Das Jahr, das genau da weitermacht, wo das alte aufgehört hat: Elend, Missstand, Jahrhundertprobleme. Wen das nicht zerrüttet, der ist mit einiger Wahrscheinlichkeit ein in Japan sogenannter „Geistesjapaner“. Diese Menschen haben sich die Letztfrage ans Dasein mithilfe einer gerade wieder entdeckten, uralten japanischen Technik beantwortet und werden – wovon sie ausgehen – voraussichtlich hundert Jahre alt. Zumindest- Mit Ikigai (生き甲斐).
Was nun aber verbirgt sich hinter diesem – leicht eckigen, aber alles ins Reine bringenden Wort Ikigai (生き甲斐)?
«Iki» steht für Leben, «gai» für Wert. Zusammen ergibt Ikigai «wofür es sich zu leben lohnt», «wofür du morgens aufstehst», kurz: den Sinn des Lebens. Dass ausgerechnet Japan uns helfen kann, dieses Excalibur-Schwert aller Fragen zur menschlichen Existenz aus dem Stein zu ziehen, verwundert nicht. In der Vergangenheit griff Nippon uns schliesslich schon in zahlreichen anderen Lebensbereichen unter die Arme.
Bogenschiessen und Beten hat uns erst Zen richtig gelehrt, Aufräumen Marie Kondo, kaputtes Porzellan mithilfe von Pulvergold kleben Kintsugi. Vintage schätzen wir erst seit Wabisabi auf korrekte Art und Weise, und wie man richtig im Wald spazieren und baden geht, lehrte uns Shinrin Yoku. Wenn sich nun herausstellt, dass die Japaner die ganze Zeit über auch noch den Sinn des Lebens gekannt haben, überrascht das auf Anhieb erst einmal nicht.
Die genaue Anleitung zum Ikigai werden einige seit Weihnachten auf dem Nachttisch liegen haben. Von Ikigai-Büchern gibt es mittlerweile Wagenladungen: «How to Ikigai», «How to Find Your Ikigai», «The Most Practical Way of Ikigai». Die 2016 erschienene, millionenfach verkaufte und in 63 Sprachen übersetzte Urlektüre heisst «Ikigai. The Japanese Secret to a Long and Happy Life». Dieses Traktat stammt nun nicht aus der Feder eines berühmten Sensei. Vielmehr hatten Francesc Miralles, ein katalanischer Journalist, und Héctor García, ein spanischer Software-Entwickler, die Idee zum Buch in einer Kneipe. Schon reiste man auf der Suche nach dem «existenziellen Kraftstoff des Lebens» nach Okinawa, jener Insel, auf der – wie gesagt wird – die meisten Hundertjährigen der Welt leben.
Im Dörfchen Ogimi stiessen sie auf «lachende und scherzende Menschen, die am Fusse dicht bewaldeter, üppig grüner Berghänge leben», «eine ganz eigene, uralte Sprache» sprechen und Sanpincha-Tee trinken. Das Geheimnis ihrer Hundertjährigkeit lüften sie auf 122 Seiten: Gärtnern, Freunde, Enkel. Damit unterscheiden sich die japanischen Senioren eigentlich nicht von allen anderen weltweit. Kompliziert macht die Sache jedoch ein Schaubild, das sogar die Regierung von Japan auf ihrer Website präsentiert.
Es zeigt die olympischen Ringe als Origami, allerhand Kreise, die Schnittmengen bilden zwischen «Was du liebst», «Worin du gut bist», «Was die Welt braucht» und «Wofür man dich bezahlen kann». Überschneiden sich nur zwei oder drei Kreise, hat derjenige sein Ikigai noch nicht entdeckt. Dann gilt es beispielsweise, das Hobby zum Beruf zu machen. «Geld spielt keine Rolle, es muss nur zum Leben reichen.» Reicht Kraniche falten nicht zum Leben, soll man «Meisterschaft darin erlangen» und erst einmal in Teilzeit anfangen. Am wichtigsten sei sowieso «Zeitwohlstand». Erst wenn alle vier Kreise sich mittig treffen, ist der Sinn des Lebens hergestellt, das Ikigai erlangt und mit ihm «alles Notwendige für einen langen, glücklichen Lebensweg».
2020 legte erstmals – und singulär bis heute – ein echter Japaner nach: Ken Mogis Bestseller «Ikigai. Die japanische Lebenskunst» steht auf Amazon immer noch auf Platz 1 in der Sparte Selbstmanagement. Der Neurowissenschafter erläutert darin die «fünf Säulen des Ikigai»: 1. Fange klein an, mit einem guten Moment pro Tag, etwa einer Tasse Tee. 2. Lerne loszulassen, vergiss Status und Geld. 3. Lebe in Harmonie und Nachhaltigkeit! 4. Freue dich an den kleinen Dingen, etwa an Vögeln. 5. Sei ganz im Hier und Jetzt. Als Vorbilder nennt er Obstbauern und über neunzigjährige Sushi-Meister.
Mogis fünf Säulen sind von derart offensichtlicher, fast an Niederträchtigkeit grenzender Allgemeinheit, dass jeder halbwegs kritische Geist sich fragt: Ist das alles, was die berühmte japanische Lebensweisheit kann? Rückzug ins Unpolitische, Spatzen füttern, arm werden und Tee trinken? Mit solcher Meisterschaft sollte es nicht einmal für Teilzeit reichen!
Es ist ja nicht so, als hätte unsere griechisch-humanistische Tradition zum Sinn des Lebens gar nichts zu sagen. Wir haben Eudaimonia, Nietzsche, Sartre, sogar Inseln, die behaupten, die meisten Hundertjährigen am Leben zu erhalten, Ikaria in Griechenland, Sardinien in Italien, die kalifornische Stadt Loma Linda in den USA. Deren Geheimnisse interessieren im Westen aber niemanden. Lieber lässt man sich in TEDx-Talks den Sinn des Lebens von japanophilen Tech-Esoterikern erklären und stellt einen ganzen Berufszweig triefend lebenszufriedener Ikigia-Coaches in Lohn und Brot. Und das nicht erst seit Ikigai. Denn die kritiklose Aneignung angeblich uralter japanischer Traditionen ist tatsächlich unsere eigene, ganz und gar europäische Tradition.
Von dem Augenblick an, als Japan sich der Welt 1853 nach 200 Jahren Abschottung während der Shogun-Herrschaft öffnete, waren wir da – und entzückt. Von den Geishas mit den kleinen Füsschen, dem niedlichen Puppen-Essen, Botanik und Kunsthandwerk, das seinen Weg sogleich in die Pariser Weltausstellung fand. Angeheizt von Reiseberichten eines Pierre Loti, der seine gequälte Fin-de-Siècle-Seele an Japan erlabte, verfestigte sich der Eindruck des Landes als einzige «Madame Butterfly»-Oper.
Als die Inselgruppe in Lichtgeschwindigkeit den technologischen Fortschritt des Westens adaptierte und plötzlich Wirtschaftsmacht war, war das Japanbild perfekt: Eine Nation, die geschlossen Derartiges vermag, ohne seine Traditionen aufzugeben, galt und gilt in den Industrieländern der nördlichen Welthalbkugel als «aufsteigender Stern der menschlichen Selbstbeherrschung und Erleuchtung» (Beatrice Wenn, 1904 über Japan).
Ikigai ist keineswegs uralt – die erste Ratgeberschwemme kam erst in den Sechzigerjahren auf.
Seitdem ist Nippon ein Bildnis mit Kirschzweig für uns, eine Traumfigur, ein europäisches Trostbild. Und darauf beharren wir. Empirische Realität perlt vollständig ab. Etwa die Tatsache, dass Japan mit seinen Hundertjährigen in einem Ausmass vergreist, dass alles auf eine Katastrophe zuläuft. Die Altersarmut führt zu Seniorenkriminalität, die bereits 16 Prozent der polizeilichen Ermittlungen ausmacht. Die Selbstmordrate schon unter Kindern und Jugendlichen ist eine der höchsten weltweit. Niemand wagt es noch, sich fortzupflanzen.
Für «Zeitwohlstand» gibt es in der Arbeitsgesellschaft Japans wahrscheinlich kein Wort, dafür für den Tod durch Überarbeitung (Karoshi). Die Regierung ist korrupt, die Mittelschicht bricht zusammen, Ken Mogi ist kein Neurowissenschafter, er hat Physik und Jura studiert, laut der «Japan Times» hinterzog er 2009 eine Million Dollar Steuern, und Ikigai ist nicht uralt. Laut dem Japanologen Christian Tagsold von der Uni Düsseldorf kam der Begriff erst in den 1960er Jahren auf. Eine entsprechende Ratgeberschwemme sollte damals jene trösten, die nach der Abwanderung vom Land in die Städte keinen Sinn mehr im Leben sahen.
Ans Äusserste geht der Wille zur Japanverklärung bei der Insel der Hundertjährigen Okinawa. Am Fusse dicht bewaldeter Berghänge befindet sich hier gegen den Willen grosser Teile der Bevölkerung der grösste US-Militärstützpunkt Asiens mit 30000 Mann und 70000 Starts und Landungen pro Jahr. Zuvor hatten die USA 1945 hier 94000 Insulaner niedergemetzelt. Anschliessend die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. «Statt Groll zu hegen», so die Ikigai-Autoren García und Miralles, hielten es die Insulaner aber mit dem Sprichwort «Ichariba chode» – behandle alle Menschen wie Brüder, selbst wenn du ihnen zum ersten Mal begegnest.
Japanische Lebensweisheit ist, dem nicht zu widersprechen. Wenigstens eins läuft von allein: die Imagepflege …