Max Horkheimer (links), Theodor W. Adorno und rechts hinten Jürgen Habermas im April 1964 an einer Tagung in Heidelberg

Als Ort für die Revolutionstheorie wurde es vor gut hundert Jahren gegründet und entwickelte sich zu einem Zentrum gelehrter Gesellschaftskritik: Was hält das Frankfurter Institut für Sozialforschung heute zusammen?
Ein unabhängiges Institut für Sozialforschung, getragen von einem vermögenden Grosskaufmann und seinem politisch links engagierten Sohn: Das war etwas Aussergewöhnliches, selbst in einer aufgeschlossenen, der Wissenschaft zugetanen Stadt wie Frankfurt am Main. Niemand hätte sich 1923 vorstellen können, dass dieses Institut dereinst ein Ort sein würde, der – in Verbindung mit dem Begriff «Kritische Theorie» – weltweit bekannt werden sollte.

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Jan 2024 | Heidelberg, Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Sapere aude | Kommentieren

In dieser Villa am Wannsee in Berlin trafen sich 1942 Spitzenbeamte der Nazis

In einer stattlichen Villa bei Berlin wurden
am 20. Januar 1942 Details zum
Völkermord an den europäischen Juden
besprochen. Auch 80 Jahre danach lässt
einen das Protokoll der Wannseekonferenz erschaudern.

Manchmal hilft der Zufall. Im März 1947 
müssen sich Beamte des Auswärtigen 
Amtes vor dem Nürnberger
Kriegsverbrechertribunal verantworten,
 da macht Robert Kempner 
einen bedeutenden Fund.

 

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Jan 2024 | Allgemein, In vino veritas, Kirche & Bodenpersonal, Sapere aude | Kommentieren

Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich 1938 (r.): Heydrich als Chef des Reichssicherheitshauptamtes war 1942 der einflussreichste Teilnehmer der Wannseekonferenz. (Quelle: Scherl – Süddeutsche Zeitung/ullstein-bild)

15 Männer organisierten vor 80 Jahren die Ermordung von Millionen Juden. Unter den Bürokraten des Massenmords gebärdete sich ein Mann besonders radikal. Der Holocaust war derweil längst im Gange.

Es war ein prachtvoller Ort, an dem am 20. Januar 1942 Grauenhaftes besprochen wurde. „Am Großen Wannsee 56/58“ lautet die Adresse der Berliner Fabrikantenvilla aus dem Jahr 1915, die 1942 einem ganz anderen Zweck diente: als Gästehaus der SS.

So war es auch einer der wichtigsten und gefürchtetsten Männer des nationalsozialistischen Staates, der zu dieser später als Wannseekonferenz bekannt gewordenen Besprechung in die Villa gebeten hatte: Reinhard Heydrich, SS-Obergruppenführer und Leiter des Reichsicherheitshauptamtes (RSHA), dem unter anderem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) unterstand.

Ein gefürchteter Mann

Weit entfernt wurde Heydrich allerdings noch ganz anders tituliert. In der Hauptstadt Tschechiens nannten die Menschen den SS-Führer „Henker von Prag“, weil Heydrich dort in der Funktion als Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren für seine Gnadenlosigkeit bekannt war.

Am 20. Januar 1942 begrüßte Heydrich nun seine 14 Gäste am Wannsee, allesamt SS-Führer, Parteifunktionäre und hohe Beamte aus Ministerien. Männer wie Wilhelm Stuckart aus dem Reichsinnenministerium, Otto Hofmann vom SS-Rasse- und Siedlungshauptamt, Karl Eberhard Schöngarth, seines Zeichens Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes im besetzten Polen, dem sogenannten Generalgouvernement.

Protokoll der sogenannten Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942: Adolf Eichmann fertigte das Dokument an.

Ebenfalls anwesend war Roland Freisler, der später als Präsident des Volksgerichtshofs der furchtbarste unter den vielen furchtbaren Juristen des „Dritten Reiches“ werden sollte. Damals war Freisler allerdings noch Staatssekretär im Reichsjustizministerium. Nicht zu vergessen, auch Heinrich Müller, Chef der Gestapo, nahm an der Wannseekonferenz teil.

Mitgebracht hatte er seinen Untergebenen Adolf Eichmann, der das Referat IV D 4 im Amt IV des RSHA leitete. Es war auch bekannt als „Judenreferat“ und avancierte zu einer zentralen Institution des Holocaust, der Ermordung der europäischen Juden.

„Muss so oder so Schluss gemacht werden“

Und genau diesem Zweck diente die Wannseekonferenz. Wie auch dem mörderischen Ehrgeiz Reinhard Heydrichs. Gleich zu Beginn informierte der 38-Jährige die Versammelten darüber, dass Herrmann Göring ihn „mit der Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“ betraut habe, wie der Historiker Robert Gerwarth in seiner Biographie über Heydrich schreibt.

„Vorbereitung“? Tatsächlich war die Ermordung der Juden bereits im Gange:

  • Im August 1941 brachten Männer eines deutschen Polizei-Bataillons und eines „Sonderaktionsstabes“ etwa 23.000 Juden bei der ukrainischen Stadt Kamenez-Podolsk um.
  • Einen Monat später organisierte das Sonderkommando 4a der SS-Einsatzgruppe C die Ermordung von 33.000 Juden beim Massaker von Babyn Jar in Kiew.
  • Seit Anfang Dezember 1941 wurden Juden in Chełmno im Generalgouvernement in Lkws durch Abgase getötet, wie der Historiker Peter Longerich in seinem Buch „Wannseekonferenz. Der Weg zur ‚Endlösung'“ schreibt.
  • Rudolf Lange, Anfang 1942 Teilnehmer der Wannseekonferenz, hatte Wochen zuvor im lettischen Riga Tausende Juden erschießen lassen.

Insgesamt waren bei diesen und anderen Mordtaten zum Zeitpunkt der Wannseekonferenz bereits Zigtausende Juden umgebracht worden. Aus seiner Feindschaft ihnen gegenüber hatte Adolf Hitler wenig Hehl gemacht. „Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein“, äußerte sich der „Führer“ nach einem Tagebucheintrag von Joseph Goebbels am 12. Dezember 1941 entsprechend.

„Umweg zum Tod“

„Wenn er [der Jude], dabei kaputtgeht, da kann ich nicht helfen“, schwadronierte Hitler dann am 25. Januar 1942, kurz nach der Wannseekonferenz. „Ich sehe nur eines: die absolute Ausrottung, wenn sie nicht freiwillig gehen.“ Gleichsam sprach Hans Frank, Hitlers Statthalter im besetzten Polen: „Mit den Juden – das will ich Ihnen auch ganz offen sagen – muss so oder so Schluss gemacht werden.“

Somit war die Wannseekonferenz weniger der Auftakt des Holocaust, sondern eine Aussprache unter seinen Vollstreckern. Beziehungsweise von Vertretern der Instanzen, die ihn auf organisatorischer Ebene vorantrieben. „Die Tötung zumindest aller arbeitsunfähigen Juden im deutschen Machtbereich“ war, wie der Historiker Ulrich Herbert zusammenfasst, beim „RSHA, bei den Umsiedlungsexperten und den deutschen Besatzungsbehörden schon seit Längerem für unvermeidlich“ gehalten worden.

Haus der Wannseekonferenz: Heute ist dort eine Gedenk- und Bildungsstätte eingerichtet. (Quelle: imageBROKER/ullstein-bild)

Wie aber sollten die grauenhaften Pläne zur Auslöschung der Juden umgesetzt werden? Heydrich hatte dazu seine Vorstellungen: „Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen.“ Konkret stellte sich Heydrich vor, dass die Juden dort Straßen bauen sollten. „Wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird“, so der RSHA-Chef. Als „Umweg zum Tod“ beschreibt Ulrich Herbert diesen geplanten „Arbeitseinsatz“. Die Überlebenden wiederum müssten später „entsprechend behandelt“ werden, so die SS-Pläne.

Um die unfassbare Dimension des von Heydrich und seinen 14 Gästen auf der Wannseekonferenz besprochenen Menschheitsverbrechens deutlich zu machen: Rund elf Millionen Juden gedachte der RSHA-Chef dieses grausame Schicksal zu. Eine Dimension des Massenmordes, die selbst der zynische Heydrich erst nach Kriegsende für komplett realisierbar hielt.

In einem Punkt setzte sich Heydrich nicht durch

Josef Bühler, Emissär von Hans Frank aus dem Generalgouvernement, machte am 20. Januar 1942 allerdings noch einen Vorschlag: „Dass das Generalgouvernement es begrüßen würde, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement begonnen würde“. Einem Gebiet, in dem „die Juden dort nur zu einem geringen Teil arbeitsfähig“ wären.

Was können diese Worte bedeutet haben? Es war der Wunsch nach dem Bau weiterer Vernichtungslager, wie Robert Gerwarth vermutet. Das Lager in Belzec war zu diesem Zeitpunkt seit Wochen im Aufbau, im März 1942 sollte es den regulären „Mordbetrieb“ aufnehmen. Weitere folgten. So etwa Treblinka und Sobibor. Auschwitz spielte eine besondere Rolle in den Planungen der SS, es war Konzentrations- und Vernichtungslager zugleich.

Eine andere Gruppe von Menschen sollte darüber hinaus ebenfalls noch Thema der Wannseekonferenz werden. Und zwar die „Halbjuden“ wie auch Juden in „Mischehen“ im Deutschen Reich. Sollten sie ebenfalls in das Deportationsprogramm einbezogen werden? In ihrem rassistischen Weltbild hatten die Nationalsozialisten eine perverse Kategorisierung ersonnen. So gab es etwa die Einteilung in „Mischlinge 1. Grades“ und solche „2. Grades“. Von diesen Menschen ging angeblich die Gefahr „rassischer Verunreinigung“ aus, entsprechend wollte Heydrich diese „beseitigen“.

In dieser Frage allerdings konnte sich der Chef des RSHA nicht durchsetzen. Das Reichsinnenministerium fürchtete den Aufwand in Sachen Verwaltung.

Ehrung von Heinrich Himmler

Reinhard Heydrich war trotzdem zufrieden mit den Ergebnissen der Wannseekonferenz, schließlich hatte er sich mit seinen zentralen Anliegen durchgesetzt. Auch wenn die Wannseekonferenz in ihrer „historischen Bedeutung […] für die Geschichte des Holocaust überschätzt worden ist“, so ist sie doch schockierender Ausdruck des Fanatismus der Nationalsozialisten.

Fast sechs Millionen Juden sollte das nationalsozialistische Deutschland ermorden, bis der Krieg in Europa am 8. Mai 1945 endete. Reinhard Heydrich war zu diesem Zeitpunkt schon lange tot. Am 27. Mai 1942 wurde der „Henker von Prag“ bei einem Attentat schwer verletzt, starb ein paar Tage später. Als „edel, anständig und sauber“ pries ihn Heinrich Himmler in seiner Trauerrede.

Thomas Mann, deutscher Literaturnobelpreisträger im Exil, fand passendere Worte für Heydrich: „Wohin dieser Mordknecht kam, floß das Blut in Strömen“.

 

Jan 2024 | In Arbeit | Kommentieren

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Jan 2024 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, In vino veritas, Kirche & Bodenpersonal, Sapere aude, Senioren | Kommentieren

Im Südwesten kann es trotz des vorzeitigen Endes des Lokführerstreiks auch am Montag (am 27. 01.) noch vereinzelt Beeinträchtigungen im Bahnverkehr geben. Regionale Prognosen könnten aber nicht gemacht werden, sagte eine Bahnsprecherin am Sonntag. Die Züge sollen am Montag größtenteils wieder nach dem regulären Fahrplan unterwegs sein, wie der Konzern mitteilte.

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Jan 2024 | Heidelberg, Allgemein, Metropolregion Rhein-Neckar | Kommentieren

Größter Streitpunkt ist die von der GDL geforderte Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche. Bislang gilt für die Lokführer eine wöchentliche Arbeitszeit von 38 Stunden, häufig im Schichtbetrieb. Fünf Bahn-Mitarbeiter über ihren Alltag, Und ihre Gründe für diesen Streik

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Jan 2024 | Allgemein, In vino veritas, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren
Zwei Parteien hat Oskar Lafontaine in seinem Leben schon hinter sich gelassen: 2005 die SPD und 2022 die Linkspartei. Doch Lafontaine sieht das bekanntermaßen anders: Die anderen sind’s gewesen. Noch vergangenen November sagte er in einem seltenen Interview mit dem ZDF:

Nach meinem Parteiverständnis bin ich immer in der gleichen Partei geblieben, im Gegensatz zu den anderen, nämlich in der Partei, die das sozialdemokratische Programm von Willy Brandt vertreten hat. Dass die anderen dieses Programm verlassen haben, ist nicht in erster Linie meine Schuld.

          Oskar Lafontaine, Ex-Linken-Chef

Nun also die Partei, die seine Frau am 8. Januar gegründet hat und die morgen ihren ersten Parteitag feiert. Gegen 15:40 Uhr wird Oskar Lafontaine dort eine Rede halten. Heute schon beginnen die Vorbereitungen im Kino Kosmos in Berlin.
Wer wie ich aus dem Saarland kommt, ist quasi mit „Oskar“ aufgewachsen – und weiß, dass er das kann und liebt: Reden halten, zu Menschen sprechen. Was Lafontaine weniger gut kann, ist sich einfügen in eine Parteistruktur. Das teilt er mit seiner Frau. Vielleicht ist es die logische Konsequenz: Die einzige Partei, die beide aushalten und die sie nur schwer verlassen können, ist ihre eigene.
Die Person als Programm – das jedenfalls ist das Prinzip des „Bündnisses Sahra Wagenknecht.“ Und dieses Prinzip gilt auch für das Spitzenpersonal, das sich morgen für die Europaliste aufstellen lassen will:
  • Fabio De Masi, prominenter Finanzpolitiker und ehemaliger Bundestags- und Europaabgeordneter der Linken: Steht für scharfe Kanzler-Kritik im sogenannten „Cum-Ex-Skandal“.
  • Thomas Geisel, ehemaliger SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf: Steht programmatisch für einen harten Migrationskurs und ist ebenfalls aus der SPD ausgetreten.
  • Michael von der Schulenburg, ehemaliger UN-Diplomat: Steht für „Friedenspolitik“, glaubt an eine Verhandlungslösung mit Russland, ist Nato-kritisch.
  • Friedrich Pürner, ehemaliger Gesundheitsamtsleiter im bayrischen Aichach: Steht für die Kritik an den Corona-Maßnahmen.
  • Jan-Peter Warnke, Neurochirurg und ehemaliger Chefarzt: Steht für die Kritik an der Privatisierung des Gesundheitswesens.
Die Parteigründung ist historisch, und für Oskar Lafontaine wohl auch eine Art Vollendung: eine Partei, die sowohl Linkspartei als auch SPD schaden könnte – deren Programm linkskonservativ ist und polarisiert – eine Partei, die er nie verlassen hat, die er wohl nie verlassen kann und nie verlassen muss.
Jan 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Vorbereitung der Machtübernahme gestern.
Und heute …
Miszellen zum Tag des Mauerfalls:

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Jan 2024 | Allgemein, Buchempfehlungen, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren

In einem gerade erschienenen Buch mit dem schönen Titel „Die Klimakuh – Von der Umweltsünderin zur Weltenretterin“ versucht der Autor Florian Schwinn ein paar der gängigen Erzählungen über die Kuh geradezurücken. Er zitiert einen befreundeten Bauern, der ihm sagte: „Neunzig Prozent der so genannten Narrative über die Landwirtschaft stimmen nicht, oder sie stimmen so nicht.“ Die Fakten als solche, so fuhr dieser Landwirt fort, mögen stimmen, aber die Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind meist falsch – oder zumindest – unsinnig.

Warum ist das so?

Weshalb gelingt es so selten, die historischen und zeitgenössischen Prozesse in der Landwirtschaft zu beschreiben, sie gleichzeitig auf ihre fachlichen, pflanzlichen und tierischen Kreisläufe abzuklopfen – und womöglich noch die in ihr arbeitenden Menschen mitzudenken?

1875 erschien in Deutschland ein großformatiges Buch mit dem Titel „Das Ganze der Landwirtschaft“, 1985 wurde ein Reprint aufgelegt. Schlug man es auf, hatte man auf der rechten Seite eine Zeichnung und links die Beschreibung dessen, was rechts dargestellt war. Die bildlichen und wörtlichen Darstellungen reichten von den verschiedenen Rassen der Nutztiere wie Rinder, Pferde und Schafe, über Nutzpflanzen, Getreide und Gräser, sowie Werkzeugen wie Grabegabeln, Sämaschinen, Pflügen und Dreschmaschinen bis hin zu Stallgebäuden, Brunnen und Mühlen. Es fehlte nichts, was in der damaligen, modernen Landwirtschaft gebraucht und benutzt wurde, selbst an Geräte und Vorrichtungen für den Obstbau und das Brauen von Bier und Branntwein war gedacht worden.

Nur  die sich mit diesen Geräten und Gebäuden, den Tieren und Pflanzen auskannten und die mit ihnen arbeiteten. Und damit fehlte auch jeder Hinweis auf die Abhängigen innerhalb der Höfe und Dörfer, auf Besitz und Wahlrecht, auf Preise, Vermarktung, Steuern und Zölle, Im- und Export.

Auch in den heutigen Hallen, den mit manch wunderbarem landwirtschaftlichem Getier und Gerät und den daraus hergestellten Nahrungsmitteln und Leckerbissen gefüllten Messehallen der Grünen Woche in Berlin, fehlt der Blick auf die Bedingungen, unter denen sie produziert werden. Das Sichtbare lenkt oft vom Unsichtbaren ab.

Aber zurück zur „Klimakuh“ von Florian Schwinn. Ich habe dieses Buch mit Gewinn gelesen und mich davon überzeugen lassen, dass die Rückkehr der Weidekuh eine gute, sogar eine großartige Sache wäre.  Denn die auf die Weide getriebene Kuh, die Gras frisst, würde nicht nur ihrer eigenen Natur gerechter werden als die Stallkuh, sondern ihre Fladen, die sie ins Gras fallen ließe, wären höchst nahrhaft für das Boden- und Insektenleben, ihr Tritt und Biss ließe Gras- und Kräuter besser wurzeln, verbesserte die Humusschicht und machte die Böden widerständiger sowohl gegen Trockenheit als auch gegen Starkregen.  Das hat 2014 auch die Tierärztin Anita Idel in ihrem Buch „Die Kuh ist kein Klimakiller!“ schon so dargestellt. Florian Schwinn hat mehrere Projekte besucht, in denen die Kühe auf die Weiden und sogar in die Wälder zurückkehren können. Er hat mit Praktikerinnen, Autoren und Wissenschaftlerinnen gesprochen, die dort arbeiten, etwa auf dem Stiftungsland Schäferhaus, einem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Flensburg, das der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein gehört oder auch den „Bunde Wischen“, einer gemeinnützigen Agrargenossenschaft ebenfalls in Schleswig- Holstein. In beiden Projekten werden die Landschaften, viele Hundert Hektar, ausschließlich von den großen Wiederkäuern gestaltet, zu ihnen gesellen sich Konik-Pferde, die ebenfalls seit ein paar Jahrzehnten in den Dienst der Umweltgestaltung genommen wurden. Gemeinsam stellen sie den „Psychotyp“ der (nordischen) Savanne her, eine flache, offene, aber durchaus licht bewaldete Landschaft, in der sich, so Schwinn, viele Menschen unserer Breiten gleich zuhause fühlten. Es könnte sogar sein, dass dieses Heimatgefühl genetisch ist, denn dies war wohl – anders als wir es in der Schule gelernt haben – die Urlandschaft Nord und Mitteleuropas. Es war vermutlich nicht so, dass vor der Ankunft der Menschen alles mit dichtem Wald bewachsen gewesen ist, argumentieren inzwischen viele Wissenschaftler, und Florian Schwinn macht uns mit ihnen und ihren Argumenten bekannt. Er geht dabei sehr ins Detail, so wie die Wissenschaft ins Detail gehen muss, um die empirischen Funde und ihre Hypothesen zu einer möglichen Erklärung ausbauen zu können.

Manchmal war mir das mit den Details, ehrlich gesagt, zu viel des Guten, dieses ganze Wissen, das da ausgebreitet wird über verschiedene Gräser und Insekten, ihre Verhaltensweisen und Ernährungsvorlieben, das Zusammenspiel von Tieren, Pflanzen und ersten Menschen. Aber genau das ist es natürlich, dem man nachgehen muss und auf das man mit großer Gründlichkeit und prüfendem Blick schauen sollte – als Journalist sowieso und erst recht! Was nämlich dabei herauskommt, wenn wir das nicht mehr tun, zeigt uns der Autor in seinem Buch ebenfalls.

Allein wegen der falschen Narrative, die seit mindestens zehn Jahren in den Medien ihr Unwesen treiben, und darüber, wie sie zustande gekommen sind, lohnt es sich schon, dieses Buch zu lesen.

Da ist zum einen die Geschichte mit dem Methan und den Rindern, über die schon Anita Idel in ihrem oben erwähnten Buch aufgeklärt hat. In einer schlecht gemachten (sage ich jetzt vereinfachend), Studie der FAO (Food and Agriculture Organization der UN), war behauptet worden, dass die entscheidenden, klimaschädlichen Methanmengen weltweit aus dem Rülpsen und Pupsen der Wiederkäuer stamme. Tatsächlich aber zeigt die weltweite Rinder-Statistik seit 1990 steil nach unten, der Methananteil jedoch wächst immer weiter. Der Zusammenhang ist, anders als etwa Foodwatch und andere NGOs behaupten, in der steigenden Erdöl- und Erdgasförderung sowie der Zunahme insbesondere des Frackings zu suchen, ein kleines bisschen eventuell auch durch die Zunahme der Reisproduktion im Nassanbau, denn auch dadurch entweicht Methan in die Atmosphäre.  Lesen Sie selbst nach! Florian Schwinn stellt auf mehreren Seiten detailliert Studien und Vergleiche vor, die in ihren grotesken Resultaten vor allem den wirklichen verantwortlichen Produzenten fossiler Energieträger nützen bzw. von ihnen ablenken. Die Meldung des Weltklimarates von 2022 hat er noch nicht einmal berücksichtigt, in dem eingestanden wurde, man habe den Methanausstoß der Rinder überhaupt um das Dreifache zu hoch angesetzt.

Das zweite Beispiel einer grotesken und sich ständig perpetuierenden Erzählung ist die Behauptung eines gigantischen Wasserverbrauchs, der nötig sei zur Produktion eines einzigen Kilogramms Rindfleisch, nämlich 15.415 Liter! Auch hier ist die Quelle eine falsch interpretierte Studie, deren Ergebnis vom BUND und dem Fleischatlas der Böll-Stiftung immer weiter verbreitet wird. Schwinn rechnet vor, dass ein junger Mastbulle von vier Zentner Lebendgewicht in seinem anderthalbjährigen Leben täglich elftausend Liter täglich zu sich nehmen müsste, um dieser Statistik zu gehorchen. Wie kann ein solch gravierender Fehler geschehen und sich jahrelang in einem gebildeten Publikum immer weiter fortzeugen?  Nun, die amerikanisch-niederländische Studie (Mekonnen/Hoekstras) hat jedem statistischen Rinderindividuum der Welt „alles Wasser zugerechnet, das auf seine Weidefläche fällt oder auf die Fläche, auf der das Futter wächst, das man ihm in den Stall fährt“ sowie jenes Wasser, das „verbraucht“ wird während seiner Schlachtung, samt der Säuberung der Räume und Geräte. Nicht bedacht wird: Kaum etwas von diesem Wasser ist wirklich verloren, selbst das nicht, das die Rinder saufen, denn das meiste davon pissen sie wieder aus. Und das viele Regen- und Schmutzwasser steht nach dem Umweg über das Grundwasser bzw. nach der Säuberung in der Kläranlage dem Wasserkreislauf wieder zur Verfügung.

Aber das Hauptthema von Florian Schwinn sind nicht (alleine) diese absurden Narrative über die Rinder. Ihm geht es vielmehr darum, Naturschutz und Landwirtschaft zusammenzudenken. Es ist sehr spannend, ihm dabei zu folgen, denn er stellt auch dar, wie Arten-, Klima- und Naturschützer sich untereinander durchaus widersprechen können. Man lese allein seine vielen Seiten zur Problematik der Wiederkehr des Wolfes, der von einem seiner Experten sogar als nicht mehr schutzwürdige Art eingeschätzt wird – weil er, anders als Rinder und Schafe, keine Umweltdienstleistung erbringt. Schwinn selbst ist da weniger entschieden und mir hat gefehlt, dass jemand, der so radikal für die Weidehaltung von Rind und Schaf argumentiert, hier keine klarere Haltung einnimmt.

Dieser Mangel, scheint mir, hat seinen Grund in einer allgemeineren Charakteristik dieses und vieler ähnlicher Bücher. Der Autor lässt sich in seinem Plädoyer für die Weidekuh als Klimaschützerin nämlich nicht darauf ein, über die globale Ökonomie der europäischen Landwirtschaft oder die vorherrschende Vermarktungsstruktur ihrer Erzeugnisse nachzudenken – und erst recht nicht über die Soziologie des ländlichen Raumes. Mit anderen Worten, die Realität außerhalb von Stiftungsländereien und universitären Feldversuchen bleibt fast vollkommen außen vor. Aber erst die Analyse des Ganzen der Landwirtschaft, inklusive ihrer Menschen, würde die Hebel finden, die jene so notwendigen Veränderungen in Gang setzen könnte. Denn gemolken werden die Klimakühe in der Regel nicht, und die Fleischvermarktung ist in einigen Projekten zwar großartig, trägt jedoch weder die Investitionen noch die hohen Personalkosten zur Gänze.

Das ist, man verstehe mich recht, kein Argument, dieses Buch nicht zu lesen. Im Gegenteil! Vielleicht könnte eine verständige, gar in der Politik oder für sie arbeitende Leserschaft sich hier eine kräftige Motivation dafür abholen, eine klima-, natur- und ressourcenschonende Landwirtschaft zu erfinden, die alle Stadtbewohner ernähren könnte (auch mit Butter und Käse, natürlich!). Und von der die Bauern leben könnten, ohne an ihrer Gesundheit Raubbau betreiben zu müssen. Das wäre dann sogar mal eine Grün-Bunte Woche wert.

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Die Informationen zur Sanierung von Mensa, Café und Innenhof des Marstalls wurden von den Studis und Jugendlichen (der- aber nicht nur „Grünen Jugend“) mit Besorgnis aufgenommen. Die mehrjährige Renovierungsphase soll – so die Informationen – ab 2025 starten und sich über mindestens drei Jahre erstrecken. In dieser Zeit wären sowohl die Gebäude und als auch der Hof für Studenten und Anwohner nicht nutzbar.

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Jan 2024 | Heidelberg, Junge Rundschau | Kommentieren

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