
Zuzeiten gab es Zeiten, da jeder und jede einen Engel zur Seite hatte: Über oder vor sich – Verdopplung der Population.
Heerscharen von Engeln wimmelten durch gerade gegründete Städte aber – vorzugsweise im Dorf. Wenngleich: Unsichtbar. Engel zogen, so die öffentliche Meinung, mit in die Kartoffeln, sie begleiteten Kinder in den Schweinestall, beim Verstecken auf dem Dachboden, im Heu. Aber – was Wunder – es stellten sich Fragen. Wo denn die Schutzengel ihre Augen hatten, als das Irmchen unter die Reifen des Rübenanhängers geriet? Oder Schulze vom Stier an die Stallwand gerammt wurde? Hatten die Engel da frei? Oder gepennt? Waren sie übernächtigt, weil sie unseren Schlaf bewachten?
Liest man Eliot Weinbergers Kompendium über Engel & Heilige, tauchen diese und viele andere Fragen auf, jetzt erörtert von großen Philosophen, wenngleich mit derselben Ernsthaftigkeit, wie sie Kinder an den Tag legen. Also von Augustinus oder Johannes von Damaskus oder Basilius aus Caesarea. Immer dabei: Thomas von Aquin. Viel 13. und 14. Jahrhundert. Die Bibel natürlich. Luther gibt seinen Senf dazu.
Das Buch ist herrlich verwirrend und oft unfassbar komisch. Weil Weinberger seine Funde mit kühler Ernsthaftigkeit präsentiert, durch die nur gelegentlich feiner Spott schimmert, was seine Übersetzerin Beatrice Faßbender perfekt rüberbringt.
Der New Yorker Autor Eliot Weinberger ist ein Sammler von Narrativen. In seinen Büchern kehrt er Kurioses aus diversen Jahrhunderten und Kulturen aus. Mal sind es Ministorys über Myriaden von Chinesen, die „Mr. Chang“ heißen, dann Vogellaute oder Sentenzen zur Farbe Blau. Solche Fragmente fügt er zu Textbildern, die wir bestaunen, weil hier das Wundersame in den Vordergrund tritt, sich eine Poesie des Absonderlichen quasi engelsflügelgleich vor unsere schnöde Realität legt.
Schon der Versuch, zu klären, wie viele Engel es gibt auf Erden,
führt geradewegs in den Wahnsinn
Die Offenbarung will „zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend“ Engel gesichtet haben. In den Apokryphen sind es 34.720.000.000 Engel. Alle körperlos, einige mit Flügeln, andere mit Vogelköpfen, gelegentlich schon genderchangierend. Und dann die gefallenen Engel, geschätzte „6 Legionen“, bestehend aus 60 Kohorten à 666 Kompanien mit je 6.666 Dämonen. Die Lutheraner rechneten auf 2,5 Milliarden hoch. Mithin pro Christ circa 100.000 Teufel!
Heiliger Bimbam!
Einige Engel bringen den Kranken Kaffee ans Bett, andere zeichnen das Herz von Sterbenden mit Wundmalen. Sie lindern Schmerzen oder schicken Seuchen, an denen Abertausende sterben.
Tja, die heilige Welt ist nicht so hell, wie die Stimmen der Knabenchöre suggerieren, wenn sie „Gott hat seinen Engeln befohlen!“ flöten – „dass sie dich auf den Händen tragen“. Musik ist reine Empfindung, jedenfalls bei Mendelssohn Bartholdy. Aber wie passt dies zu dem Ring, den Katharina von Siena von Jesus bekam – gedrechselt aus göttlicher Vorhaut?
Das Buch Engel & Heilige erscheint zur richtigen Zeit, wo so viel über das Hysterisierungspotenzial des Islams nachgedacht wird, über die Gnadenlosigkeit jüdischer Fundamentalisten oder die russische Orthodoxie im Dienste Putins. Implizit sagt es: selber! Wenn man im zweiten Teil zur Welt der Heiligen gelangt, blickt man in einen Abgrund aus Krankheiten, sadistischen Folterungen, Schmerz.
Und wenn die Welt voll Teufel wär?
Vielleicht hatte man vorne die Gelegenheit vermisst, hier und da ein schönes Engelbild zu betrachten, Pontormos weichgliedrige Wesen oder den von Tizians himbeerfarbenen Stoffbahnen umwehten Lockenkopf, der zur Verkündigung in Marias Kemenate einschwebt. Im zweiten Teil des Buches ist man nur dankbar, dass uns die so gerne holzschnittartig dargestellten Qualen erspart werden, mit denen sich Menschen ihre Heiligkeit verdienten.
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Vorbei! Ein Buch zum Aufatmen:
Eliot Weinberger: Engel & Heilige.
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender;
Berenberg, Berlin 2023;
168 S., 28,– €, als E-Book 21,99 €