Die Musik schwillt an, als der Vater das Kind nimmt, Richtung Fenster läuft und Anstalten macht, es hinauszuwerfen. Die Kamera nun in einer Totale, das am Abgrund schwebende Kind oben, die wuselnden Leute da unten, dann die Perspektive aus dem Fenster, verzweifelte Menschen dort unten, die anbieten, den Jungen aufzufangen, aber so richtig wohl ist ihnen dabei nicht. Schließlich entscheidet sich der Vater gegen den Wurf, drückt das Kind an sich, es muss einen anderen Weg geben; er sieht vielleicht auch in diesem Moment ein, dass die katholische Kirche zu mächtig ist, als dass sein Sohn eine Chance hätte, selbst wenn einer der Verbündeten dort unten ihn auffangen könnte.
Ein bisschen Brainwashing-Narrativ
Die Bologna Entführung heißt der neue Film von Marco Bellocchio, und der Kidnapper ist niemand Geringeres als der Papst. Dem katholischen Establishment ist im Jahre 1857 zu Ohren gekommen, dass eines von sieben Kindern einer jüdischen Familie in Bologna einst getauft wurde, und so sieht es sich legitimiert, den sechsjährigen Edgardo seiner Familie zu entreißen, in die Obhut der Kirche zu nehmen und das Christentum zu lehren.
Die kaltherzige Macht auf der einen, die ohnmächtige Verzweiflung auf der anderen Seite: Fortan ist Die Bologna Entführung ein zweigeteilter Film, folgt einerseits Edgardos Missionierung in Rom, direkt beim Papst und gemeinsam mit anderen jüdischen Kindern, andererseits dem Kampf seiner Familie, den verlorenen Sohn zurückzubekommen, inklusive Mobilisierung des internationalen jüdischen Establishments und einiger von ganz oben autorisierter elterlicher Besuche bei Edgardo selbst, der zwischen der Akzeptanz seines neuen und der Sehnsucht nach seinem alten Heim sichtlich zerrissen ist. Was in ihm vorgeht, wie weit er schon bekehrt ist, wie lange er noch seine Familie vermisst, ab wann er verloren ist – ein bisschen Brainwashing-Narrativ ist Die Bologna Entführung schon auch, so richtig hinter die Fassade Edgardos, ein unschuldiges Kindergesicht if there ever was one, können wir nicht blicken. Doch haben wir durch die Augen des Jungen die furchteinflößende christliche Symbolik gesehen, als würden wir sie auch gerade erst kennenlernen, und das ist nicht wenig.
Ein Albtraum jüdischer Rache
Ein weiterer Historienfilm in Cannes, vielleicht der beste. Nicht nur, dass Bellocchios Klassizismus ein ungemein dynamischer ist, der sorgsam die statischen Dialogszenen mit den beschleunigten Actionszenen austariert und für jede Entwicklung seiner konzentrierten Erzählung ein Bild findet, das stimmig ist, ohne sich selbst als eigenes Kunstwerk ausstellen zu wollen. Die Bologna Entführung ist eine große Historienoper und steht dabei zugleich, wie seine Anfangssequenz, stetig unter Spannung, hält seine kleine Geschichte in der Schwebe wie der Vater das Kind am Fenster, während die große voranschreitet.
Denn mit dem Privatkrieg Pius’ XI. gegen die Juden, für den er selbst innerhalb der katholischen Kirche in der Kritik stand, ist es längst nicht getan: Die italienische Nationalbewegung tritt auf den Plan, nimmt erst Bologna, irgendwann Rom ein, die Kirche verliert an Macht, der Papst, einführend noch an seinem Schreibtisch vor einer riesigen Weltkarte inszeniert, stürzt verzweifelt eine Treppe hinunter, und Edgardo sieht sich irgendwann einem seiner Brüder gegenüber, als der mit den Nationalisten die heiligen Hallen stürmt.
Zugleich findet Die Bologna Entführung allerlei Raum für Details und sogar für Ausflüge ins Surreale, wenn Edgardo in seiner Fantasie Jesus entkreuzigt oder wenn das päpstliche Unbewusste aus einem Gerücht einen Albtraum jüdischer Rache spinnt, in dem sich eine Schar an Rabbinern eines Nachts über ihn hermacht, um ihn zu beschneiden.
Von der Geschichte gemeißelte Körper
Überhaut habe ich lange keinen Film mehr gesehen, in dem sich die große Geschichte so überzeugend im Kleinen spiegelt wie hier: Mit dem Machtwechsel ist die Entführung, die einst als heiliger Akt aus Rom begründet werden konnte, auf einmal eine Straftat, der katholische Richter, der sie im Auftrag des Papstes durchführte, auf einmal Angeklagter vor einem Gericht in Bologna. Und Edgardo, der verlorene Sohn, der Fluchtpunkt aller Mühen einer jüdischen Familie, ist auf einmal deren schwarzes Schaf, das am Totenbett der Mutter erst beseelt begrüßt, dann wütend abgewiesen wird.
Denn es gibt kein Happy End, kein Rückmissionierung, weil wir alle von der Geschichte gemeißelte Körper mit von allen möglichen Umständen gefärbten Biografien sind. Edgardo ist keine souveräne Figur, sondern Spielball der Geschichte, trotz alledem oder gerade deshalb trauern wir um ihn.