Nach dem Vergnügen des Schreibens will der Kritiker auch seinen Lesern Vergnügen bereiten. Ist es nicht aber doch so, dass Kritik die Kunst der Unterscheidung wäre? Der Unterscheidung nämlich zwischen gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen, schicklich oder unschicklich, regelrecht oder regelwidrig, schön oder hässlich. Hingegen ist die Alternative richtig oder falsch unangemessen. Wohlgefallen am Schönen. In der Kunst gibt es kein Falsch gemacht. Zu treffende Entscheidungen aber bereiten naturgemäß Schwierigkeiten. Es lohnt also einen Blick in ein Werk über die Unterscheidungskunst zu werfen, an dem sich bis heute die Geister scheiden: „Das Wohlgefallen am Schönen muss von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhängen, und unterscheidet sich dadurch auch

vom Angenehmen, welches ganz auf der Empfindung beruht“, schreibt Immanuel Kant in seiner „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ und fordert vom Kritiker eine konkrete Vorstellung von Güte. Kant – und das ist für die Kritik und deren Ausübung von großer, außerordentlicher Wichtigkeit – unterscheidet zwischen Reflexions-Geschmack und Sinnes-Geschmack.

Ein Kritiker aber sollte kein Richter zu sein versuchen

Hier wird es spannend für den „Kunstrichter“, als den Gotthold Ephraim Lessing den Kritiker sah. Was natürlich auch spannend
 ist für den Rezipienten von Kritik, also den Leser: Der Sinnes-Geschmack führt – nicht nur nach Kant – zu in der Regel sehr subjektiven „Privaturteilen“. Hingegen ermöglicht der vorgeblich bewußt gesetzte Reflexions-Geschmack gemeingültige, publike Urteile.
Wenn nun aber jedes Interesse zugleich sowohl das Geschmacksurteil verdirbt und ihm zudem seine Unparteilichkeit nimmt, bitte wie soll dann der Kritiker zu einem Urteil gelangen, wenn er das Gute oder die Güte zum Maß seines Urteils wählt?
Es soll also der Kritiker seine Empfindungen ebenso berücksichtigen, wie seine Vernunft, soll ein sinnlich-intellektuelles Urteil fällen: Subjektives objektivieren? Kant löst diesen Widerspruch, indem er Regeln ins Spiel bringt … 
Alsdann, haben wir also die Regeln, den Sinnes- und den Reflexionsgeschmack. Wie aber mit diesen drei Voraussetzungen, ohne die ein Urteil nicht möglich scheint, operieren?

Objektive Regeln?

Ja, es gibt keine objektiv gültigen Geschmacksregeln. Ja, es gibt nicht das Schöne, das sich in Begriffe fassen ließe. Und nein dazu,
 der Reflexionsgeschmack tauge zur ästhetischen Einordnung des Gegenstandes. Das Geschmacksurteil beruht auf einem subjektiven Prinzip. Es sind Gefühle und nicht Begriffe, die bestimmen, was gefällt oder missfällt.

Dialogisches Drama out?

Alldieweil Kritiker – was sowohl die Texte, als auch den Akt der theatralen Vergegenwärtigung angeht – sich verhalten müssen, halten sich Autoren nicht mehr an Regeln, Regisseure erfinden neue Formen und fühlen sich nicht mehr gebunden an Autorenwillen und dezidierte Vorgaben, das dialogische Drama interessiert schon lange nicht mehr, es werden Sprachflächen geschaffen, mit denen ein Regisseur umgehen muß – läßt sich wer überhaupt auf diese Prosatexte für das Theater ein.
 Viele Kritiker stellen sich dieser Entwicklung nicht, brandmarken Dekonstrukteure als Vergewaltiger, statt zu versuchen, solchen
Theaterproduktionen gerecht zu werden, sich also zunächst einmal darauf einzulassen. Sie haben zu versuchen, die Gründe für dieses andere auf Texte Vorgehen, das a priori keineswegs ein Vergehen ist, zu finden, zu analysieren und zu bewerten. Sie haben weiterhin zu versuchen, die Gewinne und Verluste abzuwägen, die bei einem Bruch mit Konventionen, bei Regelverletzungen und der Verweigerung, sich an Übereinkünfte zu halten und diese zu bedienen.
 Dieweil Kunst-Entwicklung – vom griechischen Drama des Aischylos bis hin zu (von und nach) Schillers Heidelberger Räubern nur durch ebendiese Verweigerung und Regelverletzungen möglich war, ist das Beharren auf gültige Normen, bisher herrschen den Übereinkünften nicht eben nur konservativ, sondern reaktionär.

Rechtfertigungen

Kritiker haben gegenüber sich selbst (und den Rezipienten ihre Urteile) Rechenschaft darüber abzulegen, was sie zu ihrem Urteil nötigt; Rechenschaft aber auch abgeben über die ästhetischen Kriterien und die ideologischen Voraussetzungen.
 Sie sollen nicht richten, sondern zunächst einmal hinhören, hinsehen, sollen nachvollziehbar beschreiben, bevor sie bewerten. Genau aber diese Offenheit, die – so das Gegenteil wäre von Verblendung und Vorurteil, lässt sich bei vielen Kritikern leicht vermissen.

Kritik und Bürgertum

Nun ist der Kritiker ja eine Erfindung des Bürgertums, ist beauftragt, öffentlich ein Kunstwerk, eine Kunstproduktion zu bedenken und sein Denken und sein Bedenken wiederum zur Diskussion freizugeben. Und genau aber dieser Diskurs über veröffentlichte Kritiken findet aber nicht statt – sieht man von wenigen Reaktionen der Leser oder Hörer ab. Die Be- und Getroffenen aber, die Künstler, die Regisseure, Bühnenbildner, Schauspieler, Sänger, Tänzer, Musiker, alle die melden sich nicht mehr zu Wort, halten Widerspruch oder Einspruch, veröffentlicht nicht im Feuilleton (in welchem Leserbriefe seit es das Feuilleton gibt, nicht vorkommen), sondern allenfalls auf Leserbriefseiten, für – was  in der Tat sie dort auch sind – wirkungslos.

Hilfsdramaturgen?

Nein, viele Gespräche haben merken lassen, dass sich Theatermacher den Kritiker nicht als schreibenden Hilfsdramaturgen für die
 Öffentlichkeit wünschen, haben
 aber hingegen uns (ups, jetzt habe ich mich geoutet) schreib-wütigen, pointenversessenen Besserwisser als Mitwirkende an den 
Theaterästhetiken und Theatertexten längst abgeschrieben. Nicht zu Unrecht, denn nicht wenige deutschsprachigen Kritiker gerieren sich wie dereinst Gotthold Ephraim Lessing, der zu Unrecht und nur weil er der Verfasser der „Hamburgischen Dramaturgie“ ist, als der Urvater der deutschen Theaterkritik gilt. Er sah sich selbst als den „Richter“ über das Theatergeschehen, über Dramatiker und Schauspieler.

Er (oder sie) ist ein Zuschauer wie andere auch. Aber was unterscheidet ihn nun von den anderen, nicht fürs Schauen, Hören und Lesen bezahlten Zuschauern, was prädestiniert ihn, seine Meinung veröffentlichen zu können? Wieso kann er schreiben und
 veröffentlichen, was er von einem Text, von den Leistungen des Regisseurs, des Bühnenbildners, des Choreographen, des Orchesters oder der Sänger hält.
 Ja, ich halte auch nicht viel von der Sottise, ein Kritiker sei wie ein Eunuch, der genau wisse, wie es gemacht wird, es aber leider nur
 selber nicht machen könne. Auch Goethes Anstiftung zum Mord missfällt mir – wiewohl manchmal schon muss aufgemuckt werden
 dürfen. Umso mehr, als der Dichter zuweilen selber als Kritiker geschrieben hat. Irgendwann war er halt mal der miesepetrigen Klugscheißer überdrüssig und forderte: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!“ Man beachte das Es. Wenig zurückhaltend, zumindest aber selbstironisch war immer mal wieder der Kritiker George Bernard Shaw. Der Engländer hielt Rezensenten für blutrünstige Menschen, die diesen Beruf alleine deshalb ergriffen, weil sie es nicht zum Henker gebracht hätten.

Kritiker, eitel?

Den meisten Kritikern gilt ihr Beruf als der Schönste. Weil sie sich öffentlich äußern können. Weil er eitel macht, und Eitelkeit erfordert. Ein schüchterner, introvertierter Mensch wählt schließlich keinen Beruf, in dem man sich ständig aus dem Fenster hängt. Weil er etwas bietet, was die wenigsten Berufe auszeichnet: Ein Kritiker ist ein lebenslang Lernender. Wenngleich ich fest davon überzeugt bin, dass einer, der sein Leben lang nichts anderes macht (und wird), einen Fehler begeht. Denn als Kritiker muss er – dann – zynisch werden.

Kritiker, Dechiffrierer

Der Kritiker ist ein Musterbeispiel für die Karriere: learning by doing. Er geht ins Theater, in die Oper, ins Ballett; und er schreibt. Das Theater ist sein Lehrer. Er verdankt den Künstlern – wenn er ist, was er zu sein hat, nämlich ein aufmerksamer Zuschauer und ein neugieriger Dechiffrierer der Zeichensprache des Theaters – das Meiste seines Könnens. Das heißt: Verflicht der Kritiker nicht qua Reflexions-Urteil eine ästhetische Richtung, eine Ideologie, so liefert ihm die Kriterien für die Beurteilung einer Aufführung diese selbst. Gefragt, welche Maßstäbe ich bei einer Inszenierung anlege, kann die Antwort nur sein, dass jede Inszenierung auch diese anbiete. Immer dann zumindest, wenn ein gestaltendes Ensemble am Werk ist und nicht Einfall oder Zufall, sondern als denkendes Gestalten wahrzunehmen ist. Keine Interpretation – nicht Dekonstruktions- und Dekompositions-Inszenierungen oder nehmen wir mal das Textflächen-Theater einer Elfriede Jellinek – lässt sich messen an Regeln, sich bewerten an zuvor schon einmal 
Gesehenem. Und schon gar nicht kann es zu einem Werktreue-Modell in Beziehung gebracht werden. Niemand, Keiner weiß, was 
Werktreue ist. Kritiker müssen lesen, hinsehen, beschreiben, deuten analysieren. Und erst dann urteilen. Er muss neugierig sein und es bleiben. 
Schwindet diese Neugier, macht sich Erstarrung und was noch alles breit. Spätestens dann sollte er den Beruf wechseln …

Anfängerprobleme

Aber, ein Problem des Anfängers soll hier nicht unerwähnt bleiben: Um sich zu positionieren, um aufzufallen oder fehlenden Selbstwertgefühls wegen schlägt er zu, wo er hätte hinsehen, abwägen müssen. Macht mit seiner Macht aus einem Urteil eine Geschmacksache. Wächst die Selbstachtung nicht – aber, wie sollte sie es unter solchen Umständen – d a n n lauert die größte Gefahr: Sich nämlich feige ins Sowohl als Auch zu flüchten.

Klug? Oder gebildet?

M a n c h e  aus dieser Zunft sind klug. Sie haben entsetzlich viel gelesen; manche sind sogar gebildet. Je gebildeter sie nun allerdings sind, dürfen sie damit ihre Leser oder Hörer nicht einzuwickeln versuchen, sie auf vermeintliche Höhenflüge mitnehmen wollen. Je gebildeter sie nun freilich – gehen wir mal davon aus – sind, desto weniger (wären sie zudem klug) desto weniger werden sie damit belästigen. Alfred Polgar machte sich lustig über die Angeber-Akademiker unter den Rezensenten, über Niederkünfte von Zettelkasten. Und, eigentlich ist ein solches Verhalten auch anmaßend. Müssen wir uns von einem Kritiker mit einer vollen Wissens-Sparbüchse in die Ohren klimpern lassen? Urteilt da jemand aus eine Fülle von Kenntnissen, dann mag Wissen als Humus
bildende Substanz genutzt werden können. Aus früheren Aufführungen zu zitieren, um zu beweisen, wie viel Erfahrung der Schreiber hat, ist eher unnötig. Zudem wird so jene wichtige Auseinandersetzung verhindert, die Sinn von Kritik sein kann:

Der Dialog des Lesers mit dem Kritiker. Himmel und Hölle …

Aber was, wenn Kritiker missachten, was Zuschauer lieben, oder Kritiker in den Himmel loben, was Zuschauer zur Hölle wünschen. Was ja immer mal wieder geschieht. Aber warum? Weil (manche) Kritiker als aufmerksame Beobachter von Kunst und Gesellschaft mit keiner anderen Aufgabe belastet und betraut sind, als zu lesen, zu schauen, zu interpretieren, zu analysieren und zu argumentieren. Und manchmal dem Geschmack der Mehrheit voraus sind, Qualitäten erkennen, die andere noch gar nicht wahrnehmen können.
Wenn hier Regelverstöße, Regelverletzungen, Konventions- und Tabubrüche als zu fördernder, gelungener Fortschritt wahrgenommen werden, dann darf dies auch für den Beruf eines verantwortungsvollen Kritikers stehen. Was der Fall war – etwa bei den Naturalisten, bei Berthold Brecht, bei den Absurden, bei Samuel Becket, bei Elfriede Jellinek und vielen anderen. Im Übrigen, so denke ich: Es gibt ihn nicht, den Publikumsgeschmack, welcher Meinung man auch widersprechen kann: Zuschauer sind schließlich auch Kritiker, die ihre Empfehlungen weitergeben – und oft im Urteil ernster genommen werden, als „Profis“. Eine gute Aufführung hat sich noch immer gegen die Kritik durchgesetzt.

Gewiß ist zu guter Letzt dies:

Ein gutes Publikum zeichnet sich aus durch die Bereitwilligkeit, sich erregen zu lassen, gleichgültig, was der einzelne Zuschauer vom Theater erwartet. Da diese Erwarungsverhalten nun aber halt mal verschieden und nicht einmal eindeutig auszumachen sind, gerade deshalb wendet sich der Kritiker – der „Gute“ jedenfalls – auch nicht an ein Theater- oder Lesepublikum, sondern schreibt sehr allein, was er denkt, was er meint – und er schreibt es so, dass die Lektüre den Lesern nicht nur Vergnügen bereitet, sondern sie unterhält – in des Wortes bester und doppelter Bedeutung.
Im Übrigen, so denke ich: Es gibt ihn nicht, den Publikumsgeschmack, welcher Meinung man auch widersprechen kann: Zuschauer sind schließlich auch Kritiker, die ihre Empfehlungen weitergeben – und oft im Urteil ernster genommen werden, als „Profis“.

Eine gute Aufführung hat sich allemal noch immer gegen die Kritik durchsetzten können

Dez. 2023 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton, In vino veritas | Kommentieren