden zu heiraten. Indes der Nationaldichter der USA die Ehe würdigt: als Basis von Wohlstand, Sicherheit und christlichem Staat. Im Laufe des Lebens hat der ewige Junggeselle übrigens intensive Affären mit Frauen und Männern, die homoerotischen Anspielungen markieren die „Grashalme“ nicht zuletzt als Vorläufer der Lesben- und Schwulenliteratur.
Heute, mehr als 150 Jahre nach der Ankunft von Whitmans Wunderwerk, bleiben die Kerngedanken seines Schöpfers auch in unseren Breiten zugänglich. Das liegt zum einen an den Selektionen, die bei Reclam und Diogenes vorliegen. Zum anderen liegt eine neue Übersetzung von Whitmans politischer Analyse „Demokratische Ausblicke“ vor, die Preziosen liberaler Bissigkeit enthält (Derk-Janssen-Verlag, Freiburg im Breisgau 2005). Und der Amerikaner Michael Cunningham ließ den Hohepriester der Lyrik von „God’s own country“ gerade etwas plump in seinem Roman „Helle Tage“ auftauchen – was die Freude an den „Grashalmen“, dem Schatzkästlein Amerikas, nur steigert. Dabei ist evident: Die Vision eines entspannten Verhältnisses zwischen Rassen, Völkern, Schichten und zum eigenen Körper zu verwirklichen, wird gerade in den streitlüsternen, prüden USA noch viel Arbeit erfordern – die sich unendlich lohnt.

 

Jan. 2024 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Wissenschaft | Kommentieren